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Zum 70. Geburtstag des albanischen Autors Ismail Kadaré

Der albanische Schriftsteller Ismail Kadaré wurde 1936 in der südalbanischen Stadt Gjirokastra, nahe der griechischen Grenze geboren. Über seine Kindheit und Jugend in Gjirokastra hat Kadaré sein schönstes Buch, den Roman "Chronik in Stein" geschrieben. An diesem Samstag wird der Autor 70 Jahre alt.

VonAgnes Hüfner | 25.01.2006
    Nach der Schulzeit in Gjirokastra studierte er in Tirana und am Gorki-Institut in Moskau Literaturwissenschaft. Er begann früh zu schreiben, machte sich einen Namen als Lyriker, veröffentlichte mit Ende Zwanzig dann den Roman "Der General der toten Armee". Er wurde in Frankreich mit Marcello Mastroiani und Michel Piccoli verfilmt und machte den Autor international bekannt.

    Ismail Kadaré gilt als der Rhapsode seines Landes. In zahlreichen Romanen beschrieb er die Geschichte des albanischen Volkes, das der jahrhundertelangen Herrschaft der Osmanen ebenso widerstand wie den europäischen Besatzern in der Zeit der beiden Weltkriege. 1990 verließ der Autor, enttäuscht über die ausbleibende Demokratisierung, vorübergehend das Land und ging nach Frankreich. Heute lebt er in Tirana und in Paris. Kadaré ist vielfach geehrt worden, in Albanien wie im Ausland. Im vergangenen Jahr erhielt er als Erster den neu geschaffenen internationalen Booker-Preis.

    Bei uns erschien zuletzt der Roman "Das verflixte Jahr". Kadaré beschreibt darin die Zeit vor und während des Ersten Weltkriegs, als die europäischen Großmächte sich anschickten, Albanien unter sich aufzuteilen, die griechischen, montenegrischen, serbischen Nachbarn sich in den Krieg einmischten und türkische Banden die Dörfer niederbrannten. Die Helden des Romans, eine Handvoll Bauernburschen, machen sich auf, die Eindringliche zu vertreiben, doch sie irren ziellos zwischen den unbeständigen Fronten umher. Albanien, schreibt der Autor, glich "einem Tollhaus".

    " Das ist eine etwas groteske Geschichte. Die Befreiung des Landes wurde bei uns stets überschwänglich und pathetisch verherrlich. Ich wollte in meinem Roman ein anderes, weniger heroisches Bild entwerfen, eines, das der Realität näher kommt und das literarisch anspruchsvoller ist. Deshalb beschreibe ich das Chaos, das damals herrschte, die verworrene, beinahe phantasmagorische Situation, in der weder die jungen Freischärler, noch die fremden Besatzer, mitsamt ihren Geheimdiensten und Berichterstattern begreifen, was geschieht. Wie in einem Kaleidoskop lasse ich die verschiedenen Parteiungen aufeinander stoßen, vor einander zurückweichen, sich in undurchschaubare Kämpfe verwickeln, einander umbringen. Kurz gesagt, mich interessierte dieses wirre Getümmel, das Tragikomische der Situation."

    Am Anfang des Romans ist von einem Kometen die Rede, der "jenem Jahr von Beginn an seinen unheilvollen Stempel aufgedrückt" habe, am Ende verblasst der Komet: "das Jahr ging traurig zu Ende". Die Helden sterben. Während der Autor schildert, auf welche bestialische Weise die Freischärler umgebracht werden, kursieren im Dorf die unterschiedlichsten Gerüchte über das Schicksal der Jungen. Hoffen und Bangen halten einander die Waage. Während die Greise, von den Nöten der Gegenwart ungerührt, sich mit der Feststellung begnügen: "Gott sei Dank, Albanien ist wenigstens noch da", hadern die anderen Dorfbewohner mit der Ungewissheit.

    "Seltsamerweise hoffte man noch stärker auf ihre Rückkehr, als der Himmel Massen von Schnee herabwarf und die Wege unpassierbar wurden. So ist es, wenn man auf jemand wartet, der niemals wiederkommen wird, sagte Alush Gjatis Schwiegermuter. Man überschüttete sie mit Verwünschungen, und nicht nur einmal verfluchte sie sich selbst, doch von ihrer Schwarzseherei konnte sie trotzdem nicht lassen. ‚Es überkommt mich', sagte sie, ‚und dann gibt es kein Halten mehr. Mögen meine Lippen bald im Grab verdorren'."

    Der Komet, der das Unheil ankündigte, tauchte, wie die Astronomen bestätigen, im Jahr 1914 tatsächlich am Himmel auf. Er war so real wie das Kriegsgeschehen in Albanien. Und ebenso wahr wie die Prophezeiung der alten Frau. Immer wieder verknüpft der Autor historische Fakten mit dem, was er die "verborgene Geschichte" des Volkes nennt, mit den Vorhersagen und Weissagungen derer, die das zweite Gesicht haben, mit der Hellsichtigkeit der Balladen, Legenden, Märchen. Ihnen vertraut der Autor mehr als der Geschichtsschreibung.
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    " Ich habe oft Legenden benutzt. Denn die Legenden sind sehr viel freier als die Geschichte. Sie enthalten ewige Wahrheiten, unterliegen nicht den flüchtigen Maßgaben der Mächtigen, gehen der von der Politik bedingten Realität nicht auf den Leim."

    Kaum, dass die Handlung beginnt, werden Kadarés Helden von Ahnungen und Vorzeichen befallen. So empfindet der türkische Heerführer Tursun Pascha beim ersten Anblick der Festung Kruja, die er im Jahr 1450 erobern will, eine "tiefe Schwermut": "alles an ihr", heißt es, "wirkte unheilvoll". Tursun Pascha wird vor den Mauern der Festung sterben, die monatelange Belagerung vergeblich gewesen sein. Ähnlich beginnt Kadarés erster Roman "Der General der toten Armee". Zwanzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Truppen Mussolinis Albanien besetzt hatten, soll der General im Auftrag der italienischen Regierung die Kriegstoten ausgraben und die Gebeine in die Heimat überführen. Vor der Landung blickt er aus dem Fernster.

    Lange Zeit hatte er während des Flugs auf die bedrohlich wirkende Bergwelt hinuntergeschaut. Die schroffen Spitzen schienen jeden Augenblick den Bauch der Maschine aufschlitzen zu wollen. Schräge Flächen allerorts. Unten huschten im Neben düstere Plateaus vorbei. ... Von dem wilden Toben dort drunten im Nebel, den gleichsam vom Schmerz zerklüfteten Bergrücken ging nichts als Feindschaft aus.

    " Man hat bei uns kritisiert, dass es in dem Roman immerzu regnet. Auch ausländische Journalisten fragten, warum soviel Regen, soviel Tristesse? Man warf mir vor, ich negierte die Verheißungen des Sozialismus, das Versprechen einer gerechten und glücklichen Zukunft, die anderen argumentierten, meine Sicht der Welt entstelle die Realität, Albanien sei doch ein Land voll Sonne und Wärme. Was hätte ich erwidern können?. Ich wich aus."

    Der Tod ist im Werk Kadarés allgegenwärtig. Der Tod, meint der Autor, ein Verehrer des Aischylos und der Dramen Shakespeares, stehe am Anfang aller Literatur. Die erste Theaterfigur sei ein Toter gewesen, so wie er in Wirklichkeit daliege, stumm, starr, eine leblose Maske, aber gegenwärtig. Er habe selbst noch die Klageweiber erlebt, die für Geld den Toten beweinen. Sie seien ihm vorgekommen wie der Chor in den griechischen Tragödien. Diese Zeremonien hätten ihn ebenso beeindruckt wie die in seiner Jugend noch lebendige Tradition der Blutrache.

    Zum ersten Mal wird das Thema der Blutrache im Roman "Der General der toten Armee" erwähnt, Jahre später beschreibt Kadaré in dem Roman "Der zerrissene April", wie ein Ehepaar aus der Hauptstadt in die Berge Nordalbaniens aufbricht, weil der Mann, im Beruf Schriftsteller, den Legenden, mit denen er seine Literatur ausschmückt, im Leben begegnen will. Tatsächlich treffen die Großstädter bei ihrer Expedition in die sagenhafte Vergangenheit einen jungen Bauern, der dem Gesetz der Blutrache gehorcht. Wieder verquickt der Autor Gegenwart und Vergangenheit, wieder erweist sich die der Mythos als Quelle seiner Inspiration.
    " In Albanien war das eine ziemlich traurige Wirklichkeit. Ebenso war es in Montenegro, Sizilien, Korsika, Sardinien. Es gibt eine ganze Region, in der das Gesetz der Blutrache anders als im übrigen Europa bis ins 20. Jahrhundert seine Schrecken bewahrte. Niemand konnte der Vorschrift entgehen, ihr musste blind gehorcht werden. Wie der Geist des ermordeten Vaters von Hamlet verpflichtete das Gesetz die Mitglieder einer Familie, Ehrverletzungen, den Bruch eines Tabus, Schuld durch die Bluttat zu rächen. Der Ursprung dieses Gebots liegt in der Antike. Wir finden das Motiv der Rache in der "Orestie" des Aischylos, bei Euripides, bei Sophokles. Es taucht in der römischen, der germanischen, in der ganzen westlichen Literatur auf und schließlich im elisabethanischen Drama. Dieses uralte, noch in meiner Zeit gültige Gesetz, hat mich fasziniert, diese menschliche Tragödie. Und so schrieb ich sie auf."

    Kadaré aufgewachsen mit den Erzählungen, die in seiner Familie wie überall im Ort von Generation zu Generation überliefert wurden, berichtet, dass er, ein Kind noch, unter den Büchern seines Großvaters "Macbeth" und "Hamlet" entdeckte und den Shakespeare sofort las, weil im Personenverzeichnis ein Geist vorkam, dass er sich danach und nicht mehr klopfenden Herzens dem historischen Roman, zum Beispiel Tolstoi, zuwandte, dessen "Anna Karenina" ihm aber keinerlei Interesse entlockte: das Buch enthielt nichts Geheimnisvolles.
    1971 erscheint in Albanien der Roman "Chronik in Stein", gut zehn Jahre später die französische Übersetzung, Lizenzausgaben in aller Welt folgen. "Chronik in Stein" ist die autobiographisch gefärbte Geschichte der Stadt Gjirokastra, Kadarés Geburtsort, während der Zeit des Zweiten Weltkriegs, als die italienischen Faschisten das Land besetzt hielten. Die Geschichte wird aus der Perspektive eines Kindes erzählt, das die Fremden ebenso wie das Nächstliegende staunend betrachtet. Am Anfang beobachtet der Junge, wie der Regen vom Dach aufgefangen und in die Zisterne des Hauses geleitet wird.

    Just in dem Moment, in dem sie sich anschickten, vom Dach auf die Erde hinabzuhüpfen, fanden sich die Regentropfen unversehens in dem engen Rohr wieder, gemeinsam mit Tausenden und Abertausenden von Gefährten, die angstvoll fragten: ‚Wohin sind wir da nur geraten, wo bringt man uns hin?'. Und plötzlich, ehe sie die wahnsinnige Fahrt im Rohr noch recht verkraftet hatten, stürzten sie in ein tiefes, finsteres unterirdisches Gefängnis, die große Zisterne unseres Hauses.

    " Es gibt bei uns, wie überall auf dem Balkan, bei den Griechen, den Südslawen Hunderte von alten Balladen, in denen Naturerscheinungen und leblose Dinge wie beseelte Wesen auftreten. Auch das übrigens eine sehr, sehr alte Tradition. Diese Tradition habe ich in die Gegenwart übertragen."

    Zweimal, am Anfang und am Ende des Roman greift der Autor in die Erzählung ein, um der Stadt ein Denkmal zu setzen:

    Es war dies eine seltsame Stadt, die anmutete, als sei sie in einer Winternacht wie ein vorzeitliches Wesen plötzlich im Tal aufgetaucht und habe dann unter großen Mühen empor klimmend, sich an den Abhang des Berges geschmiegt. Alles an dieser Stadt war alt und steinern, die Straßen und Brunnen ebenso wie die Dächer ihrer mächtigen jahrhundertealten Häuser, die mit grauen, riesigen Schuppen gleichenden Steinplatten gedeckt waren. Schwer zu glauben, dass sich unter diesen festen Panzern das weiche Fleisch des Lebens regte und erneuerte.

    "Ich wollte, ein episches Gemälde dieser Stadt entwerfen, alles das zusammenfügen, was ihre Geschichte und die ihrer Bewohner ausmacht, Trauer, Leid und Freude gleichermaßen erfassen. Ich denke, dass der Roman über diese provinzielle, sehr provinzielle albanische Stadt eben deshalb, weil das Mit- und Nebeneinander von Tragik und Komik der menschlichen Natur entspricht, in aller Welt, von Japan bis in die USA, seine Leser fand, verstanden und geliebt wurde. Ich glaube, die Globalisierung begann mit der Literatur. "