Die polnische Literaturwissenschaftlerin Maria Janion spricht über Jerzy Pilchs Roman Zum Starken Engel. Mit diesem Roman errang der Erzähler und Feuilletonist Jerzy Pilch im Jahre 2001 den bedeutendsten Buchpreis Polens - den Nike-Preis. Pilch gilt bereits seit längerem als einer der interessanten polnischen Autoren der neunziger Jahre. Doch erst der Nike-Preis für den Starken Engel hat ihn in die ehr- und denkmalwürdige Gesellschaft eines Czeslaw Milosz oder Tadeusz Rozewicz befördert, den mit dem Nike-Preis und wahrlich nicht nur mit ihm gekrönten Klassikern der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts.
Jerzy Pilch kam 1952 als Kind protestantischer Eltern zur Welt - in der südschlesischen Stadt Wisla unweit der tschechischen Grenze. Ende der achtziger Jahre debütierte er mit einem Band humoresker Erzählungen. Seine Feuilletons, fast immer ironische Kommentare zur Gegenwart, publizierte Pilch lange Zeit in der liberalen katholischen Wochenzeitung "Tygodnik Powszechny", die in Krakau erscheint. Seit 1999 veröffentlicht er sie in dem Warschauer Politmagazin "Polityka". Der Nike-Preis für Jerzy Pilch galt einem Buch, das den tiefen Fall und vermutlichen Wiederaufstieg eines Schriftstellers beschreibt. Unverkennbar bleibt dabei der autobiographische Bezug. Der Roman "Zum Starken Engel", jetzt auch auf deutsch erschienen, ist ein vielschichtiges Werk. Vor allem aber ist es von der ersten bis zur letzten Zeile die Geschichte eines Alkoholikers.
Die Erde war wüst und wirr und der Geist schwebte über dem Wasser, und ich bezahlte den Taxifahrer, stieg aus dem Taxi und prüfte hunderte von Malen, ob meine Tasche auch sicher an meiner Schulter hing, und ich fuhr mit dem Aufzug in den zwölften Stock, und ich drehte den Schlüssel im Schloss, und ich machte das Licht an - auf der Wanduhr war es siebzehn nach drei.
Alles lief in wahnsinnigem Tempo ab, doch weiterhin mit skrupulöser Vorsicht, ich stellte die Tasche auf den Schreibtisch, öffnete sie und entnahm ihr das, was darin war, ich stellte Gläser bereit, den Aschenbecher, ich zog mich blitzschnell um und einen bequemen, warmen Trainingsanzug an - noch war Zeit, noch ließe sich das schon entfachte Feuer löschen, noch konnte man die beiden im Nachtladen gekauften Flaschen in den Ausguss schütten, sie in den Müll werfen, oder sie sogar durch das geöffnete Fenster schmeißen...
Ich warf mich hin und her und - ja, es ist wahr - dachte noch ans Nichttrinken wie ein Mensch an Selbstmord denkt, der ganz bestimmt keinen Selbstmord begeht: Ja. In der Tiefe meiner Seele wusste ich, dass ich es nicht tun würde. Wenn ich es täte, wenn ich, Gott verhüte es, die beiden im Nachtgeschäft gekauften Flaschen in den Ausguss schütten oder zum Fenster hinauswerfen würde, was hätte ich mit meinem lästerlichen und pharisäerhaften Tun erreicht? Nichts.
Während Jerzy Pilchs ewig alkoholisierter Ich-Erzähler Jurus diese Wahrheit und die meisten mit ihr verbundenen Halb- oder Dreiviertelwahrheiten durchdringt, nimmt er seine Leser mit auf seine Odyssee durch das zeitgenössische Polen. In der trunkenen Phantasie legen sich die Schauplätze übereinander. Wenn Jurus, der Erzähler, aus dem Fenster seiner Wohnung im 12. Stock eines Hochhauses im Stadtzentrum von Warschau schaut, dann sieht er auf Wisla, die schlesische Heimatstadt des Buchautors, ein Provinznest, wo das Heu duftet und der Schäferhund des kürzlich verstorbenen Landarztes in einem Gasthof seine alltägliche Bierration aus einem Blechnapf schlabbert. Auch die Zeit ist ein wenig aus den Fugen geraten. Altertümliche, stromlinienförmige Autos der kommunistischen Ära gleiten an Geldautomaten vorbei, in Polen unmissverständliche Symbole der kapitalistischen Neuzeit. Jurus versinkt in seinem Warschauer Hochhausdomizil im Alkohol und im Rausch der Erinnerung. Jurus landet immer wieder auf der "Delirantenstation", einer irgendwo in der Nähe der polnischen Hauptstadt angesiedelten Heilanstalt, wo eine skurrile Gesellschaft von Ärzten, Pflegern und Patienten abseits der übrigen Menschheit ihren Geschäften nachgeht. Wann Jurus gerade wo ist? Diese Frage ist nie ganz einfach zu beantworten, zumal zwischen privatem Heim und Delirantenstation noch ein Netz von Hilfsdiensten besteht, das die diversen Freundinnen und Bewunderinnen des trinkenden Schriftstellers gespannt haben.
Meine Frauen unterhielten für mich private Ausnüchterungszellen. Ich habe meine Frauen wie Angestellte meiner privaten Entgiftungsstation behandelt. Ich, der Trinker, hatte ein eigenes Netzwerk von Ausnüchterungszellen, deren Leiterinnen meine Verlobten waren - nacheinander oder auch gleichzeitig. Wann immer es nötig war, rief ich an, fuhr hin; wenn ich dazu nicht in der Lage war, kamen sie angefahren und nahmen meinen Kadaver zu sich, und unterzogen ihn einer fürsorglichen Heilung.
Bacha die Maklerin wartete immer mit einer sicheren Bettstatt, Vitaminen, Säften und sogar Infusionen auf mich, und das Völlig Unverantwortliche Rotznäschen war ebenfalls Chefin meiner privaten, sehr ernstzunehmenden Entgiftungsklinik.
Vor allem aber gibt es da die junge schöne Alberta Lulaj, die mit ihren Gedichten, ihrem ungezügelten Ehrgeiz und einem gelben Trägerkleid durch den Roman "Zum Starken Engel" geistert. Alberta Lulaj, die Retterin, mag dieser Engel sein. Allerdings nicht der einzige. Auch eine schlichte Stammkneipe des Erzählers heißt eben so. Und schließlich tritt ein starker Engel auch noch als der Teufel in Person auf, ein mephistophelisches Alter Ego, das den Dichter am Ende seiner Trinkerkarriere noch einmal mit viel Rafinesse zu verführen sucht.
Also umgerechnet in Wodka hast du im Verlauf der letzten zwanzig Jahre dreitausendsechshundertfünfzig Flaschen Wodka ausgetrunken, umgerechnet in heutiges Geld hast du weit über siebzigtausend Zloty vertrunken. Und dazu muß man noch die Taxis rechnen, die Trinkgelder, die kleinen Happen zwischendurch, die verlorenen Geldbeutel, Taschen, Schals, Jacken, Handschuhe, Dokumente, die Kosten für die Entgiftungskuren zu Hause, für die Aufenthalte in den Ausnüchterungszellen, die monströsen Rechnungen für die besoffenen Telefongespräche, die Zinsen, die größeren und kleineren Strafen und die kostenpflichtigen Huren. Und dazu muss man noch mindestens zwei Jahre Trinkerei hinzurechnen, Jurus, denn du hast nicht 1980, als die erste Solidarnosc entstand, so richtig mit dem Trinken angefangen, sondern du, Jurus, hast im Jahre des Herrn 1978, als ein Pole auf den Petersstuhl kam, so richtig angefangen zu trinken, was, selbst wenn man deinen Protestantismus berücksichtigt, eine zufälliges Zusammentreffen ist. Natürlich, wenn du auf mich hören würdest, wenn du alles getreulich notiert hättest, dann müsste diese auf den ersten Blick unglaubliche Summe Geld kein Wahngespinst sein. Wenn du dich ranmachst, könntest du es verdienen, könntest du unser gemeinsames Werk gut verkaufen, könntest du dich sanieren und könntest - denk nur! - weitertrinken.
Jerzy Pilchs Zum Starken Engel ist keiner jener Trinker-Romane, die dem Schicksal ihres Protagonisten mit Abscheu, Mitleid oder Sensationslust nachspüren. Es ist ein Roman, dessen Autor die Trunksucht, die Leidenschaft, die Unberechenbarkeit und das Groteske, dieses Zustands selbst zum Gestaltungsprinzip erklärt hat, und der dieses Prinzip meisterhaft durchführt - so dass wir - nüchtern oder nicht - die Welt eine zeitlang mit anderen Augen betrachten dürfen.
Jerzy Pilch kam 1952 als Kind protestantischer Eltern zur Welt - in der südschlesischen Stadt Wisla unweit der tschechischen Grenze. Ende der achtziger Jahre debütierte er mit einem Band humoresker Erzählungen. Seine Feuilletons, fast immer ironische Kommentare zur Gegenwart, publizierte Pilch lange Zeit in der liberalen katholischen Wochenzeitung "Tygodnik Powszechny", die in Krakau erscheint. Seit 1999 veröffentlicht er sie in dem Warschauer Politmagazin "Polityka". Der Nike-Preis für Jerzy Pilch galt einem Buch, das den tiefen Fall und vermutlichen Wiederaufstieg eines Schriftstellers beschreibt. Unverkennbar bleibt dabei der autobiographische Bezug. Der Roman "Zum Starken Engel", jetzt auch auf deutsch erschienen, ist ein vielschichtiges Werk. Vor allem aber ist es von der ersten bis zur letzten Zeile die Geschichte eines Alkoholikers.
Die Erde war wüst und wirr und der Geist schwebte über dem Wasser, und ich bezahlte den Taxifahrer, stieg aus dem Taxi und prüfte hunderte von Malen, ob meine Tasche auch sicher an meiner Schulter hing, und ich fuhr mit dem Aufzug in den zwölften Stock, und ich drehte den Schlüssel im Schloss, und ich machte das Licht an - auf der Wanduhr war es siebzehn nach drei.
Alles lief in wahnsinnigem Tempo ab, doch weiterhin mit skrupulöser Vorsicht, ich stellte die Tasche auf den Schreibtisch, öffnete sie und entnahm ihr das, was darin war, ich stellte Gläser bereit, den Aschenbecher, ich zog mich blitzschnell um und einen bequemen, warmen Trainingsanzug an - noch war Zeit, noch ließe sich das schon entfachte Feuer löschen, noch konnte man die beiden im Nachtladen gekauften Flaschen in den Ausguss schütten, sie in den Müll werfen, oder sie sogar durch das geöffnete Fenster schmeißen...
Ich warf mich hin und her und - ja, es ist wahr - dachte noch ans Nichttrinken wie ein Mensch an Selbstmord denkt, der ganz bestimmt keinen Selbstmord begeht: Ja. In der Tiefe meiner Seele wusste ich, dass ich es nicht tun würde. Wenn ich es täte, wenn ich, Gott verhüte es, die beiden im Nachtgeschäft gekauften Flaschen in den Ausguss schütten oder zum Fenster hinauswerfen würde, was hätte ich mit meinem lästerlichen und pharisäerhaften Tun erreicht? Nichts.
Während Jerzy Pilchs ewig alkoholisierter Ich-Erzähler Jurus diese Wahrheit und die meisten mit ihr verbundenen Halb- oder Dreiviertelwahrheiten durchdringt, nimmt er seine Leser mit auf seine Odyssee durch das zeitgenössische Polen. In der trunkenen Phantasie legen sich die Schauplätze übereinander. Wenn Jurus, der Erzähler, aus dem Fenster seiner Wohnung im 12. Stock eines Hochhauses im Stadtzentrum von Warschau schaut, dann sieht er auf Wisla, die schlesische Heimatstadt des Buchautors, ein Provinznest, wo das Heu duftet und der Schäferhund des kürzlich verstorbenen Landarztes in einem Gasthof seine alltägliche Bierration aus einem Blechnapf schlabbert. Auch die Zeit ist ein wenig aus den Fugen geraten. Altertümliche, stromlinienförmige Autos der kommunistischen Ära gleiten an Geldautomaten vorbei, in Polen unmissverständliche Symbole der kapitalistischen Neuzeit. Jurus versinkt in seinem Warschauer Hochhausdomizil im Alkohol und im Rausch der Erinnerung. Jurus landet immer wieder auf der "Delirantenstation", einer irgendwo in der Nähe der polnischen Hauptstadt angesiedelten Heilanstalt, wo eine skurrile Gesellschaft von Ärzten, Pflegern und Patienten abseits der übrigen Menschheit ihren Geschäften nachgeht. Wann Jurus gerade wo ist? Diese Frage ist nie ganz einfach zu beantworten, zumal zwischen privatem Heim und Delirantenstation noch ein Netz von Hilfsdiensten besteht, das die diversen Freundinnen und Bewunderinnen des trinkenden Schriftstellers gespannt haben.
Meine Frauen unterhielten für mich private Ausnüchterungszellen. Ich habe meine Frauen wie Angestellte meiner privaten Entgiftungsstation behandelt. Ich, der Trinker, hatte ein eigenes Netzwerk von Ausnüchterungszellen, deren Leiterinnen meine Verlobten waren - nacheinander oder auch gleichzeitig. Wann immer es nötig war, rief ich an, fuhr hin; wenn ich dazu nicht in der Lage war, kamen sie angefahren und nahmen meinen Kadaver zu sich, und unterzogen ihn einer fürsorglichen Heilung.
Bacha die Maklerin wartete immer mit einer sicheren Bettstatt, Vitaminen, Säften und sogar Infusionen auf mich, und das Völlig Unverantwortliche Rotznäschen war ebenfalls Chefin meiner privaten, sehr ernstzunehmenden Entgiftungsklinik.
Vor allem aber gibt es da die junge schöne Alberta Lulaj, die mit ihren Gedichten, ihrem ungezügelten Ehrgeiz und einem gelben Trägerkleid durch den Roman "Zum Starken Engel" geistert. Alberta Lulaj, die Retterin, mag dieser Engel sein. Allerdings nicht der einzige. Auch eine schlichte Stammkneipe des Erzählers heißt eben so. Und schließlich tritt ein starker Engel auch noch als der Teufel in Person auf, ein mephistophelisches Alter Ego, das den Dichter am Ende seiner Trinkerkarriere noch einmal mit viel Rafinesse zu verführen sucht.
Also umgerechnet in Wodka hast du im Verlauf der letzten zwanzig Jahre dreitausendsechshundertfünfzig Flaschen Wodka ausgetrunken, umgerechnet in heutiges Geld hast du weit über siebzigtausend Zloty vertrunken. Und dazu muß man noch die Taxis rechnen, die Trinkgelder, die kleinen Happen zwischendurch, die verlorenen Geldbeutel, Taschen, Schals, Jacken, Handschuhe, Dokumente, die Kosten für die Entgiftungskuren zu Hause, für die Aufenthalte in den Ausnüchterungszellen, die monströsen Rechnungen für die besoffenen Telefongespräche, die Zinsen, die größeren und kleineren Strafen und die kostenpflichtigen Huren. Und dazu muss man noch mindestens zwei Jahre Trinkerei hinzurechnen, Jurus, denn du hast nicht 1980, als die erste Solidarnosc entstand, so richtig mit dem Trinken angefangen, sondern du, Jurus, hast im Jahre des Herrn 1978, als ein Pole auf den Petersstuhl kam, so richtig angefangen zu trinken, was, selbst wenn man deinen Protestantismus berücksichtigt, eine zufälliges Zusammentreffen ist. Natürlich, wenn du auf mich hören würdest, wenn du alles getreulich notiert hättest, dann müsste diese auf den ersten Blick unglaubliche Summe Geld kein Wahngespinst sein. Wenn du dich ranmachst, könntest du es verdienen, könntest du unser gemeinsames Werk gut verkaufen, könntest du dich sanieren und könntest - denk nur! - weitertrinken.
Jerzy Pilchs Zum Starken Engel ist keiner jener Trinker-Romane, die dem Schicksal ihres Protagonisten mit Abscheu, Mitleid oder Sensationslust nachspüren. Es ist ein Roman, dessen Autor die Trunksucht, die Leidenschaft, die Unberechenbarkeit und das Groteske, dieses Zustands selbst zum Gestaltungsprinzip erklärt hat, und der dieses Prinzip meisterhaft durchführt - so dass wir - nüchtern oder nicht - die Welt eine zeitlang mit anderen Augen betrachten dürfen.