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Zum 80. Geburtstag von Klaus Wagenbach

Klaus Wagenbach ist Deutschlands am meisten vorbestrafter Verleger, aber auch die letzte lebende Kafka-Witwe. Er wirkt auf den ersten Blick oft widersprüchlich, aber bei näherem Hinsehen doch verblüffend eindeutig. Eine "Rezension" zum 80. Geburtstag.

Von Helmut Böttiger | 09.07.2010
    "Danke für den Satz: Sozialismus – die einfachste Sache der Welt!"

    Klaus Wagenbach ist Deutschlands am meisten vorbestrafter Verleger, aber auch die letzte lebende Kafka-Witwe. Er wirkt auf den ersten Blick oft widersprüchlich, aber bei näherem Hinsehen doch verblüffend eindeutig. Wenn der Wagenbach-Verlag nun zum achtigsten Geburtstag seines Gründers einen dickleibigen Band mit dessen "Erinnerungen, Festreden, Seitenhieben" vorlegt, ist klar, dass alle unüberschaubaren Facetten seines Wesens in irgendeiner Form vorkommen. Kafka ist genauso präsent wie der linke Kommunarde der sechziger Jahre – wir können etwa noch einmal Wagenbachs "Grabrede für Ulrike Meinhof" lesen, die in politisch schwer belasteter Zeit ein erstaunliches Zeugnis für intellektuelle Unbestechlichkeit darstellt. Und wir begegnen dem unabhängigen Westberliner, der als erster Verleger nach dem Bau der Mauer programmatisch ein gesamtdeutsches Profil anstrebt. Aber beginnen wir mit dem Anfang.

    Nackt, dem Froste dieses unglückseligen Zeitalters ausgesetzt, mit irdischem Wagen, unirdischen Pferden, treibe ich mich alter Mann umher. Mein Pelz hängt hinten am Wagen, ich kann ihn aber nicht erreichen, und keiner aus dem beweglichen Gesindel der Patienten rührt den Finger. Betrogen! Betrogen! Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen.

    Es ist nicht leicht, Klaus Wagenbach mit Franz Kafka zusammenzudenken. Den von Anekdote zu Anekdote brillierenden Verleger mit dem sich klein und kleiner machenden Prager Versicherungsangestellten, dessen nachts in existenzieller Einsamkeit hingekritzelte Prosastücke von überlegenen, mächtigen Männern handeln, denen man rettungslos ausgeliefert ist und die "mit ihrem Lachen allein sein" wollen. Klaus Wagenbach aber will alles andere als mit seinem Lachen allein sein!
    Es ist ein Lachen, das Lust an der Gemeinschaft hat. Wagenbachs Lachen ist ansteckend und hilft offenkundig selbst über ärgste persönliche und politische Krisen hinweg. Und doch war es Kafka, der sich verschließende Asket, der Anfang der fünfziger Jahre dem jungen Hilfsbuchhalter die Augen für Literatur erst so richtig öffnete. Der Hersteller des Fischer-Verlags drückte dem blutjungen Wagenbach den Roman "Der Prozess" in die Hand. So etwas hatte er noch nie gelesen. Und es ging ihm dabei durch den Kopf, dass der Zusammenbruch Hitlerdeutschlands erst ganz kurz zurücklag.

    Kafka ist ja – den hätten wir ja umgebracht. Wenn er ein bisschen älter gewesen wäre. Man weiß gar nicht wie man's sagen soll: wenn er nicht – glücklicherweise kann man schlecht sagen – nicht schon mit 41 Jahren gestorben wäre. Seine Schwestern haben wir alle noch erwischt. Die sind alle noch in Auschwitz umgebracht worden. Das heißt: Wir hätten einen der größten deutschen Schriftsteller umgebracht.

    Wagenbach schreibt seine Dissertation über Franz Kafka, es ist die bis heute unübertroffene Biografie der Jugend des Autors. Dass er biografisch, also zeitgeschichtlich arbeitet, verstößt in den 50er-Jahren gegen die herrschenden Gebote der Germanistik.

    Werkimmanenz ist ja was ganz Feines, was Geschichtsloses. Da gibt es ja keine biografischen, keine historischen – irgendwelche Beeinflussungen: ökonomische, persönliche – sondern das reine Werk. (...) Und die Professoren, die Germanisten, die haben gesagt: prima! Und zwar je brauner die waren, je werkimmanenter!

    Die Beschäftigung mit Kafka führte Wagenbach Mitte der 50er-Jahre in zwei damals sehr schwierig zu erreichende Regionen: nach Israel und in die sozialistische Tschechoslowakei – rechtzeitig genug, um noch unschätzbare Quellen und Dokumente aus erster Hand zu finden. Vor allem in Prag merkte er sehr schnell, dass die beiden Seelen in seiner Brust, der Sozialismus und Kafka, dort ganz und gar nicht zusammengingen. Für die dogmatische marxistische Literaturauffassung war Kafka ein Beispiel für bürgerliche Dekadenz. Das schärfte Wagenbach die Sinne.

    Die Kernfrage war die Entfremdung. Ist die Entfremdung ein Produkt des Kapitalismus oder ist die Entfremdung ein Produkt der Industriegesellschaft? Heute scheint mir die Sache nun geklärt: Es ist ein Produkt der Industriegesellschaft! Da kann man so links sein wie man will! Wenn man das bekämpfen will, dann muss man ein paar Dinge tun, die die Industrie nicht gerne hört.

    Das Buch zum 80. Geburtstag Wagenbachs überrascht auch dadurch, dass es nicht einfach ein "Best of"-Kompendium ist, das bereits gedruckte und herausragende Beiträge noch einmal repräsentativ versammelt. Wagenbach hat zu dem aktuellen Anlass eine Reihe von autobiografischen Notizen verfasst, wunderbar elliptisch und einzelne Augenblicke bannend. Sie ergeben natürlich kein geschlossenes Ganzes, erfassen aber in in ihrem fragmentarisch schillernden Charakter sehr genau die Eigentümlichkeiten seiner Biografie. Dies ist kein getragenes deutsches Lebensrund, sondern etwas Pointillistisches, Leichtes, das gerade dadurch sehr aufschlussreiche zeitgeschichtliche Einblicke ermöglicht. Wagenbach gibt zum Beispiel zu, dass es unter seinen Vorfahren welche gibt, die ihn in seiner Eigenschaft als Querkopf noch übertreffen:

    Das war der Vater meiner Mutter, der war noch schlimmer! Der hat vorne auf sein Haus eine Inschrift machen lassen: Und wenn alle, ich nicht!

    Dass die Parteichargen der NSDAP verlangten, diesen Spruch zu entfernen, überraschte den Großvater nicht: die Buchstaben waren aus Messing, und als er sie aus dem Putz zog, war der Text immer noch zu lesen. Nach dem Krieg brachte er sie wieder an. Wagenbachs Vater wiederum war sehr katholisch geprägt, ein Mann der "Zentrums"-Partei, der gleich nach der Versetzung vom Westerwald nach Berlin im dortigen preußisch-protestantischen Umfeld eine katholische Dependance aufmachte.

    Das hat mich natürlich unterschieden von vielen meiner Freunde. Denn die hatten alle großes – ich hatte kein Problem mit meinem Vater. Außer, dass er blöderweise Mitbegründer der CDU war nach dem Krieg!

    Nach ersten Erfahrungen als Apothekergehilfe im Hessischen fuhr der junge Klaus Wagenbach mit dem Fahrrad gleich ins noch furioser katholische Italien, wo er die verwirrenden Erscheinungsformen des alltäglichen Lebens unvermittelt wahrnehmen durfte und dies als bleibendes Geschenk erfuhr. In Frankfurt lernte er dann beim Fischer-Verlag. Der Hersteller, Fritz Hirschmann, machte ihn nicht nur mit Kafka bekannt, sondern auch mit den diversen Möglichkeiten von Papier und Schrift, Grammgewicht und Laufrichtung, Palatino und Aldus und Melior. Nur die Lieblingsfarbe seines Lehrers, "sandfarben", mochte Wagenbach nicht. Er fand schwarz am besten, wie sein Verlegervorbild Kurt Wolff. Mittlerweile bezeichnet Wagenbach allerdings bunt als seine Lieblingsfarbe. Im Buch zum 80. Geburtstag lassen sich die Stationen der politischen Radikalisierung exemplarisch verfolgen: Trennung vom Verlag S. Fischer (wegen unterschiedlicher Haltung zur DDR) und Gründung des eigenen Verlags 1964, Wahlkampf für Willy Brandt 1965, Verleger von Erich Fried, der mit den Gedichten "und vietnam und" eine Schlüsselschrift für die 68er-Bewegung vorlegte, und von Ulrike Meinhof. Eine besondere Beziehung entwickelte sich zu Günter Grass. Auf der einen Seite der durch und durch sozialdemokratische Moralist, dessen Positionen tragend und unverrückbar scheinen, und dort der unberechenbare Freigeist Wagenbach, eine eher schillernde Figur.

    Nein, ich war nicht schillernd! Ich lehne es ab! Nein, ich war gegen ihn. Wir haben uns ja entsetzlich verstritten! (...) Ich war in der Anfangszeit sehr befreundet mit ihm. Ich war auch Lektor seiner Bücher, er war nicht ganz zufrieden mit seinem Lektor, also die "Hundejahre" hab ich lektoriert zum Beispiel. (...) Dann kam der Gedichtband "Ausgefragt". Und da waren Gedichte gegen die Studenten drin. (...) Und ich hab ihm gesagt: Günter, das kannst du nicht machen! Das sind junge Leute, was heißt das – hier, wer hat euch – wer bezahlt euch – also das war so n bisschen, also das hat mir nicht gefallen. Und Günter als (...) unverbesserlicher Sozialdemokrat, so gingen wir auseinander. Und zwar sehr lange! Sehr lange!

    Später näherte sich Wagenbach Grass aber wieder vorsichtig an. Das begann damit, dass er eine Auswahl von Grass-Gedichten in seinem Verlag herausgeben wollte.

    Also hab ich ihm ein paar Druckproben gemacht und bin hingefahren. War natürlich 'ne schwierige Situation nach 20 Jahren Streit! Und dann hab ich mir das lange überlegt, auf der Bahnfahrt dahin, und habe mir einen Satz ausgedacht, der lautete, beim Eintreten, der lautete: Wo waren wir stehengeblieben? Da musste er so lachen, und ich auch, und die Sache war vergessen.

    Die Gruppe 47, zu deren herausragenden Protagonisten Grass gehörte, bezeichnet Wagenbach als eine wichtige Schule. Und er beschreibt genau, wie sich im Lauf der sechziger Jahre die politischen Konflikte dort zuspitzten. Wagenbach war auf der Seite der Radikalen, und es ist aufschlussreich, wen er nennt: Reinhard Lettau, der in den USA lebte, Erich Fried, der in London lebte, Enzensberger in Norwegen, Peter Weiss in Stockholm:

    Die hatten den Blick von außen, ja. (...) Die sahen, was kommt. Oder was ist. Der Blick auf die Bundesrepublik in den sechziger Jahren. Der war ja ein Blick in eine bis 64, 65, zum Auschwitz-Prozess, ein Blick in die Fettlebe und in den Sexualterror. Also es war nicht lustig in den 50er und 60er-Jahren in Deutschland für junge Leute! Die kamen nicht mal an Präservative geschweige denn an irgendwas. Ich sage immer: Das war die große Zeit der Autoliegesitze! Das war furchtbar! Das heißt: Die Verlogenheit war offensichtlich in den sechziger Jahren!

    Die radikalen politischen Köpfe der Gruppe 47 sympathisierten zwangsläufig mit der Studentenbewegung von 1968, und Wagenbach lässt auch heute keinen Zweifel an der Bedeutung dieser Revolte:

    Was dann passierte, zwischen vielleicht 65 und 70 mit einem langen Ausläufer bis 78, 79 war die Demokratisierung Deutschlands. Die Studenten, auch wenn es Springer nicht wahrhaben will, die Studenten haben Deutschland demokratisiert durch Herausforderung.

    Autor:
    Die dogmatischen Verkrustungen, die Dekadenz der politischen Aufbruchszeit nach 1968 zeigten sich allerdings auch im Wagenbach-Verlag. Die Auseinandersetzungen um den Begriff des "Kollektivs" spielen im vorliegenden Jubiläumsbuch über "Die Freiheit des Verlegers" eine große Rolle. Ende der 70er-Jahre erlebte Wagenbach eine tiefe persönliche und politische Krise.

    Das war eine schwere Verwundung. (...) Ich war ja ein begeisterter Kollektivist! Und habe nur nebenbei – das steht auch in der Verfassung – gesagt: Naja, das Programm, das muss natürlich das Lektorat machen! Habe immer gesagt: Keine Diktatur des Proletariats, sondern eine Diktatur des Lektorats! Und als dann Delius und seine Freunde mit dieser etwas langweiligen Dokumentarliteratur ankam – (...) 51:55 das war eine gewisse politische Schwäche, diese Literatur. Der fiel nichts ein, sondern die schrieb ab. Und das war ein Konflikt. In dem Moment, in dem ein Verlag sagt: Wir wollen alle mitreden, und wenn man auch nur die Gegenfrage stellt: Wer kann Französisch? Wer kann Italienisch? Wer kann Englisch? Und zwar genügend! Gibt es auch ein paar, die Griechisch können oder sonstwas? – ist die Sache vorbei! (...) 53:00 Die Wohn- und Kollektivgemeinschaft war im Verlag, viele Jahre, und das ist mir erst hinterher aufgefallen: Hinterher gingen die Genossen dann alle in ihre Einzelwohnungen! Und bei uns ging es weiter: da übernachteten die Genossen oder das Auto war weg oder so, es war immer was los, man war nie allein. Irgendwann hab ich allein in einem Einzelzimmer in der Pariser Straße gesessen und zwei Jahre nachgedacht. Ich war vollkommen zerrüttet, irgendwie. Das war eine schwierige Zeit. (..) Das hat mich auch meine erste Ehe gekostet, leider. Das war so 77, 78, 79. Dann war plötzlich – dann kam Pasolini, und das war plötzlich ein Blick ins Freie. Die Freibeuterschriften. Das war ein richtiger Einschnitt!
    Die "Freibeuterschriften" von Pier Paolo Pasolini waren für Wagenbach persönlich wie auch für den Wagenbach-Verlag eine Befreiung. Sie erschienen im Gründungsjahr der Grünen, und sie wiesen der Diskussion unter den bundesdeutschen Linken einen neuen Weg. Der Wagenbach-Verlag entdeckte durch Pasolini verstärkt Italien, er suchte nach Denkanstößen in anderen Ländern – vor allem Italien bot in der damaligen Zeit viel Stoff zu Diskussionen und Auseinandersetzungen. Die "Freibeuterschriften" waren 1975 in Italien ein riesiger Erfolg. Die Agenten verlangten instinktsicher hohe Lizenzgebühren, doch in Deutschland traute sich niemand, das Buch zu verlegen:

    Weil es so kommunistisch war!

    Wagenbach hatte das Buch gleich veröffentlichen wollen, und nach drei Jahren durfte er es endlich. Für die dogmatische Linke war Pasolini in seiner Widersprüchlichkeit und in seinem UNOrthodoxen Denken allerdings ein rotes Tuch. Gerade das reizte Wagenbach umso mehr.

    Konterrevolutionäre sind immer interessant!

    Verhärtet, humorlos, fanatisch-fahl war Wagenbach nie. Es ist bezeugt, wie er Ende der 70er-Jahre in süddeutschen Universitätsstädten für totale Verwirrung sorgte. Da bereiste er, um Unterstützung für seinen Verlag zu finden, die linken Buchhandlungen im Land, und seine Vorstellungen vom Sozialismus umriss er so: er wolle nicht nur zwei oder drei Käsesorten wie in der DDR, sondern zweihundert oder dreihundert wie in Italien. Dieser Gedanke, so fremd und abwegig er zunächst schien, bewegte einiges. Wagenbach steht für ein linkes Bürgertum im Geist des französischen Citoyen, dessen Parolen von "Freiheit, Gleichheit, Bürgerlichkeit" er nicht müde wird einzufordern. Sein gesamtes Wirken hat etwas damit zu tun, dass die deutsche Linke, im Gegensatz zu fast allen anderen Ländern Europas, wie er sagt, nicht auf begrenzte Bündnisse mit einem liberalen oder konservativen Bürgertum zählen kann, weil in Deutschland solch ein Bürgertum so gut wie nicht existent sei. Hier wird ein Nerv getroffen. Wagenbachs Bürgertum hat mit der aktuellen deutschen, gelegentlich etwas verschmockten Hinwendung zu adäquatem Krebs- und Hummer-Besteck, preußisch-steifem Aufrechtstehen und durchaus oft dünkelhaftem Konservativismus nicht das Geringste zu tun. Klaus Wagenbach ist ein deutsches Vorbild.

    Geschichtsbewusstsein, Anarchie und Hedonismus – das sind drei mir vertraute Begriffe, die den Verlag immer geprägt haben. Und so wird's auch, da bin ich ziemlich sicher, so wird's auch bleiben.


    Klaus Wagenbach: "Die Freiheit des Verlegers. Erinnerungen, Festreden, Seitenhiebe." Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2010. 348 Seiten, 19,90 Euro

    www.wagenbach.de

    Alle Kritiken von Büchern des Wagenbach-Verlags im Deutschlandradio Kultur

    Alle "Büchermarkt-Rezensionen" von Büchern des Wagenbach-Verlags im Deutschlandfunk