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Zum Himmel strebend

Eigentlich ist der Titel der Ausstellung ja voller Fehler: weder begann die englische Gotik im Jahre 1400 - zwei Drittel ihrer Dauer waren da schon vorüber - noch endete sie 1547, im Todesjahr von König Heinrich dem Achten, der einem besonders bilderstürmerischen Protestantismus den Weg ebnete: Klöster wurden geschleift, die Gotteshäuser aller Ornamente beraubt. Die Eckdaten sind nicht so ganz einsehbar. Doch die herkömmliche Ansicht, dass nämlich in dieser Zeit blutiger kriegerischer Auseinandersetzungen der 100-jährige Krieg mit Frankreich, die Machtkämpfe zwischen den Häusern Lancaster und York keine Zeit für die Produktion von Kunst war, widerlegt die Schau zurecht.

Hans Pietsch |
    Sie beginnt mit den vier heraldischen Figuren der Junker-Familie Dacre: ein Greif, ein Widder, ein Bulle und ein Delphin. Überdimensionale, spektakulär farbige Monster, deren primitive Monumentalität zurück in eine primitivere Zeit verweist. Sie entstanden um 1520, also etwa eine Dekade nach Michelangelos Vollendung der Sixtinischen Kapelle. Die so völlig ungotische Renaissance-Natürlichkeit der zwei Porträtbüsten aus bemaltem Ton des um 1510 in London tätigen Florentiner Plastikers Pietro Torrigiano - eine davon stellt König Heinrich den Siebten dar -bestätigen, wie sehr die Insel in dieser Zeit den Entwicklungen auf dem europäischen Festland hinterherhinkte. Die Auftraggeber Krone, Kirche, Aristokratie und neureiche Kaufleute - sahen es wohl auch so: sie wandten sich an kontinentale Künstler und Handwerker wie Gobelinweber aus Flandern oder Goldschmiede aus Paris, die ihnen ihre Schlösser und Kirchen schmückten.

    Sir John Dunne zum Beispiel ließ sich in Brügge von Hans Memling ein Triptychon für die Kapelle seines Schlosses malen. Und nicht nur Torrigiano arbeitete in London: Hans Holbein der Jüngere etwa war Hofmaler von Heinrich dem Achten, sein zartes Porträt einer "Lady mit Eichhörnchen und Star" ist einer der Höhepunkte der Schau.
    Und doch: man entdeckt auch von einheimischen Künstlern stammende Juwelen in der Ausstellung, muss aber sehr genau hinsehen. Die um 1440 entstandene Gebetsrolle, die Henry Beauchamp, der Herzog von Warwick, mit auf Reisen nahm, ist ein exquisites Beispiel spätgotischer Handschriften. Leider ist sie so hoch und so weit weg angebracht, dass man sich den Hals verrenkt, um sie zu sehen. Ebenso einige wunderbare Fragmente von Glasfenstern, allen voran die Darstellung der jungen Prinzessin Cecily von 1485 aus der Kathedrale von Canterbury in leuchtenden Blautönen. Und um das so genannte "Schwan-Schmuckstück von Dunstable" genau zu betrachten, die winzige Darstellung eines jungen Schwans aus dem Britischen Museum, muss man sich fast hinknien. Die Henry Beauchamp darstellende Skulptur von seinem Grabmal dagegen ist optimal aufgestellt: der einflussreiche Krieger und Diplomat, liegt, ganz vergoldet, auf dem Rücken, die Hände im Gebet erhoben. In der Kapelle der Burg Warwick, wo er normalerweise zu sehen ist, liegt er hoch oben auf einem Sockel, hier kann man zum ersten Mal die erstaunliche Arbeit des Londoner Goldschmieds bewundern, der ihn schuf.
    Die größte Schwierigkeit, der sich die Ausstellungsmacher gegenübersahen, ist natürlich die Tatsache, dass der wahre Triumph der Gotik, auch der Spätgotik, ihre Architektur ist. Die in England "Perpendicular Style" genannte Spätphase der Gotik mit ihren aufschießenden Senkrechten und filigranen Decken brachte so großartige Bauten wie die Kathedrale von Gloucester und die Kapelle des Kings College in Cambridge hervor, aber auch bescheidenere Kirchen in durch den Wollhandel reich gewordenen Dörfern wie Lavenham und Long Melford im Osten Englands. Die Glorie solcher Bauten lässt sich in einer Museumsschau nur andeutungsweise zeigen, im Victoria und Albert Museum geschieht das auf besonders unbedarfte Weise, mit auf hölzernen Spitzbögen aufgezogenen Fotos.

    Die Schau entlässt den Besucher mit einem Konterfei von Heinrich dem Achten, eine spätere Kopie eines verloren gegangenen Wandgemäldes von Holbein. Der Monarch geht den Betrachter frontal an, blickt auf ihn herab die Arroganz dieses Mannes, der die Zerstörung religiöser Kunstwerke aus mehreren Jahrhunderten einleitete, ist selbst auf dieser nicht sehr guten Kopie spürbar. Schade nur, dass die Ausstellung der Kunst, die der von ihm verordnete Vandalismus übrig ließ, nicht so ganz gerecht wird.