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Zum 150. Geburtstag von Robert Louis Stevenson. Ein Radioessay

Er durchwanderte Schottland und England, bereiste mit einem Kanu die Flüsse und Kanäle Nordfrankreichs und Belgiens, durchstreifte mit einem Esel die Cevennen, besuchte Davos im Winter und die Cote d'Azur im Frühling, fuhr mit einem Einwandererschiff über den Atlantik, reiste mit Eisenbahn und Postkutsche quer durch die USA und segelte mit einer Schoneryacht zwei Jahre lang durch die Südsee, wo er sich, nach einem Besuch in Australien, schließlich auf Samoa niederließ. Wenn man auf einer Weltkarte die Routen einzeichnete, die der schottische Schriftsteller Robert Louis Stevenson bereist hat, ergäbe sich das Muster eines abenteuerlichen, romantischen und pittoresken Lebens. Er suchte auch in der Tat Romantik und Abenteuer, aber seine rastlose Reiselust war nur zum Teil die Erfüllung kindlicher Träumereien von Abenteuern an fremden Küsten, von weißen Stränden und grünen Inseln unterm Passatwind. Denn Stevenson reiste vor allem, weil er sich in milderen Klimaten als dem seiner rauhen, schottischen Heimat Linderung von schweren Lungenleiden erhoffte, die ihn von Kindheit an quälten und oft wochenlang ans Bett fesselten. Er war ein Weltreisender auf wackligen Beinen, dessen Reisen einer beständigen Flucht vor dem Gefängnis des Krankenlagers gleichkamen und der sich von Abenteuer zu Abenteuer schleppen mußte. Das Muster dieses bewegten Lebens auf der Weltkarte kann jedenfalls auch als Krankenbericht gelesen werden, als Fieberkurve eines chronisch Kranken, der fast wütend entschlossen war, gesund zu werden. Die Kutschen, Züge und Boote, die ihn bis ans andere Ende der Welt trugen, wurden auch immer wieder zu seinen Krankenbetten. In seinem berühmtesten Roman, "Die Schatzinsel", hat er in der Figur des beim Angriff der Meuterer verletzten Kapitän Smollett ein ironisches Selbstporträt gezeichnet, denn Smollett liegt auf der Rückreise am Heck in einer Hängematte und befehligt von dort das Schiff. Es ist eine grausame Ironie dieses kurzen und doch enorm produktiven Lebens, um das sich später zahlreiche Legenden bilden sollten, daß der Schriftsteller nicht an seinem Lungenleiden starb, sondern an einem Gehirnschlag, der den erst Vierundvierzigjährigen völlig unerwartet traf mitten in der Arbeit an seinem Fragment gebliebenen Roman "Weir of Hermiston", nachdem er sich in Samoa niedergelassen hatte und seine Gesundheit weitgehend wiederhergestellt glaubte. Das war 1894.

Klaus Modick |
    Geboren wurde Robert Louis Stevenson 1850 in eine Familie des konservativ-puritanischen Bürgertums Edinburghs. Der für sein späteres Schaffen wichtigste Gegenstand dieser äußerlich behüteten, innerlich aber fiebrig erregten Kindheit war zweifellos "Mr. Skelts Juvenile Drama", ein Spielzeugtheater. Die stilbildende Energie eines literarischen Werks resultiert aus Vorstellungskraft. Sie ist die Landschaft der Träume, die Welt, die ein Autor sich schaffen oder in der er leben möchte, gewissermaßen die eigenartige Flora und Fauna des individuellen Planeten. Und in diesem Guckkastentheater aus Pappe lag die Welt, die Stevenson dann in seinen Büchern schaffen sollte, in ganz schlichten Archetypen präformiert. Seine Bilder und Szenen sind meist wolkenlos und klar, und durch diese Szenen laufen spannende Handlungsführungen mit märchenhaften, Kolportage bewußt in Kauf nehmenden Motiven, schnell, spannend und manchmal so bizarr wie die Linien eines Blitzes vor den hellen Wasserfarben einer Pappkulisse. Dies Grundmuster läßt sich noch in seinen reifsten und komplexesten Werken erkennen und geht sogar in jenen Momenten nicht verloren, wenn Stevenson realistisch wird. Und selbst in den traurigsten und tragischsten Passagen seiner Werke begeistert sich Stevenson immer noch wie ein Kind.

    In seinem pessimistischsten Werk, dem späten Roman "The Ebb-Tide", wirken beispielsweise Männer mit Taucherhelmen wie märchenhafte Monster, wie Pantomimenmasken vor einem Prospekt aus Azur. Insofern läßt sich mit ein wenig Übertreibung sagen, daß der Weltreisende Stevenson sein Leben in dem Spielzeugtheater verbrachte, das neben dem Krankenbett seiner Kindheit gestanden hatte. Aus den Spielzeugen entwickelten sich seine Phantasmagorien, und seine Phantasmagorien verwandelte er wieder in Literatur zurück, die ja vielleicht das ernsthafteste Spielzeug ist, das die Menschheit besitzt. "Schreiben", notierte Stevenson einmal, "bedeutet für den erwachsenen Mann das, was einem Kind das Spielen ist."