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Zum Tod des Historikers Hans Mommsen
Doyen der deutschen Geschichtsschreibung

Hans Mommsen avancierte, was die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus anging, zu einem der führenden, wenn nicht zu dem führenden Historiker in Deutschland. Am 5.11.2015, an seinem 85. Geburtstag, ist Hans Mommsen gestorben.

Von Wolfgang Stenke | 06.11.2015
    "Man kann natürlich aus der Geschichte keine Gesetze für das gegenwärtige Handeln ableiten, andererseits ist es richtig, dass die Beschäftigung mit dem ganzen Komplex des Nationalsozialismus stets bestimmte Implikationen für die unmittelbare Gegenwart, für die politische Kultur, für das Geschichtsbewusstsein hat."
    Hans Mommsen war Historiker durch und durch. Bei aller Skepsis gegen den kurzschlüssigen Versuch, aktuelle politische Rezepte aus der Vergangenheit herzuleiten, wurde seine Arbeit doch von der Überzeugung bestimmt, dass ohne historische Studien ein tieferes Verständnis der Gegenwart nicht möglich sei.
    "Aber manchmal würde ich ja hoffen, dass es doch noch ein paar (...) Leser meiner Dissertation über die Nationalitätenfrage in der Habsburgischen Monarchie gäbe, denn daraus müßte man eigentlich schlussfolgern können, dass es völlig hoffnungslos ist, ethnisch homogene Gebiete schaffen und dadurch die Nationalitätenkonflikte lösen zu können, wie man das ja zunächst in dem Jugoslawienkonflikt angestrebt hat."
    Hans Mommsen stammte aus einer Familie großer Gelehrter. Der berühmte Althistoriker und Literaturnobelpreisträger Theodor Mommsen war sein Urgroßvater. Den Beruf des Historikers wählten auch sein Vater Wilhelm und der 2004 gestorbene Zwillingsbruder Wolfgang.
    Die Mommsen-Zwillinge, geboren am 5. November 1930, gehörten wie Hans-Ulrich Wehler, Jürgen Habermas, Thomas Nipperdey oder Jürgen Kocka zu einer Kohorte von Geschichts- und Sozialwissenschaftlern, die in der Bundesrepublik weit über die akademischen Zirkel hinaus die historisch-politischen Diskurse geprägt hat: Kritisch gegen fragwürdige Traditionsbestände der deutschen Gesellschaft, entschieden demokratisch (mit Sympathien für die SPD), intellektuell überaus vital und von großer Lust an produktivem Streit. Ob sie nun die Geschichte des Wilhelminischen Kaiserreichs erforschten, das Scheitern der Weimarer Demokratie oder den Staat Hitlers: Gemeinsames Erkenntnisinteresse dieser Historikergeneration war die Frage nach den Kontinuitäten und den Bruchlinien des deutschen Nationalstaates, die zum Absturz in die nationalsozialistische Barbarei führten.
    Hans Mommsen, der 1968 an die junge Bochumer Reformuniversität ging und dort drei Jahrzehnte lehrte, warf sich auf die Geschichte der Arbeiterbewegung und des NS-Systems. Während das Gros der Zeitgenossen sich mit der Allmacht des "Führers" zu exkulpieren suchte, lenkte Hans Mommsen das Augenmerk auf die Strukturen des NS-Systems. Am Beispiel der Zwangsarbeit im Volkswagenwerk erforschte er mit seinem Team die NS-Rüstungspolitik. Im Streit zwischen "Funktionalisten" und "Intentionalisten" verfocht Hans Mommsen die These von der nationalsozialistischen "Polykratie". Der Nationalsozialismus sei ein Herrschaftssystem gewesen, in dem konkurrierende Instanzen – Partei, Wehrmacht, SS, Planungsbürokratie - unter Berufung auf Hitlers diffuse Vorstellungen ihre jeweiligen Interessen verfolgten. – Hans Mommsen:
    "(Der) beständige Wettlauf um die Gunst des Führers (...) veranlaßte fast alle hohen Funktionäre des Regimes, sich durch die Propagierung radikaler Maßnahmen hervorzutun, sofern sie auf der Linie der Hitlerschen ideologischen Tiraden lagen."
    Ergebnis war nach Hans Mommsens Interpretation die "kumulative Radikalisierung" der NS-Politik, vor allem in der Ausgrenzung und Verfolgung der Juden. Ein Prozess, der nach Beginn des Weltkrieges in den Holocaust mündete. – Hans Mommsen:
    "Man kann den Nationalsozialismus nicht auf Hitler reduzieren, und man darf nicht denken, dass Hitler gleichsam (...) der innere Kern des gesamten Geschehens allein gewesen ist, er muß im Kontext beurteilt werden."
    Diese Frontstellung gegen die These von Hitlers Allmacht führte Hans Mommsen zur Akzentuierung systemischer Elemente des NS-Regimes. Der kühle Blick des Historikers auf das Funktionieren des Systems hat dem Doyen der deutschen Zeitgeschichtsforschung aus den Reihen jüngerer Kollegen den Vorwurf eingetragen, er habe den jüdischen Opfern der Nationalsozialisten zu wenig Empathie entgegengebracht. Wer diesen engagierten Citoyen je persönlich in Debatten über den Zivilisationsbruch erlebt hat, für den der Name Auschwitz steht, der weiß, dass dieser Anwurf zutiefst ungerecht war. Hans Mommsen wollte genau wissen, wie es zu Auschwitz kommen konnte. Um die Antwort hat dieser international bedeutende Gelehrte Zeit seines Lebens mit der größtmöglichen intellektuellen Anstrengung gerungen. Nicht nur die Zunft der Historiker wird ihn vermissen.