"Oscar Wilde war immer irgendwie zu Hause anwesend, wurde aber nie erwähnt. Wir sprachen nie über ihn, mein Vater hat nie etwas über ihn gesagt. Sie müssen sich vorstellen, mein Vater hat seinen Vater zum letzten Mal im Alter von neun Jahren gesehen, er konnte sich an seine Kindheit natürlich erinnern und hat darüber in seiner Autobiographie aus dem Jahre 1954 auf sehr emotionale Weise geschrieben; aber über Wilde selber konnte oder wollte er einfach nicht sprechen. Es war viel zu schmerzhaft für ihn."
Vor genau 50 Jahren, am 50. Todestag von Oscar Wilde, schreckte Merlin Hollands Vater Vyvian noch davor zurück, das Grab seines Vaters zu besuchen und sich zu seiner Blutsverwandtschaft mit dem verfemten Dichter zu bekennen: So tief waren die Wunden. Aber dann gab er doch eine Sammlung von Oscar Wildes Briefen heraus. Die hat Merlin Holland jetzt um 300 weitere ergänzt. Die Neuausgabe ist in England bei Forth Estate erschienen, auf eine deutsche Übersetzung der "Complete Letters of Oscar Wilde" muß noch gewartet werden. Nicht nur die Überlieferung von Wildes Korrespondenz, sondern diejenige seines gesamten Nachlasses geschah auf sehr verschlungenen Wegen, an denen die Familie den geringten Anteil hatte. Dazu Merlin Holland:
"Einen Tag, bevor Oscar verhaftet und ins Gefängnis geworfen wurde, ist sein ganzes Haus versteigert worden. Und zwar nicht, wie die meisten Leute glauben, wegen Queensberry. Sondern wegen Leuten, denen er Geld schuldete. Einige von ihnen hatten einen Pfändungsbefehl, und alles, was er besaß, wurde versteigert; alles, sogar die Spielsoldaten seines Kindes, sogar Manuskripte, die später in den USA, in Deutschland oder in Frankreich auftauchten. Alles wurde für einen sehr geringen Preis versteigert. Die gesamte Versteigerung hat, glaube ich, nicht einmal 200 Pfund erbracht. Alle Gegenstände, alle Objekte sind dadurch natürlich verschwunden."
So befindet sich heute die größte Sammlung von Wildes Papieren in den Händen einer ungenannt bleibenden Amerikanerin, während die größte öffentlich zugängliche Sammlung der Clark Library in Los Angeles gehört. Damit ist zugleich die Quellenlage für jeden biografischen Versuch beschrieben, und es verwundert nicht, daß das erste große Werk dieser Art von einem amerikanischen Autor stammt. Richard Ellmanns 900-Seiten-Opus ist dreizehn Jahre alt und wurde jetzt, anläßlich des "runden" Todestags, neu aufgelegt - ein verständlicher Verlagsreflex, denn Ellmann hat sich mit seiner Detailbesessenheit Starruhm erschrieben. Als er beispielsweise herausgefunden hatte, daß Wilde bei seinen homosexuellen Beziehungen den Mundverkehr vorzog, fragte ihn ein anderer Professor: "Gebend oder empfangend?" Worauf Ellmann der Anekdote zufolge geantwortet habe: "Verdammt, das sind weitere sechs Monate Recherche." Gleichwohl ist diese Fleißarbeit stilistisch alles andere als ein Echoraum für Oscar Wilde. Sie ist von einer akademischen Langweiligkeit geprägt, der man nur eins zugute halten kann: nämlich daß sie gar nicht versucht, witzig zu sein. Denn das macht ja die meisten Wilde-Anhänger allerorts und jederzeit zu einer rechten Plage: daß sie durch ihre Wilde-Anhängerschaft zu verstehen geben wollen, sie hätten auch besonders viel Esprit.
Mit der Ellmannschen Witzlosigkeit hat Barbara Belford viel gemein. Auch sie ist Amerikanerin, bloß lehrt sie Publizistik an der Columbia University und fiel vor Jahren dadurch auf, daß sie Violet Hunt, eine männerjagende Salondame, in deren Leben auch Oscar Wilde für die Dauer eines Bonmots getreten war, als "couragierte Vorläuferin der Feministinnen" bezeichnete. Jetzt hat sie ihre verdrehte Lesart auf Oscar selber angewandt und eine zwar immerhin etwas kürzere Wilde-Biografie als Ellmann vorgelegt, die aber in den von Ellmann abweichenden Passagen richtig falsch ist. Denn ihre Absicht, "eine freundlichere Geschichte zu erzählen" und mit dem "Mythos des tragischen Oscar Wilde" aufzuräumen, läuft darauf hinaus, ihn zum couragierten Vorläufer der Schwulenbewegung zu machen und das Elend seiner Pariser Jahre mit amerikanischer Fröhlichkeit zu einer Erfolgsgeschichte in Sachen sexueller Befreiung umzudeuten. Doch die Wahrheit sah wohl anders aus: Dazu der in Paris lebende Musik- und Literaturwissenschaftler Jens Rosteck:
"Er war im Laufe seines Lebens ja vorher schon ganz oft in Paris gewesen. Die Stadt war in décadence von ihrer Zeit geprägt, aber andererseits war sie auch eine Stadt in Aufbruchsstimmung. Wild kam in diesen Abgrund Paris, erholte sich hier aber auch, denn hier gab es eine ganz neue Bewegung. Er selbst hatte nie so wenig Geld, wie er andere hat glauben lassen. Er hatte gewisse Einkünfte auch Bosy, sein Ex-Liebhaber, steckte ihm ab und zu etwas zu, sein Freund Robert Ross kümmerte sich darum, dass ihm bestimmte Zahlung doch noch zukamen. Das war nicht sehr viel, aber er lebte auch in Saus und Braus, er hat sich nicht zügeln können; er hat zwar in ganz einfachen Hotels gewohnt, ist aber mehr oder weniger wie ein Pascha durch die Gegend gelaufen, er hat seine Gesundheit vernachlässigt und ist anderen wie eine Chimäre erschienen. Es gibt diesen sehr schönen Aufsatz von Hoffmansthal, der relativ kurz nach Wildes Tod geschrieben worden ist, in dem steht, Wilde habe sich nicht nur für das Schöne und Ästhetische interessiert, sondern ebenso für das Böses und Hässliche, also all jene Kategorien untersucht, die für das 20. Jahrhundert so bedeutend wurden. Das war für ihn genauso wichtig wie die Proklamation des Schönen."
Jens Rosteck beschreibt auf 300 Seiten, gefolgt von einem ordentlichen Anmerkungsapparat, die Szenerie der dekadenten Fin-de-siècle-Metropole, in der einer der größten englischen Dichter jener Epoche seinen Untergang suchte. Rostek:
"Mich hat interessiert: Warum kommt jemand, der berühmt ist, ausgerechnet zum Sterben nach Paris? Viele Menschen kommen nach Paris, um sich inspirieren zu lassen, um die Stadt anzubeten, um andere Autoren kennenzulernen. All das hatte Wilde bereits getan, und er kam während der letzten Jahre seines Lebens eigentlich bewusst in eine Art Exil, das er schon kannte, das sich während seiner Abwesenheit aber wieder verändert hatte. In dieser Stadt wurde er toleriert, besser als in anderen Städten, in London etwa, und deswegen hat ihn die Stadt immer wieder angezogen, hier hatte er Kollegen, die ihn zum Schluss seines Lebens aber auch nicht mehr kennen wollten."
Bekanntlich ahmt eher das Leben die Kunst nach als die Kunst das Leben. Getreu diesem Ausspruch von Oscar Wilde erlebte derselbe seinen Roman "Das Bildnis des Dorian Gray" in verschärfter Form am eigenen Leibe. "Dorian Gray ", der einzige französische Roman, der je auf englisch geschrieben wurde, handelt unter anderem von einer Sache, die im viktorianischen Großbritannien als schweres Verbrechen galt und bis vor 33 Jahren unter Strafe stand: Homosexualität. Das Buch machte Skandal, die prüde Presse ereiferte sich und Wildes Ehefrau Constanze klagte: "Seit Oscar Dorian Gray geschrieben hat, spricht niemand mehr mit uns." Oscar tummelte sich derweil mit einem jungen Lord namens Alfred Douglas, genannt Bosie, der nicht nur behauptete, er habe "Dorian Gray" neunmal gelesen, sondern der aus dem Text selbst entsprungen zu sein schien: Bosie war schön, schwul und schlagfertig, obwohl erst 21 Jahre alt, kannte er sich in der sexuellen Halbwelt besser aus als der 37jährige Wilde, der sich in Bosie heillos verliebte. Doch damit ging die Vermischung von Leben und Kunst, von Traum und Realität erst richtig los: Auf die Liebesaffäre nach Romanvorlage folgten der Prozeß zum Stück sowie ein bühnenreifer Untergang nach Art der klassischen Tragödie.
Das Verhängnis begann mit einer Visitenkarte von Bosies Vater, dem Marquess of Queensberry, einem jähzornigen Mann, der an der Vorstellung, daß sein Sohn mit dem verworfenen Schriftsteller und Dandy Unzucht trieb, schier wahnsinnig wurde. Einmal tauchte er sogar in Wildes Haus auf und drohte ihm Prügel für den Fall an, daß er ihn je wieder mit Bosie in einem öffentlichen Restaurant sehen sollte. Daraufhin zeigten sich Wilde und Bosie, der seinen Vater von ganzem Herzen haßte, besonders oft in der Öffentlichkeit und legten es darauf an, durch laszives Benehmen zu provozieren.
Am 18. Februar 1895 nachmittags um halb fünf stürmte der Marquess of Queensberry in Oscar Wildes Londoner Club und hinterließ, da er den Dichter nicht antraf, eine Visitenkarte mit einer groben Beleidigung: "For Oscar Wilde, posing Somdomite" - er meinte natürlich Sodomite, also Knabenschänder, aber in seiner cholerischen Aufwallung war ihm die Orthographie abhanden gekommen. Ironie der Geschichte: Der Untergang des großen Wortspielers Wilde begann mit einem Sprachschnitzer. Die Wirkung der Karte ließ auf sich warten. Wilde erhielt sie erst zehn Tage später, bei seinem nächsten Clubbesuch.
Doch dann beging der Empfänger die fatale Dummheit, darauf zu reagieren. Er stellte gegen Queensberry Strafantrag wegen Beleidigung. Das Verfahren begann am 3. April im Londoner Justizpalast Old Bailey und endete am nächsten Tag mit Queensberrys Freispruch. Der drehte sofort den Spieß um und erstattete Anzeige gegen Wilde. Die Presse johlte und übergoß den Dichter mit journalistischer Jauche, Wildes Theaterstücke wurden abgesetzt, er selbst kam ins Gefängnis. Zwei Wochen später begann der zweite, von Bosies Vater angestrengte Prozeß. Diesmal ging es nicht um die Auslegung einzelner Passagen eines für obszön gehaltenen Buchs wie "Dorian Gray". Diesmal ging es um handfeste Beweise der gesetzeswidrigen Sexualhandlungen. Queensberrys Anwalt, ausgerechnet ein Oxforder Studienkollege von Wilde, ließ eine ganze Riege von Strichjungen aus der Gegend um Piccadilly Circus aufmarschieren. Wie sich später herausstellte, wurden diese Zeugen während des Prozesses nicht nur von einem Anklagevertreter beherbergt, sondern auch von Queensberry bezahlt.
Da sich die Geschworenen nicht einigten, kam es noch zu einem dritten Prozeß. Man hätte dies vermeiden können; die Justiz war nicht verpflichtet, den Fall weiter zu verfolgen. Aber der Marquess of Queensberry setzte den Staatsanwalt unter Druck, und sein Sohn Bosie, Wildes Geliebter, tat alles, um das Feuer weiter anzuheizen. "In Deinem hasserfüllten Krieg gegen Deinen Vater war ich Euch beiden Schild und Waffe zugleich", schrieb Wilde später in einem buchlangen Brief aus dem Gefängnis, der unter dem Titel "De Profundis" in die Weltliteratur einging.
Aber auch Wilde selbst dachte nicht daran, klein beizugeben. Vielleicht hatte er mit der Möglichkeit seiner Verurteilung nie wirklich gerechnet und sich - trotz aller Phantasie - die Folgen einer solchen Möglichkeit nie ausgemalt. Denn sein stets ironisches, an der Gewinnung von scharfen Scherzen orientiertes Verhältnis zur Realität beruhte auf dem literarisch unendlich kostbaren, aber irrigen Glauben, die Welt mit Worten bannen zu können. Deshalb fiel der Dichter bei der Verkündung seines Schuldspruchs geradezu aus allen Wolken: Zwei Jahre Zuchthaus mit Zwangsarbeit. Wilde war ruiniert - finanziell, moralisch und körperlich. Seine Frau musste mit den Kindern vor der Schande fliehen; um in Schweizer Hotels überhaupt Aufnahme zu finden, nahm sie den Namen Holland an.
Wilde überlebte seine Verurteilung nur um fünf Jahre. Das prüde, bigotte und brutale England hatte über den arroganten, provokanten und perversen Dandy mit Hilfe eines Richters gesiegt, der diesen Fall den widerwärtigsten nannte, den er je zu verhandeln gehabt hätte.
Eine einzige Biografie gibt es, die mit der Erzählung dieses Lebens auch eine Ahnung davon vermittelt, worin denn eigentlich die Größe und Bedeutung dieses tragischen Helden bestanden. Sie stammt von Norbert Kohl, umfaßt knapp 300 Seiten und betreibt nicht nur faktensatten Historismus, sondern exploriert auch den zeitlosen oder jedenfalls noch immer elektrisierenden Bereich von Wildes Werk - einen Bereich, den Peter Torberg, Übersetzer der Theaterstücke, so umreißt: "Oscar Wilde ist jemand, der mit den Konventionen seiner Zeit gespielt hat, sie zwar sehr ernst genommen, sich an sie gehalten, aber in der letzten, überspitzten Form immer auch mit ihnen gespielt hat. Das geht gut, das mag man, das ist schön, einen Gast, der in Gesellschaft brillieren kann, hat man gern im Haus. Aber jemand, der die ehernen Gesetze der Moral auf den Kopf stellt und nicht nur damit spielt, sich, wenn auch leise, darüber lustig macht, der ist nicht mehr tragbar. Und das ist heute sicherlich noch ganz genauso. Ich glaube nicht, dass den meisten Leuten im Publikum klar gewesen ist, wie sehr sie selbst vorgeführt wurden als Publikum dieser Stücke. Und zwar auch und vor allem der Kommödien."
Torbergs Eindeutschungen der Stücke sind leider nur als Typoskripte für Theater, nicht aber in Buchform erhältlich. Die zum 30. November 2000 neu aufgelegte Zürcher Werkausgabe enthält eine eher fragwürdig-flapsige Übersetzung der Dramen, während ein so kardinaler Text wie "De Profundis" völlig fehlt.
Interessant ist allemal, daß Wildes Nachruhm in England vor allem von seinen Stücken ausging, in Deutschland oder Frankreich kennt man hingegen eher seine Romane und Essays. Allerdings hat sich gerade das französische Theater in einem entscheidenden Moment um Wilde verdient gemacht, und zwar indem seine Salomé in Paris auf die Bühne kam, als er in England im Gefängnis saß und man dort nichts mehr von ihm wissen wollte. Er selbst hat dies als einen Gnadenakt empfunden und sich in seinem Hingezogensein zu Frankreich noch bestärkt gefühlt. Daß allerdings auch Frankreich - trotz aller Zustimmung zu Wildes Ästhetizismus und trotz größerer Toleranz in sexuellen Dingen - von ähnlichen gesellschaftlichen Spasmen geschüttelt wurde wie das Vereinigte Königreich, legt Jens Rosteck in seinem Buch "Die Sphinx verstummt" überzeugend dar:
"Wir heute haben die political correctness, sie ist uns ganz selbstverständlich. Aber damals war jede Zurschaustellung eine größere gesellschaftliche Provokation. Und Wilde hat es in dieser Hinsicht ziemlich weit getrieben. Außerdem brauchten auch die damaligen Gesellschaften einen Sündenbock; Frankreich hatte die Dreyfuß-Affaire, wo jemand aus einer hohen Position ganz erbärmlich in den Abgrund gestoßen wurde. Und auch bei Wilde konnte man sich an einer Figur stellvertretend für viele andere rächen. Auch viele Homosexuelle sind Wilde in England in den Rücken gefallen. In der Nacht seines Urteils sind viele Männer nach Frankreich gegangen, haben sich von dort aber nicht für ihn eingesetzt."
Mag sein, daß nicht nur die gesellschaftlichen Kräfte ihr Spiel mit ihm trieben, sondern auch die genetischen. Das Widerständige, Provokative lag jedenfalls in der Familie. Seine Mutter, Lady Wilde, war eine irische Freiheitskämpferin und (um noch einmal die abgedroschene Formulierung von Barbara Belford aufzugreifen) eine couragierte Vorläuferin der Feministinnen. Merlin Holland weist in dem Zusammenhang auf ein wenig bekanntes Detail hin.
" Es gibt im Trinity College eine Kollektion aus den 90er Jahren, 20 Jahre, bevor es auch den Frauen zugänglich gemacht wurde. Aber die ersten zwei Signaturen sind von seiner Mutter und seiner Frau. Von seiner Mutter hatte er diesen kämpferischen, stolzen, ja arroganten Charakter. Inwieweit dieser ihn zugrunde gerichtet haben, weiß ich nicht. Aber diese irische Seite oscar wildes ist bisher kaum erforscht worden. Wir müssen da noch weiter forschen, und ich bin sicher: Es wird sich lohnen.
Doch es gibt den Fortschritt, und man kann ihn sehen. Heute Abend beispielsweise findet in der British Library zu London eine Feierstunde zum Gedenken an den großen Verfemten statt, und Merlin Holland lud dazu verwegenerweise sogar die irische Staatspräsidentin Mary McAleese ein. Sie hat, dies wird ein Datum nicht nur der Wilde-Rezeption, sondern der neueren Literaturgeschichte werden, ihr Kommen zugesagt. Bibiographie:
Richard Ellmann: Oscar Wilde. Eine Biographie. Piper Verlag, München 1998. 886 S., DM 39,90
Barbara Belford: Oscar Wilde. Ein paradoxes Genie. Haffmans Verlag, Zürich 2000. 512 S., DM 59,-
Norbert Kohl: Oscar Wilde. Leben und Wer. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2000. 344 S., DM 48,-
Jens Rosteck: Die Sphinx verstummt, Oscar Wilde in Paris. Propyläen Verlag, Berlin. 342 S., DM 44,-
Merlin Holland: Das Oscar Wilde Album. Blessing Verlag, München 191 S. DM 39,90
Oscar Wilde: Werke in fünf Bänden (Zürcher Ausgabe). Haffmans Verlag, Zürich 2000. 1900 S., DM 188,-
Vor genau 50 Jahren, am 50. Todestag von Oscar Wilde, schreckte Merlin Hollands Vater Vyvian noch davor zurück, das Grab seines Vaters zu besuchen und sich zu seiner Blutsverwandtschaft mit dem verfemten Dichter zu bekennen: So tief waren die Wunden. Aber dann gab er doch eine Sammlung von Oscar Wildes Briefen heraus. Die hat Merlin Holland jetzt um 300 weitere ergänzt. Die Neuausgabe ist in England bei Forth Estate erschienen, auf eine deutsche Übersetzung der "Complete Letters of Oscar Wilde" muß noch gewartet werden. Nicht nur die Überlieferung von Wildes Korrespondenz, sondern diejenige seines gesamten Nachlasses geschah auf sehr verschlungenen Wegen, an denen die Familie den geringten Anteil hatte. Dazu Merlin Holland:
"Einen Tag, bevor Oscar verhaftet und ins Gefängnis geworfen wurde, ist sein ganzes Haus versteigert worden. Und zwar nicht, wie die meisten Leute glauben, wegen Queensberry. Sondern wegen Leuten, denen er Geld schuldete. Einige von ihnen hatten einen Pfändungsbefehl, und alles, was er besaß, wurde versteigert; alles, sogar die Spielsoldaten seines Kindes, sogar Manuskripte, die später in den USA, in Deutschland oder in Frankreich auftauchten. Alles wurde für einen sehr geringen Preis versteigert. Die gesamte Versteigerung hat, glaube ich, nicht einmal 200 Pfund erbracht. Alle Gegenstände, alle Objekte sind dadurch natürlich verschwunden."
So befindet sich heute die größte Sammlung von Wildes Papieren in den Händen einer ungenannt bleibenden Amerikanerin, während die größte öffentlich zugängliche Sammlung der Clark Library in Los Angeles gehört. Damit ist zugleich die Quellenlage für jeden biografischen Versuch beschrieben, und es verwundert nicht, daß das erste große Werk dieser Art von einem amerikanischen Autor stammt. Richard Ellmanns 900-Seiten-Opus ist dreizehn Jahre alt und wurde jetzt, anläßlich des "runden" Todestags, neu aufgelegt - ein verständlicher Verlagsreflex, denn Ellmann hat sich mit seiner Detailbesessenheit Starruhm erschrieben. Als er beispielsweise herausgefunden hatte, daß Wilde bei seinen homosexuellen Beziehungen den Mundverkehr vorzog, fragte ihn ein anderer Professor: "Gebend oder empfangend?" Worauf Ellmann der Anekdote zufolge geantwortet habe: "Verdammt, das sind weitere sechs Monate Recherche." Gleichwohl ist diese Fleißarbeit stilistisch alles andere als ein Echoraum für Oscar Wilde. Sie ist von einer akademischen Langweiligkeit geprägt, der man nur eins zugute halten kann: nämlich daß sie gar nicht versucht, witzig zu sein. Denn das macht ja die meisten Wilde-Anhänger allerorts und jederzeit zu einer rechten Plage: daß sie durch ihre Wilde-Anhängerschaft zu verstehen geben wollen, sie hätten auch besonders viel Esprit.
Mit der Ellmannschen Witzlosigkeit hat Barbara Belford viel gemein. Auch sie ist Amerikanerin, bloß lehrt sie Publizistik an der Columbia University und fiel vor Jahren dadurch auf, daß sie Violet Hunt, eine männerjagende Salondame, in deren Leben auch Oscar Wilde für die Dauer eines Bonmots getreten war, als "couragierte Vorläuferin der Feministinnen" bezeichnete. Jetzt hat sie ihre verdrehte Lesart auf Oscar selber angewandt und eine zwar immerhin etwas kürzere Wilde-Biografie als Ellmann vorgelegt, die aber in den von Ellmann abweichenden Passagen richtig falsch ist. Denn ihre Absicht, "eine freundlichere Geschichte zu erzählen" und mit dem "Mythos des tragischen Oscar Wilde" aufzuräumen, läuft darauf hinaus, ihn zum couragierten Vorläufer der Schwulenbewegung zu machen und das Elend seiner Pariser Jahre mit amerikanischer Fröhlichkeit zu einer Erfolgsgeschichte in Sachen sexueller Befreiung umzudeuten. Doch die Wahrheit sah wohl anders aus: Dazu der in Paris lebende Musik- und Literaturwissenschaftler Jens Rosteck:
"Er war im Laufe seines Lebens ja vorher schon ganz oft in Paris gewesen. Die Stadt war in décadence von ihrer Zeit geprägt, aber andererseits war sie auch eine Stadt in Aufbruchsstimmung. Wild kam in diesen Abgrund Paris, erholte sich hier aber auch, denn hier gab es eine ganz neue Bewegung. Er selbst hatte nie so wenig Geld, wie er andere hat glauben lassen. Er hatte gewisse Einkünfte auch Bosy, sein Ex-Liebhaber, steckte ihm ab und zu etwas zu, sein Freund Robert Ross kümmerte sich darum, dass ihm bestimmte Zahlung doch noch zukamen. Das war nicht sehr viel, aber er lebte auch in Saus und Braus, er hat sich nicht zügeln können; er hat zwar in ganz einfachen Hotels gewohnt, ist aber mehr oder weniger wie ein Pascha durch die Gegend gelaufen, er hat seine Gesundheit vernachlässigt und ist anderen wie eine Chimäre erschienen. Es gibt diesen sehr schönen Aufsatz von Hoffmansthal, der relativ kurz nach Wildes Tod geschrieben worden ist, in dem steht, Wilde habe sich nicht nur für das Schöne und Ästhetische interessiert, sondern ebenso für das Böses und Hässliche, also all jene Kategorien untersucht, die für das 20. Jahrhundert so bedeutend wurden. Das war für ihn genauso wichtig wie die Proklamation des Schönen."
Jens Rosteck beschreibt auf 300 Seiten, gefolgt von einem ordentlichen Anmerkungsapparat, die Szenerie der dekadenten Fin-de-siècle-Metropole, in der einer der größten englischen Dichter jener Epoche seinen Untergang suchte. Rostek:
"Mich hat interessiert: Warum kommt jemand, der berühmt ist, ausgerechnet zum Sterben nach Paris? Viele Menschen kommen nach Paris, um sich inspirieren zu lassen, um die Stadt anzubeten, um andere Autoren kennenzulernen. All das hatte Wilde bereits getan, und er kam während der letzten Jahre seines Lebens eigentlich bewusst in eine Art Exil, das er schon kannte, das sich während seiner Abwesenheit aber wieder verändert hatte. In dieser Stadt wurde er toleriert, besser als in anderen Städten, in London etwa, und deswegen hat ihn die Stadt immer wieder angezogen, hier hatte er Kollegen, die ihn zum Schluss seines Lebens aber auch nicht mehr kennen wollten."
Bekanntlich ahmt eher das Leben die Kunst nach als die Kunst das Leben. Getreu diesem Ausspruch von Oscar Wilde erlebte derselbe seinen Roman "Das Bildnis des Dorian Gray" in verschärfter Form am eigenen Leibe. "Dorian Gray ", der einzige französische Roman, der je auf englisch geschrieben wurde, handelt unter anderem von einer Sache, die im viktorianischen Großbritannien als schweres Verbrechen galt und bis vor 33 Jahren unter Strafe stand: Homosexualität. Das Buch machte Skandal, die prüde Presse ereiferte sich und Wildes Ehefrau Constanze klagte: "Seit Oscar Dorian Gray geschrieben hat, spricht niemand mehr mit uns." Oscar tummelte sich derweil mit einem jungen Lord namens Alfred Douglas, genannt Bosie, der nicht nur behauptete, er habe "Dorian Gray" neunmal gelesen, sondern der aus dem Text selbst entsprungen zu sein schien: Bosie war schön, schwul und schlagfertig, obwohl erst 21 Jahre alt, kannte er sich in der sexuellen Halbwelt besser aus als der 37jährige Wilde, der sich in Bosie heillos verliebte. Doch damit ging die Vermischung von Leben und Kunst, von Traum und Realität erst richtig los: Auf die Liebesaffäre nach Romanvorlage folgten der Prozeß zum Stück sowie ein bühnenreifer Untergang nach Art der klassischen Tragödie.
Das Verhängnis begann mit einer Visitenkarte von Bosies Vater, dem Marquess of Queensberry, einem jähzornigen Mann, der an der Vorstellung, daß sein Sohn mit dem verworfenen Schriftsteller und Dandy Unzucht trieb, schier wahnsinnig wurde. Einmal tauchte er sogar in Wildes Haus auf und drohte ihm Prügel für den Fall an, daß er ihn je wieder mit Bosie in einem öffentlichen Restaurant sehen sollte. Daraufhin zeigten sich Wilde und Bosie, der seinen Vater von ganzem Herzen haßte, besonders oft in der Öffentlichkeit und legten es darauf an, durch laszives Benehmen zu provozieren.
Am 18. Februar 1895 nachmittags um halb fünf stürmte der Marquess of Queensberry in Oscar Wildes Londoner Club und hinterließ, da er den Dichter nicht antraf, eine Visitenkarte mit einer groben Beleidigung: "For Oscar Wilde, posing Somdomite" - er meinte natürlich Sodomite, also Knabenschänder, aber in seiner cholerischen Aufwallung war ihm die Orthographie abhanden gekommen. Ironie der Geschichte: Der Untergang des großen Wortspielers Wilde begann mit einem Sprachschnitzer. Die Wirkung der Karte ließ auf sich warten. Wilde erhielt sie erst zehn Tage später, bei seinem nächsten Clubbesuch.
Doch dann beging der Empfänger die fatale Dummheit, darauf zu reagieren. Er stellte gegen Queensberry Strafantrag wegen Beleidigung. Das Verfahren begann am 3. April im Londoner Justizpalast Old Bailey und endete am nächsten Tag mit Queensberrys Freispruch. Der drehte sofort den Spieß um und erstattete Anzeige gegen Wilde. Die Presse johlte und übergoß den Dichter mit journalistischer Jauche, Wildes Theaterstücke wurden abgesetzt, er selbst kam ins Gefängnis. Zwei Wochen später begann der zweite, von Bosies Vater angestrengte Prozeß. Diesmal ging es nicht um die Auslegung einzelner Passagen eines für obszön gehaltenen Buchs wie "Dorian Gray". Diesmal ging es um handfeste Beweise der gesetzeswidrigen Sexualhandlungen. Queensberrys Anwalt, ausgerechnet ein Oxforder Studienkollege von Wilde, ließ eine ganze Riege von Strichjungen aus der Gegend um Piccadilly Circus aufmarschieren. Wie sich später herausstellte, wurden diese Zeugen während des Prozesses nicht nur von einem Anklagevertreter beherbergt, sondern auch von Queensberry bezahlt.
Da sich die Geschworenen nicht einigten, kam es noch zu einem dritten Prozeß. Man hätte dies vermeiden können; die Justiz war nicht verpflichtet, den Fall weiter zu verfolgen. Aber der Marquess of Queensberry setzte den Staatsanwalt unter Druck, und sein Sohn Bosie, Wildes Geliebter, tat alles, um das Feuer weiter anzuheizen. "In Deinem hasserfüllten Krieg gegen Deinen Vater war ich Euch beiden Schild und Waffe zugleich", schrieb Wilde später in einem buchlangen Brief aus dem Gefängnis, der unter dem Titel "De Profundis" in die Weltliteratur einging.
Aber auch Wilde selbst dachte nicht daran, klein beizugeben. Vielleicht hatte er mit der Möglichkeit seiner Verurteilung nie wirklich gerechnet und sich - trotz aller Phantasie - die Folgen einer solchen Möglichkeit nie ausgemalt. Denn sein stets ironisches, an der Gewinnung von scharfen Scherzen orientiertes Verhältnis zur Realität beruhte auf dem literarisch unendlich kostbaren, aber irrigen Glauben, die Welt mit Worten bannen zu können. Deshalb fiel der Dichter bei der Verkündung seines Schuldspruchs geradezu aus allen Wolken: Zwei Jahre Zuchthaus mit Zwangsarbeit. Wilde war ruiniert - finanziell, moralisch und körperlich. Seine Frau musste mit den Kindern vor der Schande fliehen; um in Schweizer Hotels überhaupt Aufnahme zu finden, nahm sie den Namen Holland an.
Wilde überlebte seine Verurteilung nur um fünf Jahre. Das prüde, bigotte und brutale England hatte über den arroganten, provokanten und perversen Dandy mit Hilfe eines Richters gesiegt, der diesen Fall den widerwärtigsten nannte, den er je zu verhandeln gehabt hätte.
Eine einzige Biografie gibt es, die mit der Erzählung dieses Lebens auch eine Ahnung davon vermittelt, worin denn eigentlich die Größe und Bedeutung dieses tragischen Helden bestanden. Sie stammt von Norbert Kohl, umfaßt knapp 300 Seiten und betreibt nicht nur faktensatten Historismus, sondern exploriert auch den zeitlosen oder jedenfalls noch immer elektrisierenden Bereich von Wildes Werk - einen Bereich, den Peter Torberg, Übersetzer der Theaterstücke, so umreißt: "Oscar Wilde ist jemand, der mit den Konventionen seiner Zeit gespielt hat, sie zwar sehr ernst genommen, sich an sie gehalten, aber in der letzten, überspitzten Form immer auch mit ihnen gespielt hat. Das geht gut, das mag man, das ist schön, einen Gast, der in Gesellschaft brillieren kann, hat man gern im Haus. Aber jemand, der die ehernen Gesetze der Moral auf den Kopf stellt und nicht nur damit spielt, sich, wenn auch leise, darüber lustig macht, der ist nicht mehr tragbar. Und das ist heute sicherlich noch ganz genauso. Ich glaube nicht, dass den meisten Leuten im Publikum klar gewesen ist, wie sehr sie selbst vorgeführt wurden als Publikum dieser Stücke. Und zwar auch und vor allem der Kommödien."
Torbergs Eindeutschungen der Stücke sind leider nur als Typoskripte für Theater, nicht aber in Buchform erhältlich. Die zum 30. November 2000 neu aufgelegte Zürcher Werkausgabe enthält eine eher fragwürdig-flapsige Übersetzung der Dramen, während ein so kardinaler Text wie "De Profundis" völlig fehlt.
Interessant ist allemal, daß Wildes Nachruhm in England vor allem von seinen Stücken ausging, in Deutschland oder Frankreich kennt man hingegen eher seine Romane und Essays. Allerdings hat sich gerade das französische Theater in einem entscheidenden Moment um Wilde verdient gemacht, und zwar indem seine Salomé in Paris auf die Bühne kam, als er in England im Gefängnis saß und man dort nichts mehr von ihm wissen wollte. Er selbst hat dies als einen Gnadenakt empfunden und sich in seinem Hingezogensein zu Frankreich noch bestärkt gefühlt. Daß allerdings auch Frankreich - trotz aller Zustimmung zu Wildes Ästhetizismus und trotz größerer Toleranz in sexuellen Dingen - von ähnlichen gesellschaftlichen Spasmen geschüttelt wurde wie das Vereinigte Königreich, legt Jens Rosteck in seinem Buch "Die Sphinx verstummt" überzeugend dar:
"Wir heute haben die political correctness, sie ist uns ganz selbstverständlich. Aber damals war jede Zurschaustellung eine größere gesellschaftliche Provokation. Und Wilde hat es in dieser Hinsicht ziemlich weit getrieben. Außerdem brauchten auch die damaligen Gesellschaften einen Sündenbock; Frankreich hatte die Dreyfuß-Affaire, wo jemand aus einer hohen Position ganz erbärmlich in den Abgrund gestoßen wurde. Und auch bei Wilde konnte man sich an einer Figur stellvertretend für viele andere rächen. Auch viele Homosexuelle sind Wilde in England in den Rücken gefallen. In der Nacht seines Urteils sind viele Männer nach Frankreich gegangen, haben sich von dort aber nicht für ihn eingesetzt."
Mag sein, daß nicht nur die gesellschaftlichen Kräfte ihr Spiel mit ihm trieben, sondern auch die genetischen. Das Widerständige, Provokative lag jedenfalls in der Familie. Seine Mutter, Lady Wilde, war eine irische Freiheitskämpferin und (um noch einmal die abgedroschene Formulierung von Barbara Belford aufzugreifen) eine couragierte Vorläuferin der Feministinnen. Merlin Holland weist in dem Zusammenhang auf ein wenig bekanntes Detail hin.
" Es gibt im Trinity College eine Kollektion aus den 90er Jahren, 20 Jahre, bevor es auch den Frauen zugänglich gemacht wurde. Aber die ersten zwei Signaturen sind von seiner Mutter und seiner Frau. Von seiner Mutter hatte er diesen kämpferischen, stolzen, ja arroganten Charakter. Inwieweit dieser ihn zugrunde gerichtet haben, weiß ich nicht. Aber diese irische Seite oscar wildes ist bisher kaum erforscht worden. Wir müssen da noch weiter forschen, und ich bin sicher: Es wird sich lohnen.
Doch es gibt den Fortschritt, und man kann ihn sehen. Heute Abend beispielsweise findet in der British Library zu London eine Feierstunde zum Gedenken an den großen Verfemten statt, und Merlin Holland lud dazu verwegenerweise sogar die irische Staatspräsidentin Mary McAleese ein. Sie hat, dies wird ein Datum nicht nur der Wilde-Rezeption, sondern der neueren Literaturgeschichte werden, ihr Kommen zugesagt. Bibiographie:
Richard Ellmann: Oscar Wilde. Eine Biographie. Piper Verlag, München 1998. 886 S., DM 39,90
Barbara Belford: Oscar Wilde. Ein paradoxes Genie. Haffmans Verlag, Zürich 2000. 512 S., DM 59,-
Norbert Kohl: Oscar Wilde. Leben und Wer. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2000. 344 S., DM 48,-
Jens Rosteck: Die Sphinx verstummt, Oscar Wilde in Paris. Propyläen Verlag, Berlin. 342 S., DM 44,-
Merlin Holland: Das Oscar Wilde Album. Blessing Verlag, München 191 S. DM 39,90
Oscar Wilde: Werke in fünf Bänden (Zürcher Ausgabe). Haffmans Verlag, Zürich 2000. 1900 S., DM 188,-