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Zum Tod von Hans-Ulrich Wehler
Leidenschaftlicher Polemiker, harter Arbeiter

Der Historiker Hans-Ulrich Wehler hinterlässt ein großes Erbe. Er gehörte zu einer Generation Intellektueller, ohne deren historisch-politische Aufklärung die Bundesrepublik keine stabile Demokratie geworden wäre. Er öffnete der Geschichtswissenschaft den Blick auf die Dimensionen des Gesellschaftlichen.

Von Wolfgang Stenke | 07.07.2014
    Der Historiker Hans-Ulrich Wehler
    Der Historiker Hans-Ulrich Wehler (picture alliance / dpa / Matthias Benirschke)
    "Die Vorstellung von einer historischen Sozialwissenschaft oder einer neuen Sozialgeschichte, (...) die lebte von der Stoßrichtung gegen die Vorherrschaft einer Politikge¬schich¬te, die sich im wesentlichen auf Innen- und Außenpolitik konzentrierte, und in der das Individualitätsprinzip gewissermaßen ein Monopol besaß."
    Am Anfang stand der Angriff auf die Grundfesten der traditionellen deutschen Fachhistorie. Gegen die Mystifizierung des Staates und seiner vermeintlich großen Lenker setzte Hans-Ulrich Wehler den "Primat der Innenpolitik" und die Konzentration auf die Sphäre der Gesellschaft - seine Konzeption einer kritischen historischen Sozialwissenschaft:
    "Und das hat dazu geführt, dass bei der Attacke - das hängt auch mit generationsspezifischen Erfahrungen zusammen - drei Dimensionen vor allem betont wurden: Das war die soziale und die ökonomische und die politische Dimension."
    Dimensionen des Gesellschaftlichen
    Diese "generationsspezifischen Erfahrungen" - die frühe Jugend unter dem Nationalsozialismus - teilte Wehler, ein ehemals gläubiger Hitlerjunge des Jahrgangs 1931, mit Altersgenossen wie dem Philosophen Jürgen Habermas - sie gingen in Gummersbach auf dasselbe Gymnasium. Oder dem Soziologen Ralph Dahrendorf, den Historikerkollegen Reinhart Koselleck, Hans und Wolfgang Mommsen: Eine Kohorte öffentlich wirksamer Intellektueller, die unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Katastrophe zu Exponenten einer historisch-politischen Aufklärung wurden, ohne die die Bundesrepublik keine stabile Demokratie geworden wäre.
    Wehler öffnete der Geschichtswissenschaft einen neuen Blick auf die Dimensionen des Gesellschaftlichen: Klassen, Eliten, Interessenpolitik, Institutionen, die Verschränkung von Innen- und Außenpolitik im deutschen Imperialismus. Dies mit dem Ziel, jene Kontinuitäten der deutschen Geschichte dingfest zu machen, die in den nationalsozialistischen Zivilisationsbruch mündeten.
    Wehlers Theorien über den "deutschen Sonderweg" in die Moderne haben Schule gemacht. Ihre plakativste Ausformung hat diese Sozialgeschichte Bielefelder Observanz 1973 in Wehlers Buch "Das Deutsche Kaiserreich 1871 - 1918" gefunden. Was der knapp 40-Jährige damals so provokant formulierte, hat er später, in seiner monumentalen, fünfbändigen "Deutschen Gesellschaftsgeschichte", die vom "Heiligen Römischen Reich" bis zur Wiedervereinigung reicht, differenziert:
    "Der Preis, den man für diese Konzentration bezahlt hat (...) ist die eklatante Vernachlässigung der Kultur (...). Und nun gibt es eine Vielzahl von Versuchen, um sich an diesen großen und ziemlich amorphen Bereich der Kultur heranzubewegen - ob man das nun tut mithilfe der Mentalitätsgeschichte (...) oder eine Dimension, die wir auch mindestens auch zwei Jahrzehnte lang unterschätzt haben, die Geschlechtergeschichte (...). Mir fällt das sehr schwer, deshalb tauchen bei mir auch diese Institutionen auf und nicht genuin kulturelle Phänomene, wie zum Beispiel die Veränderung der politischen Sprache oder die Veränderung des ideologischen Systems des Nationalismus von innen her, den Sozialdarwinismus, die Naturalisierung der Nation."
    Kontroverse über Vergangenheit seines Lehrers Theodor Schieder
    Wehler kam aus der besten Schule des deutschen Neo-Historismus, dem Kölner Seminar von Theodor Schieder, ist aber zugleich stark an amerikani¬schen Universitäten sozialisiert worden, die er schon in den 1950er-Jahren als Fulbright-Stipendiat besuchen durfte. Der jüdische Emigrant Hans Rosenberg hat ihn in die Sozialgeschichte eingeführt. Der junge Marx und Max Weber waren die geistigen Ziehväter.
    Die Kölner Herkunft verstrickte Wehler 1998 in die Kontroverse um die nationalsozialistische Vergangenheit seines Lehrers Theodor Schieder. Ein Streit, in dem Wehler, selbst schon Emeritus, sich vorwarf, in den 60er-Jahren nicht entschiedener nach den volkstumspolitischen Arbeiten seines Doktorvaters gefragt zu haben.
    Als engagierter "public intellectual" hat Hans-Ulrich Wehler in dieser Republik viele Debatten bestritten. Seine Interventionen haben dafür gesorgt, dass die Historiografie "im geistigen Haushalt des Landes" eine herausragende Rolle erlangte - vom "Historikerstreit" über die Einordnung der NS-Judenvernichtung in die deutsche Geschichte bis zu seiner entschiedenen Ablehnung der Aufnahme der Türkei in die Europäische Union. Er war ein leidenschaftlicher Polemiker, aber freundlich im persönlichen Umgang, geschult an amerikanischer Diskussionskultur. Ein harter Arbeiter, frei nach Weber geübt im langsamen Bohren dicker Bretter. Wenn man den eigenen Kindern einen akademischen Lehrer backen könnte, dann müsste er die Statur dieses Bielefelder Professors haben: Ein Gelehrter, der ganz selbstverständlich ins häusliche Bücherregal griff, um seinem Studenten die jüngste Studie eines amerikanischen Kollegen zu borgen.