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Zukunftsvisionen als Verantwortung einer Gesellschaft

"Was wird aus der Zukunft?" fragte am Wochenende die Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik auf ihrer Jahrestagung in Berlin. Und warf dazu auch einen Blick in die Vergangenheit.

Von Andreas Beckmann | 01.11.2012
    "Die Vorstellung von einer Zukunft kam dadurch in die Welt, dass eine bisherige Vorstellung unglaubwürdig wurde, nämlich die Vorstellung, dass die Welt in Kürze zu Ende sein würde."

    Professor Lucian Hölscher betreibt an der Ruhr-Universität Bochum "historische Zukunftsforschung" und hat dabei festgestellt, dass die meisten Sprachen bis vor etwa 300 Jahren nicht einmal die Verbform Futur besaßen. Die Menschen brauchten sie nicht. Ihr Leben spielte sich im ewig gleichen Rhythmus von Aussaat und Ernte ab. Und es erschien ihnen selbstverständlich, dass es ihren Kindern und Kindeskindern genauso ergehen werde, bis zum Tag der Wiederkehr Gottes.

    "Als das unglaubwürdig wurde - und zwar sehr stark unter Einwirkung der modernen Wissenschaften, der Natur- und auch Geschichtswissenschaft -, da hat man angefangen, einen weiteren Zukunftshorizont in den Blick zu nehmen."

    In der Moderne, so Lucian Hölscher, folgte dann alle 60 bis 70 Jahre ein neuer Zyklus von Zukunftsentwürfen. Nach 1770 sollte die Marktwirtschaft den Menschen aus der Armut befreien. Ab 1830 verbreitete sich die Idee der Demokratie in ganz Europa. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert kamen die großen Gesellschaftsutopien von Sozialisten, Liberalen und Konservativen auf. Manche dieser Entwürfe mündeten in Katastrophen wie Faschismus oder Kommunismus. Aber selbst Marktwirtschaft und Demokratie, die bis heute überwiegend positiv bewertet werden, provozierten viele Enttäuschungen, weil ihre Durchsetzung länger dauerte als gedacht und von Rückschlägen begleitet war. Dennoch schwappte nach 1960 eine neue Welle von Zukunftseuphorie um die Welt, bemerkt Lucian Hölscher. Sie speiste sich aus Ideen für technologische und soziale Innovationen.

    "Das fängt an vom Computer, über die Bilder von den zukünftigen Städten, die damals entworfen worden sind, zum Teil Sachen, die noch heute utopisch wirken, Unterwasserstädte oder dergleichen. Manches davon ist damals schon realisiert worden, zum Beispiel in der Sexualmoral die freie Liebe oder das Aufbrechen der Kleinfamilie. Manches ist davon relativ schnell verworfen worden und anderes ist bis heute nicht realisiert."
    Vieles von dem, was realisiert wurde, wird inzwischen aber längst nicht mehr so positiv gesehen wie in den 60er-Jahren. Atomkraft ängstigt heute mindestens so sehr, wie sie fasziniert. Und sie erscheint angesichts der Entsorgungsprobleme als Belastung für die Zukunft. Die Technikgläubigkeit von einst ist verschwunden. Und mit ihr ein zentraler Moment des utopischen Denkens: Die Vorstellung, die Menschheit könnte alles Alte hinter sich lassen und etwas völlig Neues anfangen. Für den Zukunftsforscher Professor Eckard Minx von der Daimler- und Benz-Stiftung hat sich unser gesamtes Zeitgefüge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschoben.

    "Normalerweise sind wir davon ausgegangen, dass Vergangenheit, ein langer Zeithorizont hinter uns ist, dann eine ganz schmale Gegenwart und dann vor uns liegende, in unterschiedlicher Form zu denkende Zukünfte. Mittlerweile ist es offensichtlich so, dass wir eine breite Gegenwart haben. Und zwar heißt das nichts anderes, als dass wir viele Probleme aus der Vergangenheit in die Gegenwart mit hineinziehen und dass wir den Gestaltungsspielraum für Zukunft einengen, dadurch, dass wir diese Probleme alle erst lösen müssen."

    So lassen sich zwar heute Perspektiven entwerfen, wie eine Industriegesellschaft in absehbarer Zeit ihre Energieversorgung aus regenerativen Quellen bestreiten könnte. Aber wegen der CO2-Emissionen der Vergangenheit lässt es sich trotzdem nicht verhindern, dass die Zukunft vom Klimawandel bestimmt wird. Und kaum jemand kann abschätzen, was eine neue Energiepolitik letztlich kosten wird. Die Energiewende ist damit weniger eine Utopie als ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Trotzdem, meint Eckard Minx, können wir auf diese Art von Zukunftskonzepten nicht verzichten.

    "Ganz im Gegenteil. Wir müssen mehr Gestaltung versuchen, allerdings in dieser breiten Gegenwart berücksichtigend, dass wir in einer komplexen Welt leben, in der viele, viele Wirkungen und Rückkoppelungen stattfinden und es eben nicht mehr so ist, dass die einfache Kausalität, wir machen A und es passiert B, wirklich das ist, womit wir es noch zu tun haben. In mancher Hinsicht wird es nicht anders als mit dem Experiment gehen."

    Vor solchen Experimenten im Namen einer besseren Zukunft schrecken verständlicherweise oft diejenigen zurück, die mit der Gegenwart ganz zufrieden sind. So kann es kaum überraschen, dass gesellschaftliche Utopien gerade in der Mittelschicht heute weit weniger populär sind als in den 60er-Jahren. Damals war die Mittelschicht im Aufstieg begriffen, heute sieht sie ihr Lebensmodell gefährdet, vor allem durch ökonomische Krisen. Das hat die Soziologieprofessorin Nicole Burzan von der TU Dortmund in einer Serie von Interviews mit Menschen aus der Mittelschicht erfahren.

    "Es ist nach unseren Ergebnissen nicht so, dass die Mittelschicht insgesamt jetzt in Statuspanik verfällt. Da wird oft gesagt, och, ich mache mir gar nicht so viele Gedanken, ich muss auch nicht soviel Geld verdienen. Aber wenn man sich die Interviews als ganze anguckt, würde ich schon sagen, sie wünscht sich Stabilität."

    Weil viele Angehörige der Mittelschicht gebildet sind, wissen sie, dass sich der Lebens- und Konsumstil in unserer Gesellschaft ändern muss, wenn die Umwelt bewahrt werden soll. Gleichzeitig wünschen sich die meisten aber dennoch, dass das Wachstumsmodell weiter funktionieren möge, das in den letzten Jahrzehnten ihren Lebensstandard garantierte und das auch noch für ihre Kinder tun soll.

    "Dass sie sagen, ich würde mir wünschen, in einem anderen politischen Rahmen zu leben, so etwas kommt da nicht, diese Reflexion. Es gibt eine Ambivalenz der Zukunftsperspektiven, dass diejenigen einerseits sagen, ich bin offen für Neues. Und dann sagt er im nächsten Halbsatz, aber die Risiken müssen kalkulierbar sein."

    Vielleicht erweist sich diese Mischung aus Offenheit und Skepsis ja noch als guter Resonanzboden für künftige Utopien. Wenn diese tatsächlich so zyklisch auftreten, wie es der Bochumer Historiker Lucian Hölscher für die letzten 250 Jahre nachgezeichnet hat, dann wäre in den 20er-Jahren dieses Jahrhunderts mit einer neuen Welle von Zukunftsentwürfen zu rechnen. Ob sie kommen werden, weiß natürlich auch Hölscher nicht. Aber dass wir sie gut gebrauchen könnten, davon ist er überzeugt.

    "Auf jeden Fall sind Zukunftsentwürfe gesellschaftlicher, großer Art oft der Versuch, etwas, was heute im Argen liegt, zu bessern, ins Reine zu bringen. Um die Zukunft sich Gedanken zu machen, heißt, Verantwortung zu übernehmen. Eine Gesellschaft, die nicht für ihre Kinder und Enkel sich Gedanken macht, wird sicher nicht ihre Verantwortung wahrnehmen."