Dienstag, 16. April 2024

Archiv

Zum Tod von Gerlind Reinshagen
Unermüdliche Fragerin

Sie war die erste deutsche Theaterautorin nach dem Krieg, schrieb Prosa - und als sie über 90 war, erschienen ihre Gedichte. Als Dramatikerin hatte Gerlind Reinshagen entscheidenden Einfluss auf das Theater der späten sechziger und siebziger Jahre. Jetzt ist sie im Alter von 93 Jahren in Berlin gestorben.

Von Dorothea Dieckmann | 11.06.2019
Auf Gerlind Reinshagens Website fand sich ein Comic, in dem die junge Gerlind ermahnt wird, etwas Anständiges zu lernen. Sie jedoch ging 1953 nach einem Pharmaziestudium auf die Berliner Kunstakademie und fing an, Kinderbücher und Hörspiele zu schreiben, bevor sie das erste Theaterstück verfasste.
"Ich hatte vorher zehn oder zwölf Hörspiele gemacht, und ich wollte das mal sehen. Ich war mal ab und zu im Theater, wie jeder ins Theater geht, und hatte keine Ambitionen, aber dann wollte ich’s gern mal sehen. Außerdem ist das Hörspiel auch irgendwo beschränkt. Man hat es sehr leicht, weil man die Standorte wechseln kann und so - Theater ist eine größere Herausforderung, und das kam dann so von alleine."
Erste weibliche Theaterautorin nach dem Krieg
Als im Jahr 1968 mit "Doppelkopf" ihr erstes Stück unter der Regie von Claus Peymann aufgeführt wurde, war Reinshagen die erste weibliche Theaterautorin nach dem Krieg. Bald folgten weitere Stücke. Gerade weil sie auf große politische Gesten und prominente historische Figuren verzichtete und stattdessen in den Alltag der Arbeitswelt eintauchte, war Reinshagens Theaterproduktion rauer und akuter als das politische Dokumentartheater jener Zeit. Das Bühnendebüt war auch in anderer Hinsicht innovativ:
"Das war ganz ulkig, da wurde man ein bisschen angesehen wie ein Monster. Und ja, da haben sie alle gesagt: Wie ist denn das möglich, und woher weiß die denn das und kann denn eine Frau sowas - es war ziemlich schwierig. Aber andererseits hatte man natürlich auch die Aufmerksamkeit, die vielleicht andere Theaterautoren dann im Anfang nicht haben. Vielleicht hat man gedacht, Frauen müssten Salonstücke schreiben - und dies war eine ziemlich harte Geschichte."
Berlin als eine Art Hauptfigur
Elf Theaterstücke wurden zwischen 1968 und 1999 uraufgeführt - Dramen, in denen, wie Reinshagen schrieb, die "beiden Partner des Theaters" - die Bühne und das Publikum - "ihre müde Ehe revidieren, also wieder miteinander reden müssen". Zugleich wandte sie sich der Prosa zu. 1981 erschien ihr erster Roman "Rovinato oder die Seele des Geschäfts". Hier und in den folgenden Romanen, in denen Reinshagens Wohnort Berlin eine Art Hauptfigur darstellt, entwickelte die Schriftstellerin einen Erzählstil, der Leichtfüßigkeit mit Reflexion und Realistik mit Phantastik verbindet.
2006 kehrte sie in dem Roman "Vom Feuer" zum Thema ihres vielgerühmten Stücks "Sonntagskinder" - der Nachkriegszeit - zurück: "Nach dem Krieg war überhaupt alles wunderbar. Wenn man sich ein Fetzchen Stoff kaufen konnte und eine Bluse nähen - es war alles irre schön. Oder wenn wir tanzen gehen konnten. Das sagen alle, die jetzt so alt sind wie ich: Mein Gott, nach dem Krieg, wie war die Zeit - als ob du jeden Tag Geburtstag hast oder ein Geschenk kriegst oder was Neues zu essen kriegst nach den Hungerjahren oder dir ein Paar Seidenstrümpfe kaufen kannst, das war auch sehr wichtig."
Überraschend, ja ketzerisch erscheint diese Erinnerung an eine Jugend, die in den Trümmern einer Stadt und einer Ideologie einen anarchischen Anfangszauber erlebt. "Sind wir denn auf dem Kopf gegangen?" fragt die Erzählerin. Tatsächlich, die Figuren leben am Abgrund wie Büchners Lenz; sie tragen, wie es heißt, "den Tod im Rücken". Dieser Ausnahmeroman über die unmittelbare Zeit nach dem Krieg, ein heiterer Totentanz und ein Gespräch der Überlebenden mit den Toten, beschreibt ein verrücktes Glück. Aber was ist Glück?
"Keinesfalls und niemals ist es etwas Rollendes, auch nichts Lautes, nichts Schreiendes, Atemloses. Atemlos vor Glück? Schon eher gleicht es einem Apfel, einer Glocke, aber gesprungen, einem Glas, das nicht nachklingt", heißt es in dem Roman "Rovinato".
Mit 91 Jahren Gedichte veröffentlicht
Mit der ihr eigenen Kühnheit und Bescheidenheit hat Reinshagen die Menschen aus nächster Nähe dabei beobachtet, wie sie in ihren Bedrängnissen, Zwängen und Verlusten nach dem gebrochenen Klang des Glücks suchen. Trost und Hilfe findet dabei die Protagonistin des Romans "Göttergeschichte" im Gespräch mit den Stimmen verehrter und gefürchteter Toter, von Emiliy Brontë bis Virginia Woolf, von Robert Walser bis Isaak Babel. Die künstlerischen Ahnen, die Reinshagen hier anruft, sind einerseits Frauen, andererseits Schöpfer einer kleinen, unheroischen Literatur. Sie war überzeugt, dass es in der Literatur nicht auf Antworten ankommt, nicht auf Lösungen, sondern auf die eigenen Fragen:
"Eigentlich glaube ich, dass alle Literatur aus sowas entspringt, aus einer Frage, die man noch nicht gelöst hat für sich selbst."
Nie hat Gerlind Reinshagen aufgehört zu fragen. Ihr Roman "Vom Feuer" erschien, als sie 80, ihre Gedichte, als sie 91 Jahre alt war. Sie hat ein Alter erreicht, in dem man von den Jüngeren oft mehr oder minder unterschwellig schon für tot erklärt wird. Sie hat das einmal in entschiedenem Ton zurückgewiesen:
"Der Kampf um jedes Stückchen Leben beginnt mit der Erfahrung, dass man alt wird. Dass man alt ist."
Jetzt ist Gerlind Reinshagen auf die andere Seite gegangen und damit in das Bild eingetreten, das ihren Gedichtband abschließt: "Es ist nur / Ein Schritt / Nein / Kaum / Eine Bewegung / Im Kopf / Und es springt / Der gläserne Reif / Einströmen kann es nun / Endlich / Der Ozean".