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Zum 80. Geburtstag

"Das sind Texte, die auf Geschichte warten können. Vor zehn Jahren habe ich nicht für möglich gehalten, dass dieser Satz noch gelten könnte. Heute kann ich das, und zwar mit Wut im Bauch und mit relativer Sicherheit und mit schelmischer Heiterkeit: Die sind nicht weg von dem Problem, das Müller artikuliert hat, die heute glauben, ihn hinter sich gelassen zu haben – davon bin ich heute mehr überzeugt als vor zehn Jahren." - Frank Hörnigk.

Von Michael Opitz | 07.01.2009
    Vor fast zehn Jahren, im Frühjahr 1999, erschien der erste Band der von Frank Hörnigk, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin, herausgegebenen Heiner Müller-Werkausgabe. Mit dem Erscheinen der Gedichte des 1929 geborenen Autors war ein Anfang gemacht, nachdem der in den Jahren zuvor bereits angekündigte erste Band immer wieder verschoben wurde. Die Veröffentlichung von Müllers Gedichten – inzwischen ist die fünfte Auflage des Bandes erschienen – war eine kleine Sensation. Man begegnet einem schwachen, verletzbaren, Emotionen und Gefühle zeigenden Menschen. Wie in dem Gedicht "Theatertod", das am 9. Dezember 1994 entstanden ist, und das Müller im Krankenhaus liest, nachdem man ihm die Speiseröhre entfernte. Er kann nur flüstern, weil eine Stimmlippe durch die Operation gelähmt wurde:

    "THEATERTOD
    Leeres Theater. Auf der Bühne stirbt
    Ein Spieler nach den Regeln seiner Kunst
    Den Dolch im Nacken. Ausgerast die Brunst
    Ein letztes Solo, das um Beifall wirbt
    Und keine Hand. In einer Loge, leer
    Wie das Theater, ein vergessenes Kleid.
    Die Seide flüstert, was der Spieler schreit.
    Die Seide färbt sich rot, das Kleid wird schwer
    Vom Blut des Spielens, das im Tod entweicht.
    Im Glanz der Lüster, der die Szene bleicht
    Trinkt das vergessne Kleid die Adern leer
    Dem Sterbenden, der nur sich selbst noch gleicht
    Nicht Lust noch Schrecken der Verwandlung mehr
    Sein Blut ein Farbfleck ohne Wiederkehr.
    "

    Der Dramatiker Heiner Müller, bekannt für seine kalte und schonungslose Darstellung der geschichtlichen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts, legt in seinen lyrischen Texten, insbesondere in den späten, nach 1989 entstandenen, seine Maske ab.

    "Die größte Überraschung [ ... ] war die Entdeckung eines lyrischen Werkes, das weit qualitativ und quantitativ über den Status des Bekannten hinausging. [ ... ] Das erweitert dieses Werk ganz entschieden, [ ... ] weil in diesem Werk die Dimension eines verletzlichen Heiner Müller nach vorne trat."

    Nun liegt mit den Gesprächsbänden, die den Zeitraum von 1965 bis zu Müllers Tod im Jahr 1995 umfassen, die Werkausgabe der Schriften Heiner Müllers komplett vor. Ergänzt werden die 12 Bände nur noch durch einen Registerband. Frank Hörnigk begann mit der Editionsarbeit an der Ausgabe von Müllers Schriften – zunächst war sie Genia Schulz anvertraut – noch bevor die Akademie der Künste als späterer Nachlasseigner ein Findbuch erstellt hatte. Im Sommer 1998, als Hörnigk den Gedichtband edierte, lagerte Müllers Nachlass in einer Berliner Privatbank in der Carmerstraße am Savignyplatz.

    "Ich war ein paar Monate lang Schlüsselverfüger in einer Privatbank. Es war wie im Film. Also, ich bin da in diese Bank reingekommen, dann riefen die den Bankdirektor, und dann gingen wir beide, jeder mit seinem Schlüssel, in den Tresorraum, und dann holte ich in seinem Beisein den dort liegenden Schlüssel für zwei große Tresore. Die schloss ich auf und als ich die Tür aufmachte, stand da Mauser, als Firma. Es war absurd. [ ... ] Ich saß und habe die Gedichte des Bandes 1 im Vorraum des Tresorraums mit den Mauserbeschriftungen ediert."

    Der Vorgang mutet absurd an, weil Müller in seinem Drama "Mauser" mit der Doppeldeutigkeit des Wortes Mauser spielt. Seine zentrale Figur im Stück, ein russischer Revolutionär, wird zum Feind der Revolution, als er sich mausert und seine Pistole der Marke Mauser nicht länger für die revolutionäre Sache einsetzen will. Die "historische Mauser" von 1989, die Müller skeptisch begleitete, war ein Grund, dass sein Nachlass in eine Westberliner Bank kam. Noch zu seinen Lebzeiten hatte Müller für die Herausgabe seiner Schriften "brutale Chronologie" als Ordnungsprinzip vorgegeben und damit eine editorische Herausforderung formuliert. Dieser Wunsch des Autors war zu bedenken, als der Herausgeber ein Konzept für die Werkausgabe erarbeitete.

    "Ich mache für mich geltend, und habe das in jedem der Bände auch deutlich gesagt, dass ich Müllers Wunsch durchaus erfüllt habe. Denn was er unter "brutaler Chronologie" verstand, ist dann immer noch eine Auslegungssache. Also, ich konstruiere, was er unter brutaler Chronologie verstehen wollte. Wenn er im Auge hatte, eine brutale Chronologie aller Texte und aller Textsorten, die er in seinem Leben verfasst hat, dann wäre der Begriff der brutalen Chronologie in einem angemessenen Sinne eingelöst und bedeutete ein hohes Maß an historisch kritischer Gesamtausgabe seines Werks. So habe ich das nicht definiert und so habe ich entschieden, das nicht zu verstehen. Ich nenne als zweites den pragmatischen Punkt, der aber mehr ist als ein pragmatischer, nämlich die Vorgabe des Verlages. Unseld wollte eine klassische Leseausgabe. Die beginnt mit dem Band Gedichte und setzt sich dann fort – in gewisser Hinsicht nach den Gattungsmerkmalen der klassischen Ästhetik – und dem bin ich gefolgt aus Überzeugung und im Bewusstsein des Problems."

    Dass sich die Ausgabe von Müllers Werk an den Gattungen orientiert, und sich in Lyrik, Prosa und Drama gliedert, ist für die Herausgabe einer Leseausgabe zu erwarten gewesen. Allerdings wird mit der Integrierung der Gespräche in die Werkausgabe der Rahmen der klassischen Ästhetik gesprengt. Doch diese Entscheidung ist mehr als zu begrüßen, weil sich auch Müllers Arbeiten zunehmend einer engen Gattungszuordnung verweigert haben, wenn man an Texte wie "Bildbeschreibung" oder "Hamletmaschine" denkt. Müller, der kein Briefschreiber war, wurde als Autor gern befragt, und er nutzte diese Gespräche, um eigene ästhetische und politische Positionen zu entwickeln. Dabei ist seinen Antworten ein Müllerscher Kunstcharakter immanent – sie besitzen einen eigenen ästhetischen Wert.

    "Ich gehe davon aus, dass diese Gespräche, die er vor allem dann auch im Westen geführt hat, das waren Probebühnen für ästhetisch anstehende Materialfragen. Er hat ästhetische Modelle getestet und hat damit auch gespielt. Also, hier kriegen die Texte eine Eigendynamik, auch als Kunsttexte. Für mich sind das Kunsttexte in ihrer Gänze. Dann sind es natürlich auch zum Teil Botschaften in den Osten, nämlich Treuebekenntnisse, die er aus der Perspektive eines Mannes, der im Westen befragt wird über den Osten, in anderer Weise artikulieren kann gegenüber in anderer Weise unverkrampften Gesprächspartnern, vielleicht auch gegenüber dem Sozialismus äußerst kritischen Leuten. Also, er war ein Verteidiger des Sozialismus, wenn er im Westen nach dem Osten befragt wurde, und er blieb immer ein kritischer Mann."

    Der Westen stellte für Müller keine Alternative dar und das Experiment Sozialismus im Osten Deutschlands konnte er nur kritisch begleiten. Heiner Müller mischte sich ein, was immer wieder Debatten auslöste und Gespräche notwendig machte. Der erste Band wird mit einem Gespräch eröffnet, das Walter Girnus 1965 kurz nach dem 11. Plenum des ZK der SED mit Heiner Müller führte, der auf dem Plenum wegen seiner Stücke "Philoktet" und "Der Bau" heftig kritisiert worden war. Müller hatte sich zu rechtfertigen. Auf Augenhöhe hingegen fand 1986 der Dialog mit Wolfgang Heise statt, in dem es um Brecht und das Theater im Zeitalter nach Brechts Tod geht.

    "Dieses Rollenspiel im Dialog, als jemand, der Antworten gibt und der hofft, gefragt zu werden, ist eine erste Phase, denn es ging immer noch darum, überhaupt Sprecher sein zu dürfen und in dieser Sprecherrolle eventuell politisch, eventuell auch zur Interpretation seiner Texte. Später werden, vor allem in den letzten 10 15 Jahren, die Gespräche viel mehr Kunstgespräche, also Kunstgespräche auch in dem Sinne einer Textart des Performativen."

    Ausgewählt wurden 175 Gespräche aus einem Zeitraum von dreißig Jahren. Wer wissen will, was Müller in diesem Zeitraum gedacht und geäußert hat, muss sich durch fast dreitausend Seiten arbeiten. Dass die Lektüre kurzweilig und hoch interessant ist, liegt an Müllers Fähigkeit, komplexe Vorgänge in wenigen Sätzen zu verdichten.

    "Müllers Rolle in den Gesprächen und in der Geschichte dieser Gespräche verändert sich enorm. Ein Drittel der Gespräche fanden bis 1990 statt, zwei Drittel dann danach. Das heißt, die Bände sind geordnet. Der erste Band 1965 – 1987, dann 1987 – 1991 und dann 1991 bis 1995. Das heißt also, schon vom Rhythmus dieser Gespräche verschieben sich die Gesprächsrelationen und die Rollen in den Gesprächen."

    Müller hat in den Gesprächen nach 1989 darauf bestanden, dass es für ihn keinen Anlass gibt, frühere Positionen zurückzunehmen. "Der Text ist klüger als der Autor", ließe sich diese Haltung durch Müller selber erklären. Bereitwillig erklärt er, weshalb er den Veränderungen nach der Wende skeptisch gegenübersteht, und er ist immer gut für "typische" Müller Sätze: "Zehn Deutsche sind dümmer als fünf" oder "Beckett ist der Pillenknick der Dramatik". Darüber hinaus spricht er immer wieder ein Thema an, das ihn in der Nachwendezeit brennend interessierte: Stalingrad als historischer Dreh- und Wendepunkt in der Geschichte. Andere Themen ziehen sich trotz vieler Veränderungen wie ein roter Faden durch die Gespräche:

    "Der Topos der feindlichen Brüder zum Beispiel, als ein Synonym deutscher Geschichte seit Tacitus. Das unendliche Spiel der Gewalt der Brüder. Dann Sehnsucht nach der subversiven Kraft der dritten Welt. Die Hoffnung und die Enttäuschung zugleich zu seinen Lebzeiten. Dass der Riese nur noch Armstumpfe hat, dass er nicht aufgeht, der Traum, und dass der weiße Traum der Revolution ausgeträumt ist. Dann, ein dritte Dimension, immer wiederkehrend, die Dimension von Weiblichkeit und zwar nicht nur als Herrscherrolle männlicher Potenz, sondern als Unterlegenheitserfahrung."

    Die Gespräche Heiner Müllers sind ein riesiger Fundus. Wer sich darauf einlässt, den Kontinent Müller zu ergründen, wird auf jeder Seite erstaunliche Entdeckungen machen können. Müllers Kommentare zum Zeitgeschehen greifen auf der Grundlage von Gegenwartsanalyse in die Zukunft. Die Gespräche sind ein Schlüssel für das Verständnis seines Werkes, und sie sind ein unverzichtbarer Begleittext zu seiner Autobiographie "Krieg ohne Schlacht". Dass Müllers Texte in dieser wohlgediegenen und verlässlichen Ausgabe zu lesen sind, ist nicht hoch genug zu schätzen. Sie liegt zum richtigen Zeitpunkt komplett vor, denn es wird nicht Zeit, um Müllers Texte erneut zu lesen und seine Stück wieder zu spielen, sondern diese Zeit ist längst gekommen.

    Heiner Müller: Gespräche Band 1 bis 3.
    Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2008, 861, 997 und 953 Seiten, broschiert jeweils 28 Euro, gebunden jeweils 38 Euro.