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Zukunft in Utopia

Patrik Ourednik, der 1957 in Prag geboren wurde, übersiedelte 1984 nach Paris, wo er seither als Übersetzer der Werke von Rabelais, Beckett und Hrabal lebt. Nun hat sich der Residenz-Verlag, im Zuge seines Osteuropaschwerpunkts des Autors angenommen. "Die Gunst der Stunde, 1855"heißt Ouredniks aktueller Roman, in dem er die Utopien einer Auswanderungsgruppe am Ende der 19. Jahrhunderts dekonstruiert.

Von Eva Schobel | 06.08.2007
    Brasilien heißt das gelobte Land in dem eine Schar von Auswanderern 1855 ein soziales Experiment erproben will. Eine klassenlose Gesellschaft, fern der eingefahrenen Strukturen der Heimat, soll von der utopischen Idee, zur gelebten Realität werden. Ouredniks ambitionierte Auswanderer sind weder im 19. Jahrhundert noch danach die einzigen Menschen, die aus den vorgegebenen Verhältnissen ausbrechen wollen. Allerdings erforderte ihr so naiver wie optimistischer Aufbruch in eine andere Welt mehr Courage als die Lebensexperimente der 68er-Generation des 20. Jahrhunderts.

    "Die Gründung der freien Kolonien hat ihre Ursprünge am Ende des 18 Jh. und ich habe sie in meinem Buch in der Mitte des 19 Jh. situiert. Damals gab es den pazifistischen Anarchismus, der noch die alternativen Bewegungen der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts beeinflusst hat. Man darf aber nicht vergessen, dass sich der Anarchismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Anarchokommunismus transformiert hat, der sehr wohl gewaltbereit war. Ich hab das in meinem Roman beschriebene Experiment als einen Versuch gesehen, eine Mikrogesellschaft zu gründen und solche Mikrogesellschaften bestehen auch weiterhin. Viele Menschen haben das Bedürfnis , aus der Welt, wie sie ist, auszusteigen. Im 19. Jahrhundert konnte man allerdings noch davon ausgehen, dass große Gruppen der Gesellschaft ausbrechen wollen, heutzutage ist das eher ein Minderheitenprogramm."

    Der Roman "Die Gunst der Stunde, 1855", nimmt sich ein so ehrgeiziges wie letztlich gescheitertes soziales Experiment vor. Im ersten Teil des Romans schreibt der Vater der Idee aus dem Abstand vieler Jahre an eine geliebte und unerreichbare Frau. " Brot für alle, aber Ballroben für Sie allein" resümiert er bitter, ohne etwas von seinen gesellschaftspolitischen Träumen zurück zu nehmen. Im zweiten Teil des Romans, kommt der nicht näher definierte Schreiber des Schiffstagebuchs zu Wort.

    Die Konflikte, die der brasilianischen Utopie vorauseilen, manifestieren sich bereits auf der Anreise. Aufrechte italienische Anarchisten geraten sich auf dem Schiff mit ebenso aufrechten französischen Egalitaristen in die Haare. Die einen bauen auf die Vernunft des von seinen Fesseln befreiten Individuums, die andern wollen diese Freiheit verwalten. Die einen wollen unabhängig von jeder Bürokratie leben, die anderen rufen zu Versammlungen und demokratischen Abstimmungen auf, weil nach ihrer Überzeugung, gerade die Freiheit ihre Ordnung braucht. Der Konflikt entzündet sich an der Frage, ob man den ausgebeuteten Negern, wie sie hier historisch korrekt und politisch unkorrekt genannt werden, eine menschenwürdige Zukunft in Utopia anbieten soll. Die Anarchisten sind bedingungslos dafür, die Egalitaristen melden Bedenken an. Und die sogenannten Neger sind bei der entscheidenden Abstimmung nur durch den Schiffskoch vertreten, der, fröhlich und unbelastet von Sprachkenntnissen, sowohl für als auch gegen die Aufnahme der Neger in die Kolonie stimmt.

    Im dritten Teil des Buchs kommt die schöne Utopie in der grausamen Realität an. Am 15. Oktober 1855 gestehen sich nicht näher definierte Tagebuchschreiber das Scheitern ihres sozialhumanen Traumes ein.

    Die Vorstellungen von einem autonom bestimmten Leben im gelobten Auswanderungsland divergieren umso mehr, je knapper die Ressourcen werden. Zu diesen Ressourcen gehört nicht zuletzt das sexuelle Potential der Mädchen und Frauen, die ihre Freiheit auch gegen die Begehrlichkeit der Männer in Anspruch nehmen wollen.

    Also werden sie ihrer Individualität beraubt und zurecht geschoren. Aber auch das kann die an ihren inneren Widersprüchen laborierende Kolonie nicht mehr retten.

    Ourednik hat eine ironische Parabel geschrieben, die er nicht interpretieren will. Der Autor, der die unterschiedlichen Positionen seiner Protagonisten ohne Parteinahme wiedergibt, verschwindet hinter seinem Text und übergibt die Interpretationshoheit an die Leser

    "Es ist kein Alibi, wenn ich als Autor die Fragen an den Leser delegiere, ich möchte den Leser nicht manipulieren. Erst der Leser macht das Buch durch seine Interpretation lebendig. Ohne den Leser besteht ein Text nur aus toten Buchstaben, das ist wie mit dem Golem, der eine Figur aus Ton ist, die erst durch den Geist lebendig wird. Das ist ein fragendes Buch, und ich bin dagegen mit Literatur Antworten zu finden."

    Ourednik: Die Gunst der Stunde. Residenz-Verlag