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Zum Leben zuwenig

Für seine zweite Amtszeit hat sich Präsident Bush ein heikles innenpolitisches Thema vorgenommen: Er will das staatliche Rentensystem reformieren. Doch die so genannte Social Security ist in den Augen vieler Amerikaner eine heilige Kuh: sie sichert für die meisten Rentner zwar nur knapp das Existenzminimum – aber durch die geplanten Reformen, so fürchten viele, dürften noch mehr Senioren in die Altersarmut abrutschen.

Von Julia Kastein |
    Bibelstunde im Seniorenzentrum der Urban League im Nordosten von Washington. Rund ein Dutzend betagte Damen und Herren sitzen im Kreis im Aufenthaltsraum der Wohlfahrtsorganisation und singen ein Kirchenlied. Die Augen hinter dunklen Brillen verborgen wiegen sie sich im Takt der Musik. Die meisten Senioren, die sich hier jeden Tag zum Beten und Basteln treffen, sind blind oder schwer sehbehindert. Auch Hattie Todd verbringt ihre Vormittage im Seniorenzentrum. Doch während die anderen Rentner von den Gratis-Mahlzeiten und der Gesellschaft angelockt werden, kommt Hattie aus einem anderen Grund: Zum Arbeiten. Den Ruhestand kann sich die 75-Jährige schlicht nicht leisten.

    "Meine staatliche Rente beträgt nur 614 Dollar im Monat – da sehen Sie, auf was für einem Level ich ohne die vier Stunden Arbeit am Tag wäre. So verdiene ich noch rund 700 Dollar dazu, und davon kann ich wenigstens leben."

    Hattie Todd hat Glück. Wenigstens ist sie noch fit genug, um zu Arbeiten und so das Abrutschen in die Armut zu verhindern. Zehn Prozent aller Bürger über 65 in den USA gelingt das nicht: ihr Einkommen liegt unterhalb der offiziellen Armutsgrenze von knapp 9000 Dollar im Jahr. Unter Afro-Amerikanern liegt der Prozentsatz an armen Senioren sogar bei knapp 30 Prozent. Das Problem ist nicht nur das geringe Einkommen – sondern auch die hohen Ausgaben, vor allem für die medizinische Versorgung. Hattie beispielsweise hatte vor gut zehn Jahren einen leichten Schlaganfall erlitten – sie muss täglich Medikamente nehmen.

    "Meine drei Rezepte kosten 180 Dollar – jeden Monat."

    Irgendwann, das ist Hattie klar, wird sie nicht mehr arbeiten können:

    Dann müsse sie eben mit der staatlichen Rente allein klar kommen, meint sie trocken. Doch die Aussicht macht ihr Angst – zumal die Zukunft der staatlichen Rente in den USA derzeit heiß diskutiert wird. Präsident Bush hat sich vorgenommen, das System teilweise zu privatisieren. Statt den kompletten Beitrag, derzeit 6,7 Prozent des Bruttoeinkommens, in die staatliche Kasse einzuzahlen, sollen Arbeitnehmer die Möglichkeit haben, einen Teil des Geldes selbstständig und profitabler in so genannten "persönlichen Konten” anzulegen. Das Social Security System sei in der Krise, ohne Reformen heute sei die Rente künftiger Generationen nicht mehr sicher, argumentiert der Präsident. Die geplante Umstellung werde ganz behutsam geschehen – und bliebe für die derzeitigen Rentner ohne Konsequenz. Hattie macht sich trotzdem Sorgen:

    "Das Ganze ist so kompliziert. Manchmal glaube ich, sie machen es mit Absicht so, dass man es nicht kapiert. Anfangs war ich ganz nervös – und mittlerweile frage ich mich, was das Ganze soll."

    Die Frage ist nicht unberechtigt, sagt Ladan Manteghi von der American Association of Retired People, kurz AARP, Amerikas Rentnerverband mit über 30 Millionen Mitgliedern.

    "Wenn Deutsche oder andere Kollegen uns hier in den USA besuchen kommen und wir uns über die Lebens- und Zahlungsfähigkeit unseres Rentensystems unterhalten, sagen die Nichtamerikaner immer: Wir verstehen gar nicht, was Euer Problem ist. Im Vergleich habt ihr kein Problem."

    Nach derzeitigen Berechnungen könnte die staatlichen Rentenkasse ohne irgendwelche Reformen bis zum Jahr 2041 so weiter machen wie bisher. Danach allerdings müssten die Rentensätze auf 70 Prozent des derzeitigen Niveaus gesenkt werden.

    "Wir glauben nicht, das wir ein Krise haben – aber wir stimmen dem Präsidenten zu, dass wir in paar kleinere Veränderungen vornehmen sollten. Nur: diese persönlichen Konten machen es nicht besser, sondern schlimmer. Denn alleine die Übergangskosten für diese Teilprivatisierung würde zwischen einer und drei Billiarden Dollar kosten."

    Als die Social Security vor 70 Jahren während der Depression ins Leben gerufen wurde, wollte der damalige US-Präsident Franklin D. Roosevelt ein staatliches Sicherheitsnetz gegen Armut entwickeln. Und das ist Social Security bis heute geblieben, erklärt Brenda Turner, die Chefin der Senioren-Abteilung bei der Greater Washington Urban League. Ihre Organisation betreut täglich 4.000 ältere und behinderte Amerikaner in der Hauptstadt.

    "Das staatliche Rentensystem sichert einem nicht die goldenen Jahre, aber es hat vielen Menschen dabei geholfen zu überleben; es ist ein soziales Netz."

    Und vor allem in einer Gesellschaft wie den USA sei so ein Netz besonders wichtig:

    "Weil die USA eine kapitalistische Gesellschaft ist, wird ein Teil der Bevölkerung immer aus Habenichtsen bestehen. Im Kapitalismus soll jeder für sich selbst sorgen, aber in so einer Gesellschaft gibt es eben auch immer ein paar Opfer, die es aus irgendwelchen Gründen nicht schaffen. Und für die brauchen wir die staatliche Rente."

    So wie Turner denkt die Mehrheit der Amerikaner. Nach einer Umfrage der Washington Post glauben zwar über 50 Prozent, dass sich das System in einer Krise befindet – aber noch mehr halten nichts von den Lösungsvorschlägen des Präsidenten. Sogar jene Bürger sind skeptisch, die vielleicht am ehesten von den höheren Renditen profitieren könnten, die nach Ansicht der Bush-Regierung durch persönliche Konten zu ereichen sind. Adriana Ward aus Baltimore beispielsweise.
    "Sie wollen die Social Security abschaffen. Nicht sofort – das wäre gar nicht möglich. Aber sie knapsen was davon ab – und schwächen so das System."

    Die 74-jährige Adriana ist eine vorbildliche Seniorin – die gebürtige Niederländerin, die seit über 40 Jahren in den USA lebt und bei einer Versicherung arbeitete, hat sich sorgfältig auf ihren Ruhestand vorbereitet.

    "Ich hatte immer Angst davor, dass egal wie hart ich arbeite, ich irgendwann alt und arm bin. Ich hatte das immer im Bewusstsein, dass die Social Security allein nicht reichen würde."

    Weil die staatliche Rente im Schnitt nur rund 40 Prozent des vorherigen Einkommens beträgt und damit nur das Existenzminimum sichert, hat Adriana Ward außerdem noch eine Betriebsrente und Ersparnisse. Und sie arbeitet. 20 Stunden die Woche in der Kreditgenossenschaft ihrer Kirche.

    "Ich würde eigentlich gerne aufhören und lieber was anderes machen, schreiben, oder so. Aber ich muss für meine Medikamente bezahlen. Das sind 400 Dollar im Monat. Ich habe zwar Versicherung, aber die zahlt die Medikamente nur bis 1100 Dollar im Jahr. Ich bräuchte doppelt soviel. Aber ich bin froh, dass ich das habe."

    In ihrem blau-gebundenen Haushaltsbuch hat die herzkranke Adriana feinsäuberlich aufgelistet, wie viel sie im Monat insgesamt verdient – 2000 Dollar – und wie viel sie ausgibt: dank der hohen Kosten für ihre Medikamente oft mehr. Sie schränkt sich ein. Mit 67 Jahren ist sie in eine günstigere und kleinere Wohnung gezogen. Sie hat nie ein Auto besessen.

    "Noch bin ich gesund genug um zu arbeiten – dank der modernen Medizin. Aber wenn ich die 600 Dollar im Monat nicht mehr dazu verdienen kann – dann weiß ich auch nicht. Dann muss ich wohl in eins von diesen staatlichen Altersheimen. Aber da ist einfach deprimierend, das absolute Minimum. Wenn man sein ganzes Leben gearbeitet hat und dann auf einmal vom Staat abhängig ist – das ist keine schöne Belohnung."