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Zum 100. Geburtstag von Theodor W. Adorno am 11.9.2003

Ich hege großen Respekt gegenüber Adorno. Aber ich achte stets auf die Heterogenität in der deutschen Universität. Auch auf die Heterogenität der Frankfurter Schule und die zwischen der universitären Tradition Frankfurts und den Akademikern, die – wie Walter Benjamin – nicht zur Universität gehören.

Klaus Englert |
    Der französische Philosoph Jacques Derrida hat zweifellos recht, wenn er die Heterogenität der Frankfurter Schule betont. So verschieden die intellektuellen Köpfe der Kritischen Theorie auch waren, alle wollten sie doch den Marxismus aus seiner dogmatischen Erstarrung lösen. Die Katechismen der Weltverbesserer und die Programme der kommunistischen Parteien waren ihnen zuwider. Lieber pflegte man den eigenen Diskussionszirkel.

    Und so trafen sich die Revolutionäre der Theorie um 1930 im Frankfurter Institut für Sozialforschung, in jenem Institut, das keine universitäre Einrichtung, sondern freie Forschungsstätte war. Zur Gruppe gehörten die Philosophen Max Horkheimer, Theodor Wiesengrund Adorno und Friedrich Pollock, aber auch der Psychoanalytiker Ernst Fromm und der Literaturwissenschaftler Leo Löwenthal. Später kamen noch der Philosoph Herbert Marcuse, der Literaturkritiker Walter Benjamin und der Filmtheoretiker Siegfried Kracauer hinzu. Wie die Frühromantiker um Novalis, Tieck und die Brüder Schlegel träumten sie von einer Philosophie des Wir, einer "Symphilosophie". Daran erinnert nun der 1. Band des Briefwechsels zwischen dem Institutsleiter Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. So schrieb Adorno 1935 an den im New Yorker Exil weilenden Max Horkheimer: Ich sehe mich plötzlich voll und real in eine bestehende und gute Kollektivität eingefügt, ohne dass ich mich darum ‚einfügen‘ müsste.

    Max Horkheimer hatte in New York die Hauptstelle des Instituts für Sozialforschung aufgebaut, während Adorno, nach dem Entzug seiner Lehrbefugnis, in Oxford seine Husserl- Dissertation schrieb. Im Verlauf des Briefverkehrs, der bis Ende 1937 dauert, wird zusehends deutlich, dass Horkheimer und Adorno die Fixsterne des Instituts sind – der eine als Organisator, der andere als Cheftheoretiker. Doch man versteht sich nicht nur in den philosophischen Ambitionen. Als Adorno 1937 heiraten will, schlägt er ganz selbstverständlich seinen deutlich älteren Freund Max als Trauzeugen vor. Aber natürlich steht die gemeinsame philosophische Arbeit im Mittelpunkt des Briefwechsels. Auf die Befürchtung Horkheimers, Adorno würde nach der Übersiedlung von England nach New York eine akademische Karriere einschlagen, erwidert dieser:

    Zum Vorschlag einer Querverbindung nach Harvard möchte ich nur sagen, dass Sie wirklich nicht mit irgendwelchen Universitätsambitionen von mir zu rechnen haben und dass mir das liebste wäre, wenn wir dauernd an einem Platz existierten. Wenn es zur Ausführung des Planes unseres gemeinsamen Buches über dialektischen Materialismus kommt, so würde ich mir ohnehin vorstellen, dass wir uns am besten für eine geraume Zeit irgendwohin, vielleicht nach Südfrankreich, zurückzögen.

    Zu den gemeinsamen Arbeitsferien in Südfrankreich ist es dann wegen der deutschen Okkupation nicht gekommen. Aber immerhin schrieben Horkheimer und Adorno einige Jahre später im amerikanischen Exil einen der größten philosophischen Bestseller – "Die Dialektik der Aufklärung". Dieses, während der späten Kriegsjahre verfasste Buch wird noch heute heftig in den philosophischen Seminaren diskutiert – vor allem wegen der Analyse der "Kulturindustrie".

    Der Begriff reflektiert Adornos Eindrücke, die er seit 1938 in der neuen Welt aufnahm. Der Fokus dieser Wahrnehmungen war New York, das dem europäischen Emigranten wie das Sündenbabel vorgekommen sein musste. Dass das Geld die Welt regiert, war dem jungen Marxisten natürlich nicht neu. Aber dass selbst die Kunst sich nach Marktgesetzen ausrichtet, dass sich ihr Wert über die Käuflichkeit regelt - diese deprimierende Einsicht wurde Adorno erst in der Metropole der glitzernden Neonreklamen und der zahllosen Amüsierbetriebe zuteil. Noch 1937 schrieb er über die hohe Kunst der Musik – über seinen Lehrer Alban Berg und Richard Wagner, zugleich plante er ein Buch über Arnold Schönberg. Und nun dies: Die Menschen auf dem Broadway ignorieren Wagner und die Wiener Schule, lieber strömen sie in Comedy Shows und Musicals. Vor genau 50 Jahren, während der legendären Darmstädter Gespräche, hatte Adorno in einem engagierten Diskussionsbeitrag seinen Standpunkt nochmals verteidigt:

    Dass in der gegenwärtigen Kunst eine Krise der Rezeption herrscht, in dem Sinne, dass das Publikum von der modernen Kunst abgespalten ist, das ist etwas, was kein vernünftiger Mensch bestreiten wird (...). Ich glaube, das, worauf es hier wirklich ankäme, wäre doch, diese Tatsache selber einmal zu begreifen, anstatt in einer nicht ganz fairen Weise, aus dieser Tatsache ein Werturteil über die moderne Kunst en bloque abzuleiten (Klatschen). Dann wird man allerdings darauf stoßen, dass jener Mangel an gesellschaftlicher Fügsamkeit der modernen Kunst selber Ausdruck eines Gesellschaftlichen ist. Wenn man schon die gesellschaftliche Forderung so ernst nimmt, (...) dann muss man sich genau darüber Rechenschaft ablegen, dass die moderne Kunst zu dem Bruch mit der Konsumtion (...) dadurch gedrängt worden ist, dass die Produktion in ihrer Breite, nämlich die Produktion, die über den Markt reproduziert wird, eben damit sie verkäuflich ist, die Mechanismen der Verdinglichung, die Mechanismen des Warencharakters, kurz alles das verstärkt hat, was uns eigentlich das Leben unmöglich macht.

    Und die Sache ist in Wahrheit so, dass das Anliegen des Menschen (...) heute nur von der Kunst vertreten werden, die sich weigert, nach den Konventionen, nach den Warenklischees, nach dem Geist der illustrierten Zeitungen, des Radios und der Magazine sich zu richten. So dass wahrscheinlich heute nur der Künstler die Sache der Gesellschaft vertritt, der sich nicht zu einem Mundstück derer macht, die da prätendieren, für die Gesellschaft reden zu dürfen, während sie in Wirklichkeit darauf aus sind, die Gesellschaft zu beherrschen und an der Nase herumzuführen.

    In den letzten Lebensjahren, bis zum plötzlichen Tod 1969, hat sich Adorno darum bemüht, eine Philosophie zu schaffen, die sich mit der modernen Kunst messen kann. Dies setze aber voraus – so Adorno -, die Philosophie vom Kopf auf die Füße zu stellen. Sie dürfe nicht mehr – wie es in den kürzlich edierten "Vorlesungen zur Negativen Dialektik" heißt -, "ihrer größten Versuchung anheimfallen, nämlich "das Nichtbegriffliche von vornherein zu eskamotieren". Adorno kritisiert "die behagliche Zurückgebliebenheit" der Philosophen, die sich allzu gerne damit begnügen, "mit Begriffen und über Begriffe zu reden". Sie dürften nicht fortfahren, unsere Vorstellungen vom Ich und der Welt zu synthetisieren. Und zwar deswegen, weil das Bild von einm einheitlichen Ich und einer geschlossenen Welt nichts weiter als ein gedankliches Konstrukt ist. Adorno folgert daraus, die philosophischen Werke müßten sich formal den künstlerischen angleichen. Seine posthum veröffentlichte "Ästhetischen Theorie" mißt er mit James Joyces "Finnegans Wake" – beide Werke galten ihm als "work in progress".

    In gewissem Sinn sind die Werke (...) heute vollkommener je mehr sie dieses Maß an Unvollkommenheit, das heißt diesen Verzicht auf jede Art der scheinhaften Geschlossenheit auf sich nehmen. Während all das, was glaubt, an jener Harmonie festhalten zu dürfen, problematisch ist.

    Adorno bezog sich in der Diskussion auf seinen Kontrahenten Hans Sedlmayr, der die moderne Kunst als "Verlust der Mitte" und Negativität kritisierte. Zwar übernimmt Adorno diesen Begriff, wendet ihn aber sogleich ins Positive:

    Ich würde dialektisch sagen, dass die Harmonie des modernen Kunstwerks wesentlich darin besteht, dass es das Zerrissene unversöhnt, unverstellt zum Ausdruck bringt und ihm standhält und dass eigentlich in diesem Standhalten, in diesem Worte-finden für das, was sonst wortloses Leiden ist, dass eigentlich darin das Versöhnende liegt.

    Gegenüber dem kulturkonservativen Hans Sedlmayr findet Adorno zweifelsohne Worte, die gleichermaßen angemessen sind gegenüber Picassos "Guernica" oder Schönbergs "Ein Überlebender aus Warschau" – also zwei Werken, die kongenial auf ihre Weise das Grauen des 2. Weltkrieges verarbeitet haben. Das macht seine Ästhetik ähnlichen Kunstphilosophien seiner Zeit weit überlegen. Doch bei aller Avanciertheit seiner Theorie bleibt doch ein schaler Beigeschmack. In einem Brief von 1936 erwähnt Adorno seinen Jazz-Aufsatz, der ihm angeblich "große Perspektiven" (S. 129) eröffne. Doch in Wirklichkeit mißt Adorno den Jazz lediglich an den Maßstäben der seriösen Musik und übersieht dabei völlig das Befreiende und Vitale schwarzer Musik. Gleiches geschieht mit dem Rock und Pop der sechziger, die er offenbar nur als kommerzielles Produkt der "Kulturindustrie" wahrnimmt. Der Münsteraner Philosoph Josef Früchtl meint, dass sogar Adornos Perspektive auf die E-Musik seiner Zeit sehr eingeengt war:

    Ich hatte mit Carl Dahlhaus und Dieter Schnebel mal ein Interview gemacht, in dem die beiden darauf hingewiesen haben, wie dogmatisch doch das Kategoriensystem Adornos war, wenn es um die 2. Wiener Schule, also Schönberg-Schule, ging. Die Kategorien von Kontrapunkt und Harmonielehre hat er von dieser Schule übernommen, und von daher auch das, was nach dem Krieg, mit Boulez, Luigi Nono, Stockhausen, also der sogenannten seriellen Musik folgte, immer aus der Warte der 2. Wiener Schule gemessen. Das ist doppelt eigenartig bei einem Denker wie Adorno, der einem doch immer beibringt, man solle historisch denken, die Kategorien nicht als für alle Zeit fixiert nehmen, sondern den Wandel der Kategorien in Betracht ziehen. (...) Ein eigenartiger Dogmatismus.

    Und dennoch: Bereits in seinen frühen Briefen an Horkheimer zeigt sich eine unverbrauchte denkerische Kraft, die sich erst eine Generation später bei dem jungen Jacques Derrida wiederfindet – beide Philosophen lassen den Idealismus, vornehmlich die Husserlsche Metaphysik, an den eigenen Aporien zugrunde gehen; beide überführen die Dialektik in ein agonales Denken, und beide kreieren für diese neue Philosophie eine neue Sprache. Jacques Derrida, der Adorno-Preisträger von 2001, also der geistige Erbe des Frankfurter Philosophen? Josef Früchtl legt diesen Gedanken nahe:

    In einem Punkt ist Adorno erstens sehr aktuell und (...) zukunftsweisend, nämlich in dem, was er dialektisches Denken genannt hätte und ich heute eher, beeinflusst von französischen Denkern (...), ein agonales Denken nennen würde. Was man bei Adorno sehr gut lernen kann, ist, dass es aussichtslos ist, einen sicheren Grund erfinden zu wollen, von dem heraus man Systeme entwickelt (...). Er bringt einem bei, dass einen Gedanken zu denken, heißt, früher oder später auch das Gegenteil denken zu müssen. (...) Wir müssen in der Lage sein, auch als denkende Menschen, die Spannung auszuhalten, die darin besteht, Konzeptionen nicht synthetisieren zu können, nicht auf den berühmten Begriff bringen zu können, sondern Dinge geduldig durchbuchstabieren zu müssen. Ich glaube, deswegen ist er für das 3. Jahrtausend äußerst aktuell.

    Lektüre: Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Briefwechsel, Bd.1, 1927 – 1937, hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Suhrkamp 2003, 608 S., Leinen, EUR 44,90.

    Theodor W. Adorno: Vorlesungen über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/66, hrsg. von Rolf Tiedemann, Suhrkamp, 358 S., Leinen.

    "So müßte ich ein Engel und kein Autor sein". Adorno und seine Frankfurter Verleger. Der Briefwechsel mit Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld, hrsg. von Wolfgang Schopf, Suhrkamp 2003, 650 S., Leinen, EUR 39,90.

    Theodor W. Adorno: Briefe an die Eltern, hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Suhrkamp 2003, 576 S., Leinen, EUR 39,90