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Zum Schreien

Bevor "Psycho" 1960 in die Kinos kam, war sich der Regisseur so unsicher, dass er nach dem Rohschnitt vorhatte, den Film auf eine Stunde zu kürzen und ihn als Fernsehfassung herauszubringen. Heute gilt "Psycho" als die Essenz der Hitchcock-Filme.

Von Marli Feldvoß | 16.06.2010
    "Psycho" wurde Alfred Hitchcocks größter Publikumserfolg. Der "Master of Suspense" war schon geraume Zeit auf der Suche nach einem Stoff für einen - wie er sagte - "billigen" Horrorfilm, um das Genre auszuprobieren, das damals große Kassenerfolge erzielte. Der Reißer von Robert Bloch, der gerade erschienen und von einer wahren Geschichte inspiriert war, kam ihm gerade recht. Hitchcock produzierte den Film auf eigene Faust, nahm das kostengünstige Kamerateam seiner Fernsehshow "Alfred Hitchcock presents", setzte den Song-Texter Joseph Stefano ans Drehbuch und überließ den Paramount Pictures - gegen Gewinnbeteiligung - nur den Vertrieb. Als "Psycho" am 16. Juni 1960 in New York uraufgeführt wurde, hatte Hitchcock alle seine Ziele erreicht: Der Film hatte nur 800.000 Dollar gekostet und brachte ihm schon nach drei Monaten 2,5 Millionen Dollar Gewinnanteil ein. Und: Er hatte das Publikum "zum Schreien" gebracht.

    "Für mich ist die Spannung in einem Film, wenn das Publikum Angst um den Hauptdarsteller hat. In 'Psycho' werden zwei Morde gezeigt, aber das ist nötig, dass das Publikum viel Angst hat im letzten Teil des Films."

    Zum Geheimnis von "Psycho" gehörte ein besonders langsamer Spannungsaufbau. Nach der Liebesszene mit John Gavin beherrscht Hauptdarstellerin Janet Leigh alias Marion Crane eine halbe Stunde lang die Leinwand. Sie unterschlägt bei einer Maklerfirma in Phoenix, Arizona 40.000 Dollar und befindet sich danach mit dem Auto auf der Flucht. Während wir den Star des Films am Steuer sitzen und bangen sehen, spielt sich die Handlung in Phoenix nur in ihrer Vorstellung und auf ihrem Gesicht ab. Die Stimmen kommen aus dem Off. Hitchcock lenkt auf diese Weise den Zuschauer nicht nur auf die "falsche" Fährte, sondern steigert mit vielen Großaufnahmen auch die Identifikation mit der Hauptdarstellerin, bis diese wegen des Unwetters in einem Motel absteigt und sich unter falschem Namen einträgt.

    Er: "Die Luft ist etwas stickig hier. Aber dafür ist die Matratze sehr weich. Die Kleider hängen Sie in den Schrank. Und da liegen Briefbogen mit Bates Motel Aufdruck, falls Sie Ihre Freunde zu Hause neidisch machen wollen. Und hier ist …Sie wissen ja …"

    Sie: "Das Badezimmer."

    Er: "Ja. Und wenn Sie was brauchen, irgendwas, klopfen Sie an die Wand. Ich bin im Büro."

    Sie: "Danke Mr. Bates"

    Er: "Norman Bates."

    Weitere 15 Minuten Filmzeit vergehen, und Marion Crane ist tot. Als größter Schock fürs Publikum gilt Hitchcocks Tabubruch, den Star schon im ersten Drittel des Films sterben zu lassen. Das eigentliche Glanzstück von "Psycho" ist die Badezimmerszene. 55 Sekunden lang dauert die Attacke mit dem Messer, die Hitchcock mit 55 Schnitten in den verschiedensten Einstellungen so montierte, dass keine Beanstandung des "Production Code" erfolgte. Gewalt und nackte Haut waren ja unerwünscht. Ursprünglich wollte der Regisseur ohne Musik, nur mit dem Plätschern des Wassers und Marions Schreien drehen, aber dann kam doch der Vorschlag seines Hauskomponisten Bernard Hermann zum Zuge.

    Hitchcock brauchte eine ganze Woche, um die einzelnen Filmstücke dieser Szene zu drehen, von denen jedes nicht länger als zehn oder zwölf Zentimeter lang war. "Psycho" ist deshalb für ihn der "filmischste Film", den er je gedreht hat: Illusion pur. Er engagierte extra ein professionelles Model, weil er die Nacktszene für einen Star für unziemlich hielt. Auch der Schwarzweißfilm war ein Kompromiss - in Farbe wäre die Mordszene zensiert worden.

    Die Kritik lehnte den Film als "Schmutzfleck auf einer ehrenhaften Karriere" ab. Erst später wurde erkannt, dass Hitchcock sich an einem Wendepunkt befand. Es heißt, er sei mit "Psycho" zum ersten Mal in die Tiefe gegangen und habe mehr über sich enthüllt als je zuvor. Nach seiner schweren Erkrankung im Jahre 1957 habe ihn das Problem der Sterblichkeit umgetrieben. Fragt man Hitchcock selbst, dann war "Psycho" der größte Spaß seines Lebens.