Dienstag, 21. Mai 2024

Archiv


Zum 75. Geburtstag von Christa Wolf

Am 18. März feierte Christa Wolf ihren 75. Geburtstag. Die Feuilletons nahmen ihn zum Anlass vielfältiger Würdigung, die Berliner Akademie der Künste widmet ihr eine Ausstellung, und der Luchterhand Verlag hat unter dem Titel "Christa Wolf - Eine Biographie in Bildern und Texten" einen sorgsam edierten Geburtstagsband herausgebracht. Darin findet sich unter der Jahreszahl 1966 eine Selbstverständigung der Schriftstellerin, die man auch schon in ihrem letzten Werk "Ein Tag im Jahr" lesen konnte.

Von Manfred Jäger | 19.04.2004
    Warme Dusche, kalte Dusche, irgendeine gesummte Melodie. Der Spiegel. Ich werde heute Mittag Make-up auflegen, eine Maske, weil ich keine andere habe, aber vielleicht ist auch das eine Selbsttäuschung. Ich prüfe mich, aber das Doppelleben, das ich in den letzten Wochen manchmal führte - dass ich auf die äußeren Ereignisse, auf Worte, Nachrichten, mechanisch reagierte, dass aber in mir drin ein ganz anderes, tief verzweifeltes Leben abrollte, immer im Kreis lief und anscheinend nicht zu bremsen war - das ist wohl vorbei. Okkupiert bin ich vielleicht noch, ja, aber nicht mehr besessen. Nicht so wichtig nehmen, denke ich, wer sagt denn, dass ausgerechnet ich diesen unmäßigen Anspruch an mich stellen und ihn auch erfüllen muss? Bescheidener sein. Bescheideneres gut machen...

    Jedenfalls beginne ich zu ahnen, wie grundsätzlich der Unterschied im Denken der Generation von Anna Seghers und unserer Generation ist und sein muss: dort die klassische Klarheit, allerdings auch Starre, hier die bewegte, ungeklärte Unruhe. Alles ist im Fluss, wir fließen mit, suchen uns hier zu halten, dann da, immer wieder reißen die Wurzeln ab, wir geben erst uns die Schuld, dann anderen, merken, dass beides nicht richtig ist, und kommen doch, wenn wir ehrlich und ein bisschen empfindlich sind, nahe an den Rand der Verzweiflung. Mir wurde bewusst, dass die Anna meine "Christa T."-Geschichte rundheraus ablehnen müsste.

    Nachdem Christa Wolf 1959 als junge Redakteurin Anna Seghers kennen gelernt hat, hat sie sich an der damals bereits weltberühmten Schriftstellerin und linientreuen Genossin abgearbeitet. Der Aufbau Verlag hat jetzt unter dem Titel "Das dicht besetzte Leben" den Briefwechsel zwischen Christa Wolf und Anna Seghers herausgebracht. Bei Luchterhand erschien gleichzeitig ein anderer, weit intimerer Briefwechsel zwischen Christa Wolf und der bereits 1986 verstorbenen Ärztin und Schriftstellerin Charlotte Wolff, die in ihrem Leben allenfalls der Linie des Eigensinns treu geblieben ist. Manfred Jäger hat beide Bände gelesen.


    Im Jahre 1983 bekommt Christa Wolf zufällig die Autobiographie einer ihr bis dahin unbekannten Frau in die Hand. Sie heißt Charlotte Wolff und schreibt sich im Unterschied zu ihr mit zwei Eff. In dem Buch mit dem langen deutschen Titel "Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit" kommt Christa Wolf ausführlich vor, weil ihre Erzählung "Kein Ort nirgends" die ferne Leserin in ihrem Londoner Exil tief beeindruckt hat. Seit ihren jungen Jahren interessiert sie sich für die frühe deutsche Romantik, vor allem für Karoline von Günderrode, die in dem poetischen Gleichnis für das Scheitern der Utopie auf Heinrich von Kleist trifft. Das Lektüre-Erlebnis begeistert sie auch deshalb, weil sie Belegstellen für eine geheimnisvolle Seelenverwandtschaft mit der Schriftstellerin in der DDR findet. Nachdem Christa Wolf brieflich Kontakt hergestellt hat, entsteht rasch eine erstaunliche Vertrautheit zwischen den beiden Frauen, die die Namensähnlichkeit als gutes Omen auffassen, aber doch auch einen Altersunterschied von über 30 Jahre überwinden müssen.

    Die deutsche Jüdin Charlotte Wolff ist 86 Jahre alt, als die Autorin mit denselben Initialen die Verbindung mit ihr sucht und findet. Im Mai 1933 verließ die Ärztin Berlin. Sie ging zunächst nach Paris und 1938 nach London. Ihre Bücher befassen sich mit der Handlesekunst, mit weiblicher Homosexualität und mit Bisexualität. Die Außenseiterin bleibt weltoffen und neugierig. Sie schottet sich nicht rationalistisch ab gegen die merkwürdige Weisheit, für die ein Wahrheitsbeweis schwer zu erbringen ist. Sie liest den Leuten aus der Hand: die Intellektuelle als Wahrsagerin. Künstler und Schriftsteller seien prädestinierte Beobachter des Ungewöhnlichen und Unheimlichen, es lohne sich, ihre "Visionen" und ihren Aberglauben ernst zu nehmen. Auch die Entdeckungen der Wissenschaft hätten mehr mit surrealistischer Denkweise als mit eingefahrener Logik zu tun. Christa Wolf, die die Fesseln marxistischer Parteiideologie abgestreift hat und selber für die Autonomie des künstlerischen Erkenntnisgewinns streitet, sympathisiert mit den Botschaften der älteren Freundin. Im Februar 1984 teilt sie ihr mit:

    In den letzten Jahren habe ich, glaube ich, einen großen Schritt in Richtung auf innere Freiheit, Unabhängigkeit, Autonomie getan.

    Aber der große Schritt weg "von Ideologien und falschen Idealen und von den dazugehörigen Institutionen" hebt die Differenz zu Charlotte Wolffs offener pragmatischer Lebenshaltung nicht auf. Sie bewundert an der fernen und ihr doch so nahen Zeitgenossin eine für sie selbst aufgrund ihrer frühen Prägungen und der weiterwirkenden "Kindheitsmuster" unerreichbare Unabhängigkeit. Die ersehnte "persönliche Begegnung" kommt nicht zustande. Die alte Dame, die in der British Library an ihrer bislang noch immer nicht ins Deutsche übersetzten Monographie über den berühmten Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld arbeitet und die sich in der Bibliothek wohler fühlt als in irgendeiner ihrer Wohnungen, kann nicht mehr reisen, und Christa Wolf, ohnehin ungern unterwegs, scheut davor zurück, nach London zu kommen. Dennoch wird der Leser Zeuge einer erstaunlichen Vertrautheit, eines wechselseitigen Interesses am Alltag, auch am Leben der Kinder und Enkelkinder.

    Es fasziniert der knappe Altersstil der Emigrantin, die ein unverwechselbares Deutsch schreibt, in das englische Wörter wie selbstverständlich eingelagert werden. Als erfahrene Ärztin und Psychologin findet sie die Balance zwischen Offenheit und Taktgefühl. Sehr zurückhaltend versucht sie eine Art liebevoller Ferndiagnose, wenn die Rede auf prekäre Begrenztheiten kommt, auf Selbstbetrug und Selbstschonung. Denn einander alles zu sagen und zu schreiben, wäre zuviel verlangt. Vor allem bei Christa Wolf, die so oft über die "Grenzen des Sagbaren" nachgedacht hat, bleibt ein innerer Vorbehalt spürbar, der nicht vordergründig politisch motiviert ist, denn die Briefe wurden zumeist an der DDR-Postzensur vorbei von West-Berlin aus abgeschickt. Die Jüngere beklagt den Stillstand und die geistige Öde in ihrer Gesellschaft und staunt ungläubig über die Munterkeit der greisen Brieffreundin, die sogar feststellt, das Exil sei ihr großartig bekommen, und die ihre Krankheit als bloße Erschöpfung abtut, obwohl sie nicht überhört, wenn ihre Freunde sagen, es sei später, als die denke. Sie stirbt 1986 an Herzthrombose.

    Zufällig kam jetzt zeitgleich die Korrespondenz zwischen Christa Wolf und Anna Seghers heraus, der bewunderten, auch etwa drei Jahrzehnte älteren großen Schriftstellerin. Ein Vergleich ist aufschlussreich, denn die Seghers bleibt stets wage, vorsichtig, unkonkret, will sich schriftlich auf nichts festlegen. Sie verhält sich freundlich, fürsorglich und tröstend gegenüber Christa Wolf und ist zugleich voller Misstrauen allen gegenüber. Weil sie weiß, wie es in der Welt läuft, auch in der "realsozialistischen", wundert sie sich, dass die Jüngeren die Bedrängnisse so ernst nehmen. 1968, als der "Prager Frühling" Unruhe bringt und Christa Wolfs Roman "Nachdenken über Christa T." attackiert wird, tadelt sie die Angegriffenen wegen ihrer Empfindlichkeit und bleibt in der Sache selbst dennoch ganz allgemein:

    Ich habe Dir x-mal mündlich gesagt, was ich jetzt schriftlich wiederhole: Ich kann und kann nicht verstehen, warum Du, was man über Deine Arbeit sagt, immer so schrecklich wichtig nimmst. Das heißt, wichtig ist nicht das richtige Wort. Es ist schon gut, in der richtigen Art auf andere zu hören. Du aber, sei mir nicht bös, lässt es Dir ans Herz gehen. Meistens ist es für den Kopf gedacht, was man sagt. Ich bitte Dich, nimmt doch alles richtig auf, Gutes und Schlechtes, Richtiges und Falsches.

    Da der schmale postalische Austausch aus immerhin 22 Jahren nur 57 Druckseiten füllt, wird das Bändchen mit Interviews und Essays aufgefüllt, in denen Christa Wolf den "fortgesetzten Versuch" unternahm, die Sphinx zu enträtseln. Es ist niemandem gelungen, auch Christa Wolf nicht. Im Vorwort zu einem Bildband hat sie das - jenseits der Beschönigungsprosa früherer Zeiten - 1992 nüchtern eingeräumt. Auch das berühmte Lächeln der schönen Anna war eins ihrer vielen Verstecke. Sie hat es gleichsam auf Knopfdruck einschalten können. "Ihre Augen hatten daran nicht teil", schreibt Christa Wolf ungewohnt kühl, und ihr Fazit lautet:

    Wir wissen nicht alles über sie, längst nicht alles über ihren verborgenen Motive und Handlungen, und wir werden es nie erfahren...

    Nur unterm Siegel der Verschwiegenheit hat sie manchmal der neugierigen jungen Kollegin von dem schönen großbürgerlichen Ambiente ihrer frühen Jahre erzählt. Eine Art Staatsgeheimnis auch das - war man doch eingetreten in die verschworene Gemeinschaft der Kommunisten, diszipliniert und treu und bereit, den Preis für eine unwiderrufliche Entscheidung zu zahlen. Wie frei wirkt da die fröhliche Unbefangenheit der fast gleichaltrigen Charlotte Wolff, die sich gern als "internationale Jüdin mit britischem Pass" bezeichnete! Sie schrieb an die Freundin in Ostberlin:

    Ich bin niemals in einer Organisation irgendeiner Art gewesen. (...) Ich bin ich - nicht kategorisierbar.

    Manfred Jäger über den Briefwechsel "Christa Wolf - Charlotte Wolff: Ja, unsere Kreise berühren sich". Er ist erschienen im Luchterhand Literaturverlag in München, hat 159 Seiten und kostet 15 Euro.

    Das Taschenbuch "Christa Wolf - Anna Seghers: Das dicht besetzte Leben
    Briefe, Gespräche und Essays" ist im Berliner Aufbau Verlag erschienen, 236 Seiten, 7,95 Euro.