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Zukunft der Dorfschützer

Nach monatelangen Ankündigungen bringt die türkische Regierung am heutigen Dienstag ihr Reformpaket zur friedlichen Lösung der Kurdenfrage ins Parlament ein. Mit Spannung wird erwartet, wie weit die Regierung mit ihren konkreten Reformvorhaben geht.Zu den schwierigsten Fragen des Friedensprozesses gehört die Zukunft jener Kurden, die auf der Seite des türkischen Staates gegen die PKK gekämpft haben, der sogenannten Dorfschützer.

Von Susanne Güsten | 10.11.2009
    Ein Wachposten an einer einsamen Landstraße in Südostanatolien, auf der Strecke Richtung Irak zwischen Mardin und Sirnak. Hinter den Felsbrocken am Straßenrand tauchen mehrere Männer in Tarnuniformen und mit Maschinenpistolen auf. Es sind sogenannte "Dorfschützer" - Mitglieder einer kurdischen Miliz, die an der Seite der türkischen Armee gegen die kurdische Rebellengruppe PKK kämpft. Ein junger Milizionär namens Ali erklärt seinen Dienst:

    "Wir bewachen diese Straße, denn hier in den Bergen sind überall Rebellen. Und wir schützen die Erdölpipeline vor Anschlägen, sie verläuft aus dem Irak bis zum Mittelmeer, da drüben."

    Hinter den Felsbrocken am Straßenrand liegen Schlafsäcke, auf einer Feuerstelle steht ein verkohlter Teekessel. Tag und Nacht sind die Dorfschützer auf Posten, sagt Ali:

    "Gestern Nacht war es hier 15 Grad unter Null, aber wir harren aus. Hier wird zwar nicht mehr so viel gekämpft wie früher, aber es gibt manchmal schon noch Überfälle. Solange wir hier aufpassen, wagen sich die Rebellen nicht hierher. Wir sorgen hier für Sicherheit."

    Ali ist mit jedem der Männer auf seinem Wachposten verwandt. Alle Männer aus seiner Familie, seinem Dorf und seinem sieben Dörfer zählenden Stamm, dem Salaha-Stamm, sind bei der Miliz. 70.000 staatstreue kurdische Milizionäre stehen in der Südosttürkei derzeit unter Waffen - das sind mehr Kämpfer, als die PKK je gehabt hat. Der 30-jährige Ahmet kämpft schon seit 15 Jahren für die Türkei:

    "Mein Onkel ist 1992 von der PKK umgebracht worden, da habe ich seine Waffe genommen und mich zur Miliz gemeldet - ich war damals erst 15. Die PKK hatte die Landstraße gesperrt, hier genau an dieser Stelle, und hat alle Fahrzeuge beschossen. Mein Onkel saß in einem zivilen Sammeltaxi. Mit ihm sind sieben Menschen in dem Minibus gestorben, auch Kinder waren dabei."

    Die brutalen Methoden der PKK sind nur ein Grund dafür, warum viele Kurden auf der Seite des türkischen Staates gegen sie kämpfen. Die Stammeszugehörigkeit ist ein weiterer Faktor: Unterstützt ein Kurdenclan die PKK, so schlägt sich ein rivalisierender Stamm oft auf die Seite der türkischen Armee. Vor allem aber ist es die Not, sagt Ahmet, die viele Kurden in Südostanatolien im Dienste des türkischen Staates an die Waffen treibt:

    "Wir sind arm, deshalb sind wir bei der Miliz. Wovon sollten wir sonst leben? Bei der Miliz bekommen wir immerhin die 600 Lira Sold. Sonst gibt es doch keine Arbeit."

    600 Lira Sold, das sind 270 Euro im Monat. Früher lebten die Menschen hier von der Landwirtschaft, bis vor 25 Jahren der Krieg begann. Dann konnten die Bauern nicht mehr auf die Felder hinaus, die vermint waren. Die Hirten konnten ihre Herde nicht mehr auf die Bergweiden treiben, weil dort gekämpft wurde. Heute gibt es keine Bauern mehr im Dorf - nur noch Milizionäre. Ein hartes Brot, erzählt Ahmet:

    "Bei den Kämpfen werden wir immer vorneweg geschickt, vor den Soldaten. Wie viele von uns sind schon gefallen für dieses Land! Und was bekommen wir dafür? Keine Krankenversicherung, keine Sozialversicherung, keine Ansprüche, nichts."

    In die öffentliche Diskussion der Türkei geraten sind die Dorfschützer aber weniger als Opfer der sozialen Ungerechtigkeit, sondern als Täter. Wegen der allgemeinen Bewaffnung in ihren Dörfern schlagen private Streitigkeiten dort rasch in Gewalt um. Im Frühjahr erschossen Dorfschützer bei Mardin 44 Menschen bei einer Hochzeit, wegen ehelicher Untreue. Und erst am Wochenende starben bei einem Familienstreit wieder sechs Menschen. Das Innenministerium will die Milizen daher auflösen, doch wann das geschehen soll, ist noch offen. Denn von dem kargen Sold der Milizionäre sind im bitterarmen Südostanatolien mit seinen großen Sippen rund eine Million Menschen abhängig. Eine Auflösung der Milizen wäre sein Ruin, sagt Ahmet:

    "Wir haben hier sonst keinerlei Arbeit oder Auskommen. Hier gibt es keine Fabriken, keine Arbeitsplätze, nichts. Ohne die Miliz könnten wir in unserem Dorf nicht weiterleben, denn hier gibt es sonst einfach nichts."