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Zum 70. Jahrestag des Weltkriegsendes
"Platz im Kreise der westlichen Demokratien gefunden"

Da nichts auf Dauer sicher sei, gelte es auch noch heute, die "dämonischen Kräfte zu bekämpfen", wie der Historiker Heinrich August Winkler sie in aktuellen "Ausbrüchen der Fremdenfeindschaft" sieht. Er hat heute vor dem Bundestag eine klassische geschichtspolitische Ansprache gehalten, die trotz aller Bezüge zur bedrohlichen Aktualität keine neuen Akzente setzte.

Von Norbert Seitz | 08.05.2015
    Der Historiker Heinrich August Winkler spricht am 08.05.2015 in Berlin, während einer Gedenkstunde im Deutschen Bundestag zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren.
    Der Historiker Heinrich August Winkler spricht am 08.05.2015 in Berlin, während einer Gedenkstunde im Deutschen Bundestag zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren. (picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm)
    "In der deutschen Geschichte gibt es keine tiefere Zäsur als den Tag, dessen siebzigste Wiederkehr wir heute gedenken, den 8.Mai 1945."
    Heinrich August Winkler, in Ostpreußen geborener Historiker, gedenkt dieses Tages, in dem er zunächst Deutschlands Irr- und Umwege auf der langen Strecke gen Westen skizziert. Lange vor Hitlers Machtergreifung sei Deutschland auf die anti-westliche Bahn geraten. Zum Beispiel mit den Ideen von 1914, die gegen die Ideale der französischen Revolution gerichtet waren und das Militär, die Volksgemeinschaft und den deutschen Sozialismus anbeteten. Hernach durch das Versagen der Eliten während der Weimarer Republik, die von seinen Feinden von rechts als "undeutsches System" empfunden worden sei.
    "Die Wahlerfolge der Nationalsozialisten in der Endphase der Weimarer Republik sind ohne die lange Vorgeschichte der deutschen Vorbehalte gegenüber der westlichen Demokratie nicht zu erklären."
    Winkler beschreibt, wie der "Mythos" des Nationalen sich über die "Vernunft" von Recht und Moral hinweggesetzt habe. Da nichts auf Dauer sicher sei, gelte es auch noch heute, die "dämonischen Kräfte zu bekämpfen", wie er sie in aktuellen Konflikten auf dem Plan sieht:
    "Angesichts von Ausbrüchen der Fremdenfeindschaft, wie wir sie in Deutschland in den letzten Monaten erlebt haben, und antisemitischer Hetze und Gewalt hier und in anderen europäischen Ländern (...) sie mahnen uns (...) die eigentliche Lehre der deutschen Geschichte der Jahre 1933 bis 1945 zu beherzigen: die Verpflichtung, unter allen Umständen die Unantastbarkeit der Würde jedes einzelnen Menschen zu achten. Applaus!"
    Deutschland habe eine zweite Chance erhalten
    Als sogenannter "postklassischer Nationalstaat" habe das gesamte Deutschland nach dem 3. Oktober 1990 seinen "zweite Chance" erhalten und Platz im Kreise der westlichen Demokratien gefunden. Doch stellt dieses glückliche Jahrhundertdatum für Winkler keinen Grund dar, die Beschäftigung mit der Vergangenheit schleifen zu lassen. So erinnert er an europäische Orte, von Oradour bis Distomo, in denen Nazi-Massaker stattfanden und die niemals in Vergessenheit geraten dürften.
    "Unter eine solche Geschichte lässt sich kein Schlussstrich ziehen." (Applaus)
    Dennoch warnt der Historiker im politisch vielleicht stärksten Teil seiner Rede vor einer "tagespolitischen Instrumentalisierung der Geschichte".
    "Die Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten sind kein Argument, um ein Beiseitestehen Deutschlands in Fällen zu begründen, wo es zwingende Gründe gibt, zusammen mit anderen Staaten, im Sinne einer "responsibility to protect", eine Schutzverantwortung der Völkergemeinschaft tätig zu werden."
    Tiefe Zäsur 2014
    Nicht alle Hoffnungen von 1990 hätten sich erfüllt. So hebt Winkler den 21. November 1990 hervor, als 34 Staaten der KSZE die Charta von Paris unterzeichneten und sich dabei auf friedliche Beilegung von Konflikten verpflichteten. Doch dann kam die tiefe Zäsur des Krisenjahrs 2014.
    "Durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim ist die Gültigkeit der Charta von Paris radikal infrage gestellt und mit ihr die europäische Friedensordnung. (...) Nie wieder dürfen Polen und die baltischen Republiken den Eindruck gewinnen, als werde zwischen Berlin und Moskau irgendetwas über ihre Köpfe und auf ihre Kosten entschieden."
    So hat Heinrich August Winkler heute vor dem Bundestag und Bundesrat eine klassische geschichtspolitische Ansprache gehalten, die trotz aller Bezüge zur bedrohlichen Aktualität keine neuen Akzente setzte. Sicher hätte man gerne mehr zu grundsätzlichen Fragen der Erinnerungskultur gehört. Zum Beispiel: Was es für die heutige Sicht der Dinge bedeutet, wenn sich nach dem Aussterben der letzten Zeitzeugen eine Historisierung des Nationalsozialismus kaum mehr aufhalten lässt?