Sonntag, 05. Mai 2024

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Zürnend, raunender, intrigierender Gott

Die Intendantin des Schauspielhauses Zürich, Barbara Frey, setzt den Auftakt mit einem Alterswerk von Henrik Ibsen gesetzt, das vom Verhältnis von Alter und Jugend handelt. Und Stefan Bachmann inszeniert eine Bühnenfassung der "Genesis", der biblischen Schöpfungserzählung.

Von Cornelie Ueding | 15.09.2012
    Ein riesiger Arbeitstisch beherrscht die Bühne: der Lebensmittelpunkt des Architekten Solness. Er schränkt den Spielraum aller Figuren ein. Die umkreisen ihn nur, bis die aus der Vergangenheit auftauchende, blutjunge Hilde sich schließlich einfach draufsetzt und sich ins Zentrum seines Interesses schiebt. Die Zürcher Aufführung ist eine ernsthafte Auseinandersetzung mit gesammelten Angstblütenalbträumen, ohne einen Hauch von Süffisanz und ironischer Brechung: alternder Mann und ganz junge Frau. Man kennt das Schema bis zum Überdruss. Er, Stararchitekt, Zweifel an sich, am Werk, an der Zukunft, einfach an allem in seinem frigide gewordenen, von Schuldgefühlen und Versagensängsten belasteten Arbeits- und Ehealltag. Er ist eitel, schroff, zynisch, anmaßend. Doch dann plötzlich steht sie da, Rucksack, kurzes Strubbelhaar, eine Trollin ganz und gar – und vergöttert ihn. Fasziniert redet er nun - nur – von sich und bekennt seine Ängste:

    Aber bei Ibsen geht es nicht um Verführung, Ehebruch und Schuldgefühe. Solness' Traumata sind die Träume, seine Hölle besteht aus Einbildungen. Und in Robert Hunger-Bühlers facettenreicher Verlangsamung erweist er sich als ein Meister dieses selbstquälerischen Virtuosentums. So perfekt beherrscht er die Grammatik der narzisstischen Selbstbezichtigung und lustvollen Lust-Tötung, dass selbst die taufrische Hilde viel von ihrer herzhaften Selbstverständlichkeit verliert und von einer Lolita zu seinem Todesengel mutiert. Gekommen war sie, um ihren Traum von damals einzuklagen, als er, zehn Jahre ist das her und sie war vielleicht zwölf, dreizehn Jahre alt, hoch oben auf einem selbsterbauten Turm stand und sie seine erotischen Fantasien beflügelte. Und so, in stolzer Höhe will sie ihn wieder sehen. Doch das Erinnerte bröckelt, verlöscht, weicht einem unaufhaltsamen Zerfall. Der ersehnte Aufbruch in ein Lust-Luftschloss wird zu einem Akt der Sterbehilfe. Am Ende drapiert sich Solness selbst penibel auf dem leergefegten Katafalk seines Zeichentischs, statt heroisch die Siegesposen anzunehmen, die sein Groupie von ihm erwartet.

    Barbara Freys Zürcher Inszenierung ergeht sich nicht in symbolisch-mystischem Gepränge, das diesem späten Ibsen-Stück zweifellos anhaftet. Sie entstaubt es nicht. Sie friert es ein. Tiefkühl-Ibsen. Zur Besichtigung. Nicht zum Einfühlen empfohlen.

    Wird bei Ibsens Entpathetisierung im Unterfutter deutlich, welch zerstörerische Rolle Religiosität bei Solness' ebenso selbstverliebtem wie selbstquälerischen Suhlen in Schuldgefühlen spielt, so geht der zweite Spielzeiteröffnungsabend in Zürich, "Genesis", mit seiner fünfstündigen Bühnenerkundung des Basistexts aller Gottesgeschichten in drei Religionen an die Quellen unseres Gottesverständnisses. Die fast einstündige Verlesung der Schöpfungsgeschichte samt kirchentagwürdigem "und-er-sah-dass-es-gut-war"-Sound versetzte das Publikum in spirituelle Versteinerung und weckte schlimme Befürchtungen. Doch dann tauchen in der riesigen Schiffbautheaterhalle, zunächst vereinzelt, Gestalten wie aus Bibelverfilmungen auf dem teils glitschigen, teils krümeligen, bis an die Decke reichenden Bühnenlehmberg auf. Zug um Zug entfalten sie am Faden des Erzählten und in dialogischem Wechselspiel mit dem Erzähltext ein turbulentes und, ja: tückisches Eigenleben.

    Die Balance auf dem schmalen Grat zwischen Hollywoodfilm und Westernmythen, Monty Python, Oberammergau und Josephsroman erweist sich als pfiffig, hintergründig, sogar amüsant – und in Stefan Bachmanns Regie als bühnentauglich. Und das unter schwierigsten Bedingungen, musste doch wegen Erkrankung eine zweite Umbesetzung kurz vor der Premiere – und das bedeutet in diesem Fall: Umverteilung von wahren Textmengen - noch am Tag der Uraufführung vorgenommen werden. Durch den Zwang, die Geschehnisse konkret in einem Hier und Jetzt in Situationen und Szenen umzusetzen, wurde die Bibel nicht einfach bestätigt, sondern auf ihre Alltagstauglichkeit überprüft: genealogische Folgen und endlose Geschlechterregister, virtuos und bis zum Exzess zungenbrecherisch reproduziert oder - unglaublich geschickt integriert- einfach abgelesen, wurden in ihren Wirkungen spürbar. Absurd komisch oder auch knallhart politische Besitzansprüche signalisierend. Dabei wurde Szene um Szene, gleichsam im Schnelldurchlauf, das Gottes-Prinzip als theatralischer Coup, ausgeleuchtet: Ein Gott, der sich auf ein Volk, sein Volk einstellt, setzt jeden der noch so kümmerlichen Akteure unter einen enormen Druck. Und eröffnet ihm zugleich enorme Möglichkeiten.

    Zugleich – und das macht die theatralische Bibelstunde so anregend – zeigt das Bühnengeschehen die Fragwürdigkeit und Perfidie aller religiösen Machtmachenschaften auf. Die auf offener Bühne derb schnibbelnd, schnörkellos praktizierte Beschneidung, Tierhandel samt köttelnden Schafen, das Ringen um Identität, das Ritual von Unterwerfung, Revolte, Züchtigung und Erneuerung des Bundes – all das wurde in seiner Spannweite zwischen Erhabenheit und Banalität, Lächerlichkeit und Klamauk mutig bis in die Niederungen und Gemeinheiten des Alltags ausgeleuchtet.

    Zusammengehalten wird das Geflecht aus unendlich vielen Episoden durch eine ebenso auratische wie fragwürdige Erzähler- und Spielerfigur – beschwörend, zürnend, raunend, intrigierend, hautnah bisweilen, dann wieder abwesend, wie kein Autor sie besser erfinden könnte: Gott.