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Zukunft und Herkunft eines Schlüsselbegriffs

In den 90er-Jahren tauchte der Begriff der Souveränität in Deutschland immer öfter auf: Es war die Zeit, als UNO und WTO sich zunehmend als globale Organisationen entfalteten. Der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm hat sich nun mit der Souveränität von Staaten genauer befasst.

Von Stefan Schieren | 11.01.2010
    In den letzten Jahren ist ein Begriff in die wissenschaftliche und öffentliche Diskussion zurückgekehrt, von dem nicht Wenige geglaubt hatten, er habe seine Funktion und Bedeutung im Grunde genommen eingebüßt. Das war eine Fehleinschätzung.

    Es geht um den Begriff der Souveränität. Dieter Grimm meint, in den letzten Jahren habe es "einen Souveränitätsboom in der juristischen und politologischen Literatur" gegeben. Es hat also einen guten Grund, dass sich der ehemalige Bundesverfassungsrichter der Frage nach der "Zukunft und Herkunft eines Schlüsselbegriffs" zuwendet, eben der Souveränität.

    Spätestens seit dem 16. Jahrhundert ist der Begriff nicht mehr aus dem politischen, rechtlichen und wissenschaftlichen Diskurs über Macht, Herrschaft, Legitimität und Legalität wegzudenken. Sein Begriffsinhalt blieb dabei nicht statisch. Er wurde an die wechselnden Formen der Herrschaftsausübung – ob monarchisch, autoritär oder demokratisch – angepasst und für diese nutzbar gemacht.

    Welche Zukunft der Begriff im Licht von Globalisierung, Verrechtlichung der internationalen Beziehungen und Europäisierung hat, ist Grimms Gegenstand. In der zweiten Hälfte seines Buchs liegt das besondere Augenmerk auf der europäischen Einigung.

    Am Anfang steht der Befund, dass das Grundgesetz den Begriff Souveränität gar nicht verwendet. Auch im Schlagwortverzeichnis zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts taucht er nicht auf. Das wird sich wohl ändern. Im Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 wird er 33 Mal verwendet und avanciert damit zum Schlüsselbegriff. Für die Kritiker des Urteils war das ein untrüglicher Beleg für die Rückwärtsgewandheit des Gerichts.

    Tatsächlich findet das Lissabon-Urteil im Ergebnis wie in der Argumentation Grimms weitgehende Zustimmung. In den Augen des Bundesverfassungsgerichts setzt das Grundgesetz die Souveränität nicht nur voraus, sondern es garantiert sie auch. Das bedeutet zweierlei:

    Um kompatibel mit der Mitgliedschaft in der EU zu sein, kann Souveränität nicht, wie der Autor meint, "Vollbesitz der öffentlichen Gewalt" bedeuten. Wohl aber heißt es, darüber entscheiden zu können, wer über sie verfügen soll.

    Mitgliedschaft in einer politischen Union bedeutet gemeinsame Ausübung öffentlicher Gewalt, nicht geteilte Souveränität. Souveränität äußert sich primär in der verfassungsgebenden Gewalt. Während die Mitgliedstaaten diese besitzen, fehlt sie der EU. Sie kann sich nicht selbst verfassen. Ihre Grundordnung ist von den Staaten abgeleitet. Diese bleiben die Herren der Verträge.
    Wichtig ist hier die Verwendung des einschränkenden "primär". Denn Souveränität heißt nur zu einem Teil "verfassungsgebende Gewalt", sie umfasst darüber hinaus die Ausübung von Herrschaftsgewalt.

    Die von der Souveränität garantierte Selbstbestimmung der Bundesrepublik ist aber nicht auf die verfassungsgebende Gewalt beschränkt. Sie setzt sich auf der unterverfassungsrechtlichen Ebene der politischen Entscheidungen fort. Auch dort müssen der Bundesrepublik substanzielle Entscheidungsmöglichkeiten bleiben. Das Bundesverfassungsgericht zählt einige Materien auf, von denen es annimmt, dass sie für die Selbstgestaltungsfähigkeit eines Verfassungsstaats 'sensibel' sind und deswegen nicht unbegrenzt auf die EU übertragen werden dürfen.
    Das ist kein Rückfall in ein antiquiertes, nationalstaatliches Denken des 19. Jahrhunderts. Im Gegenteil. Die zwischen dem deutschen Staat und der EU geteilte und gemeinschaftliche Ausübung von Herrschaftsgewalt wird ausdrücklich bestätigt. Ihr wird nur eine Grenze gezogen. Diese ist in dem Moment erreicht, in dem "substanzielle Entscheidungsmöglichkeiten" nach Brüssel abwandern, bevor die Europäische Union als demokratisch bezeichnet werden kann. Das Urteil schützt den deutschen Staat nicht aus einem Selbstzweck heraus. Es garantiert dem deutschen Volk, dass es demokratisch regiert wird.

    Im Schutz der demokratischen Selbstbestimmung einer politisch geeinten Gesellschaft über die ihr gemäße Ordnung findet die Souveränität heute ihre wichtigste Funktion. Die fortschreitende supranationale Erfüllung öffentlicher Aufgaben, die das Leistungsvermögen der einzelnen Staaten überschreiten, sowie die Verrechtlichung der international ausgeübten öffentlichen Gewalt werden durch den fortentwickelten Souveränitätsbegriff nicht behindert. Solange es an überzeugenden Mustern einer globalen Demokratie fehlt, sollte die Quelle demokratischer Legitimation und Kontrolle auf der staatlichen Ebene nicht ausgetrocknet werden. Souveränität ist heute auch Demokratieschutz.
    Das Verdienst von Grimm ist, dass er das beileibe nicht leicht verdauliche Urteil, das ein Meisterstück jurisprudentieller Argumentationskunst ist, für den Bürger verständlich macht.

    Offen bleibt allerdings, ob dieses Urteil in der politischen Wirklichkeit den Kern deutscher Staatlichkeit wirklich schützen kann. Durch den Lissabon-Vertrag ist der Automatismus im weiteren Integrationsprozess der EU eher noch gestärkt worden. Über kurz oder lang wird er auch die Herrschaftsbereiche erfassen, die in Augen des Bundesverfassungsgerichts durch das Grundgesetz garantiert sind. Ist die EU bis dahin nicht umfassend demokratisch oder das Grundgesetz durch eine andere Verfassung ersetzt worden, bleibt in der Logik des Urteils nur ein Schritt: Der Austritt aus der EU. Aber wer kann das schon wollen?

    Stefan Schieren war das über "Souveränität: Herkunft und Zukunft eines Begriffs." Der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm hat es geschrieben, es ist bei Berlin University Press erschienen, mit 140 Seiten, zum Preis von 24,90 Euro (ISBN: 978-3940432605).