Mittwoch, 24. April 2024

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Zum Tod von Kardinal Karl Lehmann
"Ein Mann mit langem Atem"

Kardinal Karl Lehmann ist tot. "Er war sicherlich einer der ganz Großen des letzten und diesen Jahrhunderts", sagte der Fundamentaltheologe Magnus Striet im Dlf. Er sei ein "vorsichtiger Liberalisierer" gewesen, der seine Kirche vorangebracht habe.

Magnus Striet im Gespräch mit Andreas Main | 12.03.2018
    Kardinal Lehmann steigt lachend aus seinem Wagen.
    Er lachte gern und laut - Kardinal Lehmann ist tot (Bernd Thissen, picture alliance / dpa)
    Andreas Main: Karl Rahner, Herbert Vorgrimler, Hans Küng - in diese Reihe gehört auch Karl Lehmann, Theologen, die wichtig waren für die nachfolgenden Theologen-Generationen. Etwa für Magnus Striet. Er ist Jahrgang 1964 und Professor für Fundamentaltheologie in Freiburg. Herr Striet, wie hat Kardinal Lehmann Ihr Denken geprägt?
    Magnus Striet: Ja, Kardinal Lehmann hat mein Denken von Anfang an geprägt. Er war in der Zeit, als ich angefangen habe zu studieren, einer der ganz Großen bereits im deutschsprachigen Raum. Kardinal Lehmann galt immer als ein vorsichtiger Liberalisierer der katholischen Kirche. Er war nie in einem Extrem, aber versuchte, die Theologie in der Gegenwart gesprächsfähig zu bekommen. Und in dieser Hinsicht war er sicherlich einer der ganz, ganz Großen des letzten und diesen Jahrhunderts.
    Main: Was mir zentral erscheint: Karl Lehmann war von 1964-1967, also als 30-Jähriger, an den Universitäten München und Münster wissenschaftlicher Assistent des Jesuiten und Konzilstheologen Karl Rahner. Wie stark war aus Ihrer Sicht Rahners Einfluss auf Lehmann?
    Striet: Ja, der Einfluss war entscheidend. Man muss wissen, dass Kardinal Lehmann ja auch einer der beratenden Theologen Karl Rahners während der Konzilszeit gewesen ist. Das heißt, man darf davon ausgehen, dass Kardinal Lehmann sehr, sehr genau beobachtet hat, wie die Denkprozesse auf dem Konzil gelaufen sind. Und das hat ihn ganz stark beschäftigt. Also, Lehmann hat sicherlich probiert, auf dem Weg Rahners weiterzudenken und die Kirche dann tatsächlich in die Phase nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu führen.
    "Er hat konsequent an diesem Aufbruch weitergearbeitet"
    Main: Was war wichtig für Kardinal Lehmann am Zweiten Vatikanischen Konzil? War es als Ganzes wichtig - oder waren es bestimmte Punkte wie etwa die Liturgie-Reform oder das Bild von der Kirche?
    Striet: Man muss sehen, dass die katholische Kirche durch die Lernprozesse, die das 19. Jahrhundert ausgelöst hatte, in einer völligen Verkrustung geendet war. Und bereits in der vorkonziliaren Zeit gab es die ersten Aufbrüche. Kardinal Lehmann sah natürlich sehr genau, dass die Kirche nur dann eine Zukunft haben würde, wenn sie sich entsprechend modernisierte. Das war ganz sicherlich die Erneuerung der Liturgie, das war ganz sicherlich der ökumenische Aufbruch, den das Konzil bedeutete, aber das war vielleicht noch mehr das Sich-Öffnen der Kirche auf moderne Prinzipien des Denkens: Anerkennung der Religionsfreiheit, die tatsächliche Ernstnahme der Weltwirklichkeiten, das Sich-Öffnen für die modernen Wissenschaften. Alles das verkörperte für ihn das Zweite Vatikanische Konzil, und er hat konsequent an diesem Aufbruch weitergearbeitet.
    "Seine große Sorge: eine De-Intellektualisierung der Kirche"
    Main: Karl Lehmann war 20 Jahre lang an Universitäten aktiv - als Forschender und als Lehrender, zum Schluss als Dogmatik-Professor. Erst dann wird er also 1983 zum Bischof ernannt. Das ist eine Karriere, die heute untypisch ist. Also erst Theologieprofessor, dann Bischof. Welche Folgen hat das für die katholische Kirche?
    Striet: Ja, wenn ich das nochmals auf Kardinal Lehmann beziehen darf, er ist bis zum Schluss ein großer Theologe geblieben. Sein Schriftenverzeichnis verzeichnet über 4 000 Veröffentlichungen. Das ist eine unvorstellbare Zahl. Und er hat tatsächlich bis ins hohe Alter hinein immer wissenschaftliche Theologie betrieben. Das hat auch sein Denken im Bischofsamt geprägt und als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz.
    Lehmann hat probiert, Kirchenmann zu sein – aber immer auch Theologe zu sein, um so tatsächlich die Kirche nach vorne zu bringen. Sicherlich eine seiner ganz großen Sorgen war eine mögliche De-Intellektualisierung der katholischen Kirche. Er steht genau für das Gegenprogramm.
    Main: Wie würde sich die katholische Kirche aus Ihrer Sicht positiv ändern, wenn das "Modell Lehmann" wieder ein Zukunftsmodell würde?
    Striet: Die katholische Kirche würde sich ganz sicher dann deutlich offensiver auch den modernen Wissenswelten, Wissenschaften öffnen, als sie dies im Moment tut. Wir können ja doch sehr deutlich beobachten, dass sowohl theologische Erkenntnisse, Forschungen als auch Erkenntnisse und Forschungen der anderen Wissenschaften viel zu langsam Einzug nehmen in den Raum der katholischen Kirche. Das ist sicherlich nicht zu ihrem Vorteil.
    "Er hatte ein immenses Gedächtnis"
    Main: Herr Striet, Kardinal Lehmann wurde weltweit geschätzt. Ist es seine Aufrichtigkeit und Haltung gewesen – oder was ist aus Ihrer Sicht zentral, dass er so weite Zustimmung erfahren hat?
    Striet: Es ist mehreres gewesen. Es ist einerseits seine Kompetenz, die er unentwegt ausstrahlte. Aber es ist genau auch eben das, was Sie jetzt ansprechen: seine Aufrichtigkeit, sein enorm gutes Zuhören-Können. Wenn man mit ihm sprach, war er sofort ganz da. Und was Kardinal Lehmann auch hatte: Er hatte ein immenses Gedächtnis. Er konnte sich auch nach Jahren noch an Gespräche, an Begegnungen erinnern. Und das ist natürlich die Grundvoraussetzung dafür, dass jemand als wertschätzend empfunden wird.
    Es ist diese ganze Mischung gewesen: diese enorme theologische Kompetenz, die Neugierde, aber eben auch die Wertschätzung des Gegenübers. Und er galt natürlich auch als jemand, der nach vorne wollte – und das haben zumindest die Kräfte, die der Ansicht waren, die Kirche muss aus bestimmten Erstarrungen heraus, immer sehr an ihm geschätzt.
    "Kardinal Lehmann war auch ganz ein Mann der Kirche"
    Main: Dennoch hat er nie den Revoluzzer gegeben – also, er hat nie seinen Kardinalshut an den Nagel gehängt oder ähnlich demonstrative Schritte gemacht, wenn es nicht weit genug voran ging aus seiner Sicht. Gab es Punkte, wo Sie sagen würden: Da war er mir zu sehr auf Kompromiss und Diplomatie aus?
    Striet: Ja. Kardinal Lehmann war auch immer ganz ein Mann der Kirche. Das heißt: Im Zweifelsfall hat er sich dann auch gefügt. Eine seiner schlimmsten Erfahrungen dürfte sicherlich der anbefohlene Ausstieg aus der Schwangerschaftskonflikt-Beratung gewesen sein – Lehmann wollte um jeden Preis drinnen bleiben, aber als dann in Rom entschieden wurde, dass die deutsche Kirche aussteigen müsste, hat er sich da auch gefügt.
    Man kann im Nachhinein immer sagen: Wäre es besser gewesen, an dieser Stelle härter in den Konflikt zu gehen? Man muss sehen, die Sache ist damals ausdiskutiert worden; und Kardinal Lehmann hat sich gefügt.
    Aber in der longue durée muss man auch wieder sagen, haben Kardinal Lehmann und auch Kardinal Walter Kasper, der in diesen Tagen seinen 85. Geburtstag feiert, recht gehabt. Die Frage nach den wiederverheirateten Geschiedenen ist doch ein gutes Stück zumindest weitergekommen, und ich gehe auch davon aus, dass es wieder Bewegung geben wird in der Frage der Schwangerschaftskonflikt-Beratung. Man kann auch umgekehrt fragen, ob der Preis dieser vielen Jahre nicht viel zu hoch gewesen ist. Aber das werden dann künftige Generationen beurteilen müssen.
    Er war beides: Er war ein Mann, der nach vorne wollte, aber im Zweifelsfall war er auch Kirchenmann. Und damit hat er sich dann den Entscheidungen gebeugt.
    "Ökumenisch hat er mit langem Atem die Kirche vorangebracht"
    Main: Fast ein Vierteljahrhundert lang war Karl Lehmann Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Welche Weichenstellung war aus Ihrer Sicht besonders wichtig in dieser Funktion?
    Striet: Ja, die vielleicht wichtigste Weichenstellung war das sehr offensiv eingeforderte Gespräch mit den Kirchen der Reformation. An dieser Stelle hat er ganz, ganz hartnäckig das Gespräch gesucht, Arbeitsgruppen eingerichtet – er hat selber an Arbeitsgruppen teilgenommen.
    Und es ist sicherlich kein Zufall, dass ihm als erstem deutschen katholischen Theologen und Bischof im Jahr 2016 die Martin-Luther-Medaille verliehen worden ist. Ökumenisch hat er durch einen langen Atem die Kirche vorangebracht. Und das wäre sicherlich nicht möglich gewesen, wenn er nicht zugleich auch Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz gewesen wäre.
    "Kardinal Lehmann war offen und neugierig"
    Main: Wir wollen hier nichts Schlechtes über Tote sagen, aber wir wollen verstehen: Kardinal Lehmann stand seinem Kölner Amtskollegen Meisner diametral gegenüber. Keine Schwarz-Weiß-Malerei – und wie gesagt, wir wollen hier nicht schmutzige Wäsche waschen -, aber was unterscheidet die beiden prototypisch voneinander?
    Striet: Ja, das lässt sich gut beschreiben: Während Kardinal Meisner faktisch immer noch an einer Sicht auf die Moderne, auf die moderne Gesellschaft festgehalten hat, die diese als Verfallssymptom beschrieben hat, war Kardinal Lehmann offen, neugierig – er konnte zunächst einmal immer das Gute in den gesellschaftlichen, kulturellen, sozialen Prozessen erkennen, während Kardinal Meisner doch sehr stark rückwärtsgewandt agierte und die Gegenwart aus der Perspektive betrachtete, diese sei abgefallen von Gott. Diese Vorstellung wäre Kardinal Lehmann nie gekommen.
    "Ratzinger und Lehmann - zwei Buchmenschen"
    Main: Ein weiterer Weggefährte, der Karl Lehmann überlebt, ist Joseph Ratzinger. Wenn Sie die beiden, also Kardinal Lehmann und Papst Benedikt, miteinander vergleichen – die waren sich womöglich näher als Lehmann und Meisner?
    Striet: Ja, sie waren sich in einem ganz bestimmten Punkt näher: Beide sind auf ihre Art und Weise Intellektuelle gewesen, Buchmenschen, die immer und immer und immer wieder probiert haben – beziehungsweise Joseph Ratzinger lebt ja noch, Benedikt XVI. -, das Christentum intellektuell zu durchdringen. Aber es gibt auch einen entscheidenden Unterschied zwischen ihnen: Während Benedikt XVI., Joseph Ratzinger, ganz stark Platoniker ist – das heißt, die Welt, den Menschen aus der Idee Gottes zu begreifen versucht -, ging Kardinal Lehmann anders vor: Kardinal Lehmann war viel, viel stärker an den harten Wirklichkeiten dran, an dem, was sich als Phänomen zeigt. Von daher sind das sehr unterschiedliche, auch philosophische, Zugänge zur Theologie gewesen, die die beiden auszeichnen.
    Main: Joseph Ratzinger wurde Papst Benedikt XVI. – Kardinal Lehmann war sicher auch 'papabile', also zumindest theoretisch ein Papstkandidat. Was wäre in der Geschichte der katholischen Kirche anders gelaufen, wenn Karl Lehmann Papst geworden wäre?
    Striet: Das ist natürlich Spekulation. Aber ich würde mir das Urteil zutrauen, dass die katholische Kirche schneller in die Dynamik hineingekommen wäre, die sie dann durch den jetzigen Papst Franziskus erhalten hat. Meine Vermutung geht dahin, dass die Kirchengeschichtsschreibung der Zukunft das Pontifikat Benedikts XVI. doch viel, viel stärker als in der Kontinuität des Pontifikats Johannes Pauls II. betrachten wird, während Franziskus einen Bruch markiert – er geht neue Wege. Und meine Vermutung ist die, dass auch Kardinal Lehmann, wenn er Papst geworden wäre, viel, viel schneller zu Korrekturen ermutigt hätte, die auch vorangetrieben hätte, als das Benedikt XVI. getan hat.
    "Sein Vermächtnis: sich die Neugierde bewahren"
    Main: Eine Generation geht nun also von uns: Zuerst Kardinal Meisner, der einstige Papst Benedikt XVI. ist auch sehr alt, Kardinal Lehmann ist jetzt tot. Sie, als Theologieprofessor, auf dessen Schultern die Last liegt, das Werk eines Kardinal Lehmann fortzuführen – was können Sie heute von ihm lernen?
    Striet: Was ich von ihm lernen kann, ich hoffe, ich habe es auch bereits gelernt. Und ich wünsche mir, dass auch sozusagen die jetzige Generation der Professorinnen und Professoren im Theologenamt das tatsächlich fortführt, dass es eine Neugierde gibt auf die Gegenwart, ein unerschrockenes Sich-Einlassen auf die modernen Wissenswelten und vor allem ein unerschrockenes Sich-Einlassen auf die Philosophie. Ohne eine starke philosophische Grundausrichtung kann keine Theologie gesprächsfähig in der Gegenwart sein. Und das heißt, die Theologie muss sich immer und immer stärker auf die Philosophie der Gegenwart einlassen.
    Main: Und wir normalen Menschen, egal ob christlich oder konfessionslos, egal ob jüdisch oder muslimisch – was können wir von einem Mann wie Karl Lehmann lernen?
    Striet: Sich die Neugierde zu bewahren, den anderen Menschen zunächst einmal in Wertschätzung zu begegnen und nicht mit Vorurteilen – das ist das, was Kardinal Lehmann immer ausgezeichnet hat. Oder wie es ein Buchtitel sehr schön zum Ausdruck bringt: "Er hat mit langem Atem gelebt". Das heißt, immer wieder – und immer wieder neu – den Anfang gesucht. Etwas, was nach meinem Dafürhalten zutiefst human ist, mit langem Atem zu leben.
    Main: Magnus Striet war das, Professor für Fundamentaltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Freiburg, zum Tod von Kardinal Karl Lehmann, langjähriger Bischof von Mainz, fast ein Vierteljahrhundert lang Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz - und vor allem auch Theologe. Ein Mann, der jetzt im Alter von 81 Jahren gestorben ist. Herr Striet, danke Ihnen für dieses Gespräch.
    Striet: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.