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Zum 200. Geburtstag des russischen Schriftstellers Nikolai Gogol

Gogol war ein psychischer Grenzgänger – man würde ihn heute wohl als "manisch-depressiv" bezeichnen. Möglicherweise ist es das, was ihn dazu befähigte, "Leben aus dem Nichts", aus einem Nebensatz zu schaffen, wie es über ihn heißt. Zu seinem 200. Geburtstag blicken wir auf ausgesuchte Werke.

Vorgestellt von Brigitte van Kann | 31.03.2009
    Dass er ausgerechnet am 1. April zur Welt kam, passt zu Nikolaj Gogol und der zweifelhaften Aura seiner Helden: zu Akakij Akakijevitsch, dem unglücklichen Besitzer des "Mantels", über dessen Verlust er den Verstand verliert, zu den Protagonisten der "Nase", die sich selbständig macht und in Petersburg spazieren geht – und natürlich zu Pavel Tschitschikov, dem Aufkäufer der unsterblichen "Toten Seelen".

    "Durch das Tor eines Gasthofs der Gouvernementstadt N. N. fuhr eine durchaus hübsche kleine gefederte Kalesche, mit der gewöhnlich Junggesellen unterwegs sind: Oberstleutnants außer Dienst, Stabshauptleute, Gutsherren, die um die hundert Bauernseelen besitzen, kurz und gut, all jene, von denen man sagt, sie seien nicht ganz mittellos. In der Kalesche saß ein Herr, kein schöner Mann, doch auch nicht übel anzusehen, weder zu dick noch zu dünn; dass er alt gewesen wäre, hätte man nicht sagen können, allzu jung allerdings war er auch nicht."

    Tschitschikov ist von geradezu teuflischer Unauffälligkeit – das ist die Tarnung für sein Geschäft: Er kauft "tote Seelen" auf, das heißt, verstorbene leibeigene Bauern, die erst bei der nächsten Zählung aus den Revisionslisten getilgt werden. In seiner eigenen Buchführung figurieren sie als Lebende, und wenn er genug davon zusammenbringt, hofft er den nötigen Kredit zur Erfüllung seiner Träume zu bekommen. Nikolaj Gogol erfand seinen Tschitschikov vor 165 Jahren – in den Finanzjongleuren des 21. Jahrhunderts hat dieser Händler des Fiktiven offenbar ein paar Widergänger gefunden.

    So gesehen, sind "Tote Seelen", wie der Titel in der Neu-Übersetzung von Vera Bischitzky nun ohne Artikel heißt, geradezu aktuell. Daneben erscheint zu Gogols 200. auch die 20 Jahre alte Übersetzung des Slawistikprofessors Wolfgang Kasack als handliches Hardcover in der neuen, für ihre Gestaltung bereits preisgekrönte, Reclam Bibliothek.

    Legt man einzelne Passagen der deutschen "Toten Seelen" nebeneinander, fühlt man sich bald verwirrt wie der Kunde, dem der Optiker verschiedene Gläser vor die Augen hält: So besser, oder so? Ist Tschitschikovs Gefährt nun ein Wagen, eine Kalesche oder eine Britschke? Wer bedient im Gasthof: der "Kellner" oder der "Aufwärter"? Was steht nun wirklich auf dem Aushängeschild ? "Hier ist ein Restaurant"? Oder vielmehr eine "Lokalität" oder gar ein "Etablissement"? Darf man, wie Professor Kasack, schreiben, dass Fliegen "Vorderpfötchen" haben, selbst wenn es bei Gogol so steht? Schwer zu sagen. Vieles ist eine Geschmacksfrage oder ein Tribut an Lesbarkeit beziehungsweise Originalgetreue.

    Leichter fällt die Entscheidung beim Übersetzungsstil. Hier ist Vera Bischitzkys enger am Russischen operierende Sprache der Kasackschen weit überlegen. Ihre Syntax bündelt die Energie des Originals und verwässert sie nicht durch unnötig umständliche Formulierungen. Die Übersetzerin hat für ihre "Toten Seelen" ein heutiges Deutsch ohne aufdringliche Modernisierungen gefunden. Ihre Anmerkungen zeigen sie auf der Höhe ihres Gegenstands. Während die ebenfalls gute und ausführliche Kommentierung in der Reclam-Ausgabe nicht vom Übersetzer selbst, sondern von der Autorin des Nachworts stammt, das im übrigen etwas sehr akademisch ausgefallen ist.

    Die Ausgabe der Neu-Übersetzung bei Artemis & Winkler lässt nichts zu wünschen übrig. Das Allerschönste, ein wahrer Glücksgriff sind die beigegebenen Kaltnadelradierungen Marc Chagalls zu den "Toten Seelen". Auf dem Umschlag prangt ein Entwurf für den Bühnenvorhang zu den Petersburger Gogol-Feiern 1917: Wer da diesen überdehnten Kratzfuß macht, einen Lorbeerkranz in der Hand und auf der Schuhspitze ein russisches Kirchlein balancierend, ist der Künstler selbst, der dem Dichter seine Referenz erweist. Ja, Gogol und Chagall passen wunderbar zusammen – man lese nur Tschitschikovs Eindrücke beim Rundgang durch die Stadt N.N.:

    "Er kam vorbei an Aushängeschildern, die vom Regen fast ausgewaschen waren, mit Brezeln und Stiefeln, ... auch einen Laden mit Mützen und Hüten gab es und der Aufschrift 'Wassili Fjodorow, Ausländer'; an einer anderen Stelle war ein Billardtisch aufgemalt mit zwei Spielern in Fräcken, wie sie bei uns Theatergäste tragen, die im letzten Akt auf die Bühne steigen. Die Billardspieler waren mit zielenden Queues dargestellt, die Arme leicht nach hinten gebogen und die Beine schräg gestellt, als hätten sie soeben einen Entrechat vollführt."

    Während sein Zeitgenosse Puschkin mit der Forderung nach "Genauigkeit und Kürze" eine der realistischen Magistralen der russischen Prosa begründete, eröffnete Gogol die verzweigten Labyrinthe des Absurden und der überbordenden Phantasie. Ist Gogol aber nicht auch ein satirischer Gesellschaftskritiker gewesen, wie die sowjetische Literaturwissenschaft immer betonte, oder ein komischer Autor, wie Thomas Mann ihn sah? Heute hält man es wohl eher mit Vladimir Nabokov, für den Gogol in erster Linie ein Sprachkünstler war, der "Leben aus Nichts", aus einem Nebensatz, zu erschaffen verstand.

    " .. der Tag war weder klar noch düster, sondern irgendwie hellgrau, eine Farbe, wie sie nur die alten Uniformen der Garnisonssoldaten haben, dieser, nebenbei bemerkt, friedlichen Truppen, die allerdings an Sonntagen selten nüchtern sind."

    Den Einbrüchen des Irrealen öffnet Gogol in seinen "Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen" vollends Tür und Tor. Peter Urban hat die Novelle für die Friedenauer Presse neu übersetzt, wo sie mit vier Tuschzeichnungen von Horst Hussel zu Gogols Geburtstag erscheint. Wie immer wandelt der Übersetzer auf dem schmalstmöglichen Grat zwischen dem Russischen und dem Deutschen, was zusammen mit seinem beherzten Zugriff auf die Deftigkeiten des Originals einen überzeugenden Gogol-Sound ergibt. Genau den vermisst man bei der 50er-Jahre-Übersetzung der "Aufzeichnungen" im 2008 erschienenen Insel Taschenbuch "Die großen Erzählungen". Auch Übersetzungen veralten, das kann man ihren Schöpfern nicht vorwerfen. Wohl aber korrigierende Eingriffe: Wenn Gogol schreibt, in einem Haus säßen die Beamten wie die Hunde, einer auf dem anderen – hat man sie hier anstandsdamenhaft in "Heringe" verwandelt.

    Die "Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen", die Gogol 1835 in seinem Erzählband "Arabesken" veröffentlichte, sind die Geschichte einer Geisteskrankheit. Der Held, ein Kanzleischreiber, erlebt zuerst sprechende und korrespondierende Hunde, von denen er etwas über seine unerreichbare Angebetete, die Tochter seines Vorgesetzten, zu erfahren gedenkt. Schließlich glaubt er, der spanische König zu sein. Nachdem er als solcher auf seiner Dienststelle erschienen ist, kommt er ins Irrenhaus, wo er sich am spanischen Hof dünkt. Bei aller Lust am Absurden – der Fisch, der in England auftaucht und zwei Worte in einer unbekannten Sprache sagt, die beiden Kühe, die in einen Laden kommen und ein Pfund Tee verlangen – schafft Gogol es doch, tiefes Mitleid für den Kranken zu wecken. Auch wenn er seine Peiniger im Irrenhaus für spanische Granden hält – die Qualen, die sie ihm bereiten, kann er durchaus klar benennen.

    Gogol selbst war ein psychischer Grenzgänger – man würde ihn heute wohl als "manisch-depressiv" bezeichnen. Den sterbenden Autor malträtierten die Ärzte mit Schröpfköpfen, Wassergüssen und hochgiftigen Arzneien. Im grandiosen und erschütternden letzten Tagebucheintrag seines wahnsinnigen Helden nahm Gogol sein eigenes Martyrium vorweg.

    "Gott! Was machen sie mit mir! Sie gießen mir kaltes Wasser auf den Kopf! ... Was habe ich ihnen getan? Warum quälen sie mich? ... Ich habe nicht die Kraft, ich kann alle ihre Qualen nicht aushalten, mein Kopf brennt und vor mir dreht sich alles. Rettet mich! Nehmt mich mit! Gebt mir eine Troika mit Pferden, schnell wie der Wirbelsturm! Setz dich, mein Kutscher, klinge, mein Glöckchen, schwingt euch auf, Rosse, und tragt mich fort aus dieser Welt! ... Da wölbt sich vor mir der Himmel; ein Sternlein blinkt in der Ferne; grau breitet sich der Nebel unter den Füßen; ... auf der einen Seite das Meer, auf der anderen Italien; da sieht man auch russische Katen. ... Sitzt dort nicht meine Mutter vor dem Fenster? Mutterherz, rette deinen armen Sohn! Lass eine Träne fallen auf seinen kranken Kopf! Schau, wie sie ihn quälen! Drück an die Brust dein armes Waisenkind! Für ihn ist kein Platz auf der Erde! man verfolgt ihn! Mutterherz! Erbarme dich deines kranken Kindes! ... Und wisst ihr, dass der Dej von Algier mitten unter der Nase eine Knolle hat?"

    Vorgestellt wurden:

    Nikolai Gogol. Tote Seelen. Aus dem Russischen neu übersetzt von Vera Bischitzky. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2009.

    Nikolai Gogol. Die toten Seelen. Aus dem Russischen übersetzt von Wolfgang Kasack. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2009.

    Nikolaj Gogol. Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen. Neu übersetzt und herausgegeben von Peter Urban. Mit vier Tuschzeichnungen von Horst Hussel. Friedenauer Presse, Berlin 2009.

    Nikolai Gogol. Die großen Erzählungen. Insel Verlag, Frankfurt 2008. (1957 erstmals im Aufbau Verlag Berlin erschienen, in der Übersetzung von Ruth Fritze-Hanschmann)