Jan Drees: Als Inge Schönthal wurde Feltrinelli am 24. November 1930 in Essen geboren - als Tochter des deutschen Juden Siegried Schönthal. Als sogennanter jüdischer Mischling musste Feltrinelli kurz vor Kriegsende das Gymnasium verlassen. Sie arbeitete zunächst als Fotografin, berühmt wurde sie 1953 mit einem Foto von Ernest Hemingway, den sie auf Kuba besuchte im Auftrag des Rowohlt-Verlags. Als Inge Feltrinelli im Jahr 2011 die Karlsmedaille für europäische Medien verliehen wurde, erinnerte sie noch einmal an dieses prägende Ereignis:
"Dieses Foto habe ich selbst gemacht mit einem Selbstauslöser, und das wurde dann mein großer Coup, wurde im 'Paris Match', 'Picture Post', die ganze Welt hat mich gedruckt, und dann wurde ich zu Picasso geschickt und Simone de Beauvoir und habe da meine Reporterkarriere gemacht."
Drees: 1958 lernte die gerade eben gehörte Inge Feltrinelli den italienischen Jungverleger Gian Giacomo Feltrinelli kennen, der sein Millionenerbe in die Unterstützung von Kommunisten steckte. 1960 folgte sie ihm nach Mailand, wurde seine dritte Frau und übernahm den Verlag Feltrinelli nach dem Tod ihres Mannes 1972. Die Wagenbach-Verlegerin Susanne Schüssler hat vielfach Bücher von Feltrinelli eingekauft für das deutsche Programm. Mit Susanne Schüssler habe ich vor der Sendung gesprochen und sie eingangs gefragt, was Inge Feltrinelli als Geschäftsfrau so bemerkenswert und erfolgreich gemacht hat.
Susanne Schüssler: Dass sie in erster Linie nicht Geschäftsfrau war, sondern eine glühende Verehrerin von Literatur und Buch. Also sie hat das um der Sache willen, nicht um des Geschäfts willen gemacht. Als sie 1972 in den Verlag eingetreten ist oder die Führung des Verlags übernommen hat, hat sie das gegen sehr große Widerstände von allen Seiten getan, und sie wollte aber, dass der Verlag und dass die Buchhandlungen nicht untergehen und hat einfach versucht, sich gegen diese ganzen Widerstände durchzusetzen, und es ist ihr gelungen. Also der eigentlich Grund, warum sie erfolgreich war und sehr viel bewegen konnte in ihrem Leben, nicht nur den Verlag und die Buchhandlungen weiterzuführen, sondern auch anderen Dinge, war, dass sie um der Sache willen gekämpft hat und nicht um des Erfolgs willen.
"Sie hat eine Buchhändlerschule gegründet"
Drees: Frau Schüssler, als Verlegerin von Wagenbach haben Sie vermutlich häufig zu tun gehabt mit Ihrer Kollegin Inge Feltrinelli. Wie haben Sie zusammengearbeitet?
Schüssler: Also Inge Feltrinelli war für mich nicht nur eine Kollegin, sondern vor allem ein großes Vorbild. Ich habe sie vor über 30 Jahren kennengelernt, und sie hatte Eigenschaften, die mir sofort ins Auge gesprungen sind, nämlich, erstens, dass sie jemand war, der Gleichgesinnte zusammenbrachte, also sie war eine große Menschenverbinderin, und sie war auch jemand, die - das tun nicht alle Frauen - Frauen gefördert hat, also sie hat immer versucht, Frauen auch den Mut zu geben, zu sagen, mach das, wenn du Lust hast, tu das, und du hast die Chance, und du kannst es. In all den Jahren haben wir natürlich viele Autoren gemeinsam gehabt und viele Projekte gemeinsam gehabt, aber diese beiden Dinge, das war für mich immer so etwas, woran ich mich orientiert habe und was ich unendlich an ihr bewundere.
Drees: Welche Projekte haben Sie gemeinsam angestoßen, an welchen Projekten haben Sie gearbeitet?
Schüssler: Also es gab zum Beispiel den Versuch von ihr – und den haben wir hier sehr unterstützt –, es gab den Versuch von ihr, in Italien eine Buchhändlerschule zu gründen. In Italien gab es keine wirkliche Ausbildung. Es gibt ja sowieso in Italien nicht diese klassische Lehre, die es in Deutschland gibt. Das hat sie sich angeguckt, und da sie ja Deutsche war, hat sie immer versucht, die guten Dinge, die es hier in Deutschland gab, nach Italien zu importieren. Also sie hat sich die Buchhändlerschulen angeguckt und hat gesagt, wir brauchen ein Fortbildung, eine Ausbildung für Buchhändler und hat in Venedig mit anderen zusammen eine Buchhändlerschule gegründet, und bei dieser Gründung dieser Schule und bei dem Aufbau dieser Schule haben wir sie sehr unterstützt. Es gab Vorträge von uns auch dort in der Schule.
Also das heißt, sie hat da etwas für die ganze Branche getan, für das Buch getan, und das italienische Buchhandelssystem ist ja nicht vergleichbar mit dem deutschen, aber da sie das deutsche kannte und da sie eine sehr internationale Person war – sie ist ja sehr viel gereist, sie kannte sich in Frankreich gut aus, sie kannte aber auch die Vereinigten Staaten sehr gut –, hat sie versucht, immer die guten Sachen nach Italien zu holen, und das ist auch ein, denke ich, großes Verdienst von ihr gewesen, dass sie sich eben nicht nur um ihren Verlag, um ihre Buchhandlung gekümmert hat, sondern dass sie immer auch für die ganze Branche und vor allem für das Buch gesprochen hat, wobei, wenn ich das Buch sage, meine ich jetzt nicht nur das gedruckte Buch. Das war ihr schon wichtig, und sie hat auch immer sehr viel Wert auf schicke Bücher gelegt und auf tolle Covergestaltungen, aber für sie zählte schon auch das elektronische Buch.
Also es ging immer um die Auseinandersetzung mit den Inhalten, und wenn man sich das so anguckt, was sie geschafft hat mit den Buchhandlungen: Man muss sich ja Italien ganz anders als Deutschland vorstellen. In Italien gibt es Städte, wo eigentlich gar keine Buchhandlung war und wo nichts war, also oft im Süden war das sehr mühsam, und da hat sie trotz dieser ganzen Schwierigkeiten auch dort hin Buchhandlungen gebracht, hat Buchhandlungen eröffnet, und die Art der Buchhandlungen war so, dass sie erfolgreich waren.
Drees: Da gibt es sogar einen O-Ton, den haben wir herausgesucht, in dem Inge Feltrinelli genau das noch mal erläutert, was diese Buchhandlungen unterscheidet.
Feltrinelli: Früher gab es ja in Italien immer den Spruch, wenn man reinkam, kam ein strenger Buchhändler und sagte desidera, was wünschen Sie, in solchem Befehlston, dann gingen die Leute sofort wieder raus. Das ist alles bei uns anders, und ich glaube, das ist schon eine wichtige Leistung von uns.
Sie wollte mit ihren Buchhandlungen junge Leute ansprechen
Drees: Welche Bedeutung kann man denn diesen italienischen Feltrinelli-Buchhandlungen oder Kulturkaufhäusern zusprechen, durchaus auch für das intellektuelle Leben des Landes?
Schüssler: Erstaunlich ist ja, wenn Sie heute in eine Feltrinelli-Buchhandlung gehen – also ich war gerade vor einer Woche in Neapel in der Feltrinelli-Buchhandlung, die ist riesengroß –, und Sie kommen dort hinein, und der erste Eindruck – das merken Sie nicht – ist, dass Sie hineinwollen. Das ist sehr clever gemacht, weil es hinten nämlich heller ist als vorne. Das heißt, Sie gehen nicht in ein dunkles Loch, wo Sie etwas erwartet, von dem Sie nicht wissen, was es vielleicht sein kann, sondern Sie gehen in das Helle. Also das heißt, Sie haben eine wunderbar ausgeleuchtete, helle, fröhliche, farbenfrohe Buchhandlung, und in dieser farbenfrohen Buchhandlung haben Sie nicht nur freundliche Buchverkäufer, die kompetent sind, sondern Sie haben auch immer ein Café, einen Ort, wo man sich treffen kann, wo man sich hinsetzen kann und Bücher angucken kann. Mir ist wieder aufgefallen in Neapel, dass in diesem Café, das rappelvoll war, lauter junge Leute saßen. Also das heißt, sie haben genau das geschafft mit den Buchhandlungen, worum wir eigentlich alle in der ganzen Branche, egal in welchem Land kämpfen: Sie haben die jungen Leute angesprochen, weil wir leben ja alle damit, dass die Buchleser immer älter, immer älter werden, und dieses Konzept, die jungen Leute anzusprechen, ist großartig und ist vor allem auch gelungen. Also da müssen wir hier in Deutschland noch sehr arbeiten, dass wir dort hinkommen.
Drees: Das Leben der Verlegerin Inge Feltrinelli liest sich schon selbst fast wie ein Roman, und sie hatte – Sie beschreiben das ja gerade eben auch selbst – einen bemerkenswerten Sinn für Strömungen des Zeitgeistes. Gehen wir noch mal zurück: Inge Feltrinelli hat die zunächst dezidiert linke bis kommunistische Ausrichtung ihres Mailänder Verlags in den 1970er-Jahren erweitert, beispielsweise um ökologische und feministische Themen. Lassen Sie uns spekulieren: Auf welche Weise hat Inge Feltrinellis Biografie Einfluss gehabt auf spätere verlegerische Entscheidungen?
Schüssler: Sie hat immer einen Sinn dafür gehabt, die richtigen Personen in den Verlag zu holen und war immer neugierig, und das ist, glaube ich, entscheidend. Natürlich ist der Kampf, der in den 70er-Jahren geführt wurde, speziell auch in Italien, ein anderer gewesen als der, den wir dann in den 80er- und 90er-Jahren erlebt haben, und auch jetzt ist Italien natürlich in einer sehr, sehr schwierigen Lage, und sie selbst ist immer jemand gewesen, die einen großen Sinn dafür hatte, was jetzt gerade nötig ist und was man braucht. Dann gab es mal eine Reihe für eher philosophische Dinge, dann gab es eine Reihe Auseinandersetzungen mit anderen Ländern und so weiter. Das heißt, es wurde immer wieder was neu in den Verlag genommen, was die Zeit gebraucht hat, und da hat sie eine große Begabung, Menschen zu finden, die die richtigen waren, diese Dinge durchzusetzen und zu machen. Sie war jemand, der unendlich Energie ausgestrahlt hat. Also wenn sie kam, dann flogen überall die Türen auf, und es kam orangefarbener großer Tupfen ins Zimmer, sie war immer in Orange gekleidet, und Inge war da, die Sonne ging auf, und sie rief "Champagner!", das war immer so das erste, was sie wollte. Das heißt, sie hat auch immer versucht, das Leben von der positiven Seite zu nehmen, obwohl sie selbst extrem diszipliniert war, um ihre Vorstellungen und ihre Ziele durchzukämpfen. Also das habe ich an ihr auch sehr geschätzt, dass sie so diese fröhliche Komponente immer nicht zu kurz kommen hat lassen.
Drees: Das sagt die Wagenbach-Verlegerin Susanne Schüssler, mit der ich gesprochen habe über die Mailänder Verlegerin Inge Feltrinelli, die am heutigen Donnerstag 87-jährig gestorben ist.
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