Archiv


Zug-Stopp wie von Geisterhand

Technik. – Die sperrige Vielfalt an unterschiedlichen Spurweiten, Stromversorgungen und auch Kommunikations- und Steuereinrichtungen hat ihre Wurzeln noch tief in den Zeiten der Prä-EU-Ära, denn damals wollten die vielfach verfeindeten Staaten verhindern, dass ein Gegner einfach mit dem Zug einfällt. Für das Zusammenwachsen der Alten Welt ist das Durcheinander im Schienenbetrieb indes äußerst hinderlich und so sannen europäische Ingenieure vor jetzt sechs Jahren auf einen gemeinsamen Standard, den jedes Mitglied tragen könne. Herausgekommen ist dabei ein einheitliches System zur Bahnsicherungs- und Signaltechnik, das auf missverständliche Signalmasten fortan verzichtet. In Bitterfeld wurde jetzt eine erste Teststrecke mit einem solchen elektronischen Stellwerk eröffnet.

    Längst fahren Lokomotiven nicht einfach mehr nur auf Sicht und begnügen sich ihre Führer sich damit, den Schlüssel herumzudrehen und loszufahren. Stattdessen gleichend die Herren der Schienenschlitten heute mehr Piloten, die vor Fahrtbeginn den Bordcomputer füttern. Die Testpiloten der Deutschen Bahn AG müssen sich auf der Erprobungsstrecke des Europäischen Zug-Kontroll-Systems (ETCS) bei der Programmierung noch mit kryptischen Anglizismen plagen, doch für den Reihenbetrieb soll sich auch dies noch ändern. Sind alle Daten eingegeben und der "Start Of Mission" bestätigt, setzt sich der Stahlkoloss langsam in Bewegung. Sechs führende europäische Industrieunternehmen schlossen sich zur Entwicklung des ETCS zusammen, das künftig den größten Teil der komplexen Steuerungsinfrastruktur im Zugverkehr ersetzen und so sicherer machen soll.

    Bahnfunk und Signalanlagen sollen dann der Vergangenheit angehören, erklärt Klaus Mindel, bei Alcatel verantwortlich für Zugsicherungssysteme: "Jeder Zug steht stattdessen jeweils über eine eigene Verbindung zur Zugsicherheits-Zentrale in Verbindung. So weiß das ETCS zu jedem Zeitpunkt, wo sich ein Zug befindet und kann auch jeden einzeln dirigieren." Eine direkte Kommunikation zwischen den verschiedenen Zügen bestünde indes nicht. Ein Kernelement des modernen Steuerungssystems ist der eigens für den Bahnverkehr entwickelte Mobilfunkableger GSM-R mit eigener Betriebsfrequenz. Überfährt ein Zug einen der zahlreichen elektronischen Kilometersteine, die so genannten "Balisen", sendet das System automatisch dessen Datentelegramm vie GSM-R an die Zentrale. Dort sammelt das so genannte Radio Block Centre (RBC) die Balisen-Angaben aller Züge seines Bereiches. "Das RBC erstellt daraus automatisch neue Fahrbefehle für die Fahrzeuge und überwacht deren Einhaltung penibel", schildert Versuchsleiter Michael Wiemann. Damit nicht Defekte in der Hardware das System komplett lahm legen oder sich fatale Fehler einschleichen können, sorgen zwei parallel arbeitende Computer für Redundanz und größere Sicherheit. Fast wie im Space Shuttle überwacht ein drittes System die beiden Rechner und greift bei der kleinsten Abweichungen sofort ein. In diesem Fall wird das gesamte System abgeschaltet und alle Züge im Bereich vorsichtshalber angehalten.

    Sicherheit hat höchste Priorität, nicht zuletzt auch weil mit europaweiter Einführung von ETCS eine dichtere Zugfolge zumindest möglich wäre, da Stopps vor Signalen sowie der Systemwechsel an den Grenzen entfällt. Auch hin zu einer Ära, in der Züge ganz auf menschliche Chauffeure verzichten werden, stellt ETCS einen weiteren Schritt dar, räumt Bahnchef Helmut Mehdorn ein: "Aber das ist natürlich nicht morgen, sondern dauert noch etwas länger. Heute ist ETCS erst einmal der Einstieg in Bahnstrecken ohne Signale." Das elektronische System liefere einerseits alle wichtigen Informationen direkt in die Züge, andererseits entfiele der enorme Kostenaufwand für die Instandhaltung der komplexen Signalanlagen. Trotzdem ist es noch ein weiter Weg bis die Signalmasten abgebaut werden können, denn zunächst muss das Eisenbahn-Bundesamt die Zulassung für ETCS erteilen. Das könnte im kommenden Frühjahr geschehen und dann erst kann die Nachrüstung des Schienennetzes langsam beginnen.

    [Quelle: Wolfgang Noelke]