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Zum Laufen stimuliert

Medizin. - Mithilfe von Elektroden haben Zürcher Forscher querschnittsgelähmte Ratten wieder zum Laufen gebracht. Der Eingriff, wenn er sich bewährt, könnte auch beim Menschen helfen. Die Wissenschaftsjournalistin Kristin Raabe ordnet den Bericht in "Science Translational Medicine" im Gespräch mit Ralf Krauter ein.

Kristin Raabe im Gespräch mit Ralf Krauter | 24.10.2013
    Die Forscher der Universität Zürich benötigten Fingerspitzengefühl: Sie führten dünne Elektrodendrähte in den nur wenige Millimeter großen Hirnstamm von Ratten ein. Dort musste die Spitze der Elektroden einen winzigen Bereich treffen: die sogenannte Mesencephale Bewegungsregion. Von dort laufen Nervenverbindungen zum Rückenmark, die das Gehen steuern. Die Stromstöße in dieser Hirnregion sollten die verbliebenen intakten Nervenfasern im Rückenmark regelrecht aufwecken.

    Die Forscher um Lukas Bachmann konzentrierten sich bei ihren Experimenten auf Tiere, bei denen 20 bis 30 Prozent der Nervenbahnen im Rückenmark die Verletzung heil überstanden hatten. Ohne die Stromimpulse in ihrem Kopf waren die Ratten damit nur sehr eingeschränkt bewegungsfähig. Mit den Stromstößen konnten sie dagegen wieder galoppieren.

    Daraufhin versuchten die Schweizer Forscher nun ihr Glück mit Ratten, bei denen lediglich zehn Prozent der Nervenfasern im Rückenmark intakt waren. Ein Mensch wäre damit an den Rollstuhl gefesselt. Die Ratten konnten zwar auch durch die Stromstöße nicht mehr zum Laufen gebracht werden, allerdings begannen sie in einem Bassin wieder zu schwimmen. Offenbar brauchten sie die tragende Kraft des Wassers, damit sie ihre eigentlich gelähmten Hinterbeine wieder bewegen konnten.

    Krauter: Im Studio mitgehört hat die Wissenschaftsjournalistin Kristin Raabe. Frau Raabe, die Gretchenfrage, die sich aus solchen Erfolgsmeldungen aus dem Labor immer stellt, ist ja: Wäre so eine Therapie auch bei Menschen anwendbar? Und wenn ja, für wen käme sie infrage?

    Raabe: Ja, das ist das wirklich Gute an dieser neuen Studie, dass sie tatsächlich beim Menschen anwendbar ist, denn sie wird bereits angewandt, und zwar bei Parkinson-Patienten. Allerdings kommt sie nur für Patienten, für querschnittsgelähmte Patienten, infrage, wenn der Querschnitt nicht vollständig ist. Das heißt, es müssen eben noch intakte Nervenfasern im Rückenmark vorhanden. Das ist interessant, auch deswegen, weil es eine Therapiemöglichkeit darstellt für Patienten, die schon jahrelang im Rollstuhl sitzen. Die meisten anderen Forschungen, wo es darum geht, Querschnittsgelähmte wieder ans laufen zu bringen, die drehen sich um Zelltherapien und Therapien mit Antikörpern und Wachstumsfaktoren. Dabei soll das zerstörte Rückenmark wieder nachwachsen, die Nervenfasern nachwachsen. Das sind alles Therapiemöglichkeiten, die nur direkt nach dem Unfall erfolgen müssen. Und für jahrelang im Rollstuhl sitzende Patienten gibt es eigentlich bislang so gut wie nichts. Und deswegen ist das interessant.

    Krauter: Diese Tiefenhirnstimulation, wo jetzt bei Ratten gezeigt wurde, dass sie funktioniert, die würde eben auch dann noch gehen, wenn dieses kritische Zeitfenster, von dem Sie sprachen, bereits geschlossen ist. Wie schätzen Sie denn die Chancen ein, dass querschnittsgelähmte Patienten künftig vielleicht einmal auf diese Weise wieder gehen lernen könnten?

    Raabe: Also grundsätzlich sind solche Prognosen sehr, sehr schwierig. Man muss natürlich auch sagen, dass das, was in der Ratte funktioniert, noch lange nicht im Menschen funktionieren muss. Die Ratte ist ein Vierbeiner. Das Rückenmark ist komplett anders verschaltet. Wenn man Ratten, querschnittsgelähmten Ratten, wenn man da eine Zeit lang wartet, dann funktioniert da relativ viel von der Bewegung schon wieder von allein. Das ist alles beim Menschen etwas völlig anderes. Distanzen, die beim Menschen normalerweise überwunden werden müssen, der Mensch ist einfach viel größer, das ist alles ein bisschen schwieriger.

    Krauter: Die Distanz, über die die Nerven wieder zusammenwachsen müssen, letztlich?

    Raabe: Genau! Wenn sie nachwachsen. In diesem Fall geht es ja darum, dass man quasi diese vorhandenen Nervenfasern wieder aufwecken möchte. Und auch da ist es schwierig, ob das tatsächlich sich dann wirklich lohnt. Und diese Operation, die ist natürlich eine Operation am Gehirn. Die ist nicht ungefährlich. Und da muss man sich auch gut überlegen, ob man bereit ist, dann so ein Risiko tatsächlich auch einzugehen. Es passiert selten etwas, aber wenn etwas passiert, dann ist es oft sehr dramatisch und sogar tödlich. Und auch die Frage muss gestellt werden: Ob wirklich alle Querschnittsgelähmten das tatsächlich wollen? Wenn man Umfragen anschaut zur Lebensqualität, dann sagen die meisten Patienten eigentlich: Also, die Blasenfunktion und die Sexualfunktion, die ist wichtig, dass die wieder hergestellt wird. Und die Patienten, die eine Verletzung in der Halswirbelsäule haben, die also auch ihre Arme nicht bewegen können, die wollen zuerst die Armbewegung wiederhaben. Und das Laufen ist da wirklich eher sekundär bei den meisten Patienten. Und da ist die Frage, ob so ein Risiko von einer Operation dann gerechtfertigt ist.

    Krauter: Sie haben das Feld ja schon länger im Blick, für uns auch. Hat denn überhaupt irgendeine Art von Forschung in den letzten Jahren irgendetwas gebracht, was Patienten mit Rückenmarksverletzungen wirklich Hoffnung machen könnte?

    Raabe: Ja. Und zwar die Physiotherapie. Dies wirklich so gut geworden, und da gibt es Hilfsmittel inzwischen, die so super sind, dass man tatsächlich Patienten wieder ans Laufen bringen kann, wo man vor 20 Jahren gesagt hätte: Der sitzt für den Rest seines Lebens im Rollstuhl.