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"Zum Sprechen bringt er das Unscheinbare"

Die Märchentage in Berlin, das - so heißt es jedenfalls- größte Märchenfestival der Welt dauert noch eine Woche lang und diesem Jahr ist es dem Leben und Werk von Hans Christian Andersen gewidmet, der seinen 200. Geburtstag feiert. Eine der 1300 Veranstaltungen war die Podiumsdiskussion in der königlich Dänischen Botschaft, die sich unter anderem auch mit dem Verhältnis von Märchen und Philosophie beschäftigte.

Von Steffen Graefe |
    " Andersen war in Dänemark noch nicht anerkannt, er kam nach Deutschland und wurde in Dresden von Ludwig Tieck aufgenommen. Es wurde ihm der Dichterkuss gegeben... Er wurde mit diesen Referenzen von Chamisso herzlich aufge-nommen. Der hat ihn erstmalig ins Deutsche übersetzt und hat ihn in die literarische Gesellschaft Berlins eingeführt. Und so-mit begann sein Siegeszug um die Welt. "

    Silke Fischer, Direktorin der Berliner Märchentage, präsentier-te den vor 200 Jahren geborenen dänischen Dichter als einen auch heute noch aktuellen, keineswegs nur biedermeierlich verschrobenen, sondern kosmopolitischen und multikulturellen kritischen Geist: Tatsächlich hat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wohl keine Kutsche einen anderen Autor durch mehr europäische Länder geführt wie Hans Christian Andersen. Ein Höhepunkt des mit internationalen Märchenforschern hochkarätig besetzten Symposions war das erfrischend leben-dige und auch humorige Podiumsgespräch, das der Kulturkriti-ker und Gastgeber Paul Werner Wagner mit Christoph Stölzl, dem immer lächelnden ehemaligen Berliner Kultursenator, führte. Der aber zeigte sich dieses Mal als ein literaturwissen-schaftlich geschultes Genie und Kenner der Werke des däni-schen Vorzeigedichters.

    " Andersen ist ein Vorwegnehmer großer Teile der literari-schen Moderne des 20. Jahrhundert z.B. gibt es in der Schnee-königin die Passage, wo Kai von der Schneekönigin entführt wird. Das ist purer Trakl. Das ist große expressionistische Pro-sa, die spielend auch in Reime gesetzt werden könnte. "

    Geradezu schwärmerisch empfahl Christoph Stölzl den däni-schen Dichter als Pflichtlektüre für jedermann. Leider werde Andersen oft als bloßer Märchenerzähler unterschätzt. Dabei könnte doch der dänische Schriftsteller mit dem raffinierten doppelbödigen und auch satirisch anmutenden Gewebe seiner Erzählungen, Romane und Märchen auch heute noch nicht nur Kindern zu denken geben.

    " Was besonders interessant ist, dass Andersen die Technik des inneren Monologes vorwegnimmt, die normalerweise bei James Joyce erst identifiziert wird im Ulysses dass der Unbe-wusste, dass das Sein an sich sprechen kann. Das kann man bei der Geschichte vom Tannenbaum sehen, der gar nicht weiß, dass er ein Tannenbaum ist... d.h. das beschränkte innere Ich kann trotzdem sprechen, ohne den allwissenden Erzähler als Begleiter zu haben. "

    Während der Stuttgarter Literaturwissenschaftler Volker Klotz die schier einzigartige Erzählkunst Hans Christian Andersens in anschaulichen Beispielen dokumentierte, vermittelte der Ü-bersetzer Ulrich Sonnenberg - stellvertretend für den leider verhinderten dänischen Starautor Jens Andersen - Einblicke in bislang wenig beachtete Aspekte der nicht nur märchenhaften Kindheit von Hans Christian Andersen. Anfang 2005 ist diese allererste kritische Andersen-Biographie des mit dem Dichter nicht persönlich verwandten Jens Andersen in deutscher Über-setzung bei Suhrkamp erschienen. Ulrich Sonnenberg.

    " Die Darstellung der Kindheit ist etwas Neues an dieser Bio-graphie, ... die von seinem Zeitgenossen Karl Marx sicher nur als subproletarisch bezeichnet worden wäre und überhaupt nichts mit der verklärten Romantik zu tun hatte, die Andersen selber darüber gegossen hat. "

    Mit seiner hintergründigen Recherche von bislang kaum be-kannten Anspielungen auf Andersen-Motive bei den Größen der Weltliteratur fesselte der eloquente Münchner Literaturwis-senschaftler Michael Maar das Publikum wortwörtlich und ent-lockte ihm einen stürmischen Applaus. Fontane ließ sich z.B. von Andersens Meerjungfrau inspirieren, indem er seine Effie Briest als eine "Tochter der Luft" vorstellte. Kafkas Schloss kann mit Andersens Schneekönigin kunstvoll dechiffriert wer-den. Und vom Zauberberg bis Doktor Faustus entdeckte Maar im gesamten Werk Thomas Manns Spuren, die auf den däni-schen Märchendichter verweisen, obwohl der deutsche Schrift-steller aus Lübeck diesen Einfluss merkwürdigerweise niemals zugeben wollte. Auch für dieses schamhafte Versteckspiel fand Meisterdetektiv Maar eine Erklärung: Es seien die raffi-niert kaschierten homoerotischen Neigungen Andersens gewe-sen, die Thomas Mann in besonderer Weise fasziniert hätten. Solcherlei Enthüllungen will man aber in dem sonst so freizü-gigen Dänemark lieber unter den Tisch kehren. Michael Maar.

    " Es ist doch überraschend festzustellen, dass es offenbar in Dänemark von Seiten der offiziellen Andersenverwaltung her immer noch eine gewisse Prüderie gibt und Bedenklichkeit, als würde es den großen Sohn Dänemarks in irgendeiner Weise schmähen, wenn man nun das ganz offensichtliche Geheim-nis... ausspricht, dass er nämlich sich in seiner geschlechtli-chen Verfasstheit als ein Zwitter und Zwischenwesen fühlte, und dass seine Freundschaften eben ausschließlich homophiler Natur waren. Das ist heutzutage offensichtlich. Und verwun-derlich ist nicht dies, sondern vielmehr, dass in Dänemark da immer noch so ein gewisser Schleier der Dezenz darüber fallen gelassen wird. "