Dienstag, 16. April 2024

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Zum Tod von Michael Rutschky
"Er war ein Zeichendeuter"

Flaneur, Alltagsbeobachter, Analytiker: Der Publizist Michael Rutschky schrieb eine "Ethnographie des Inlandes". So nennt Willi Winkler die Art, in der Rutschky seine Umgebung festhielt. Und erinnert an einen Mann, für den Kino und Literatur ebenso interessant waren wie ein Boris Becker-Bild beim türkischen Bäcker.

Willi Winkler im Gespräch mit Michael Köhler | 18.03.2018
    Der Publizist Michael Rutschky war Gast in der Sendung "Im Gespräch" im Deutschlandradio Kultur.
    Der Publizist Michael Rutschky verstarb mit 74 Jahren in Berlin. (Deutschlandradio / Matthias Horn)
    Michael Rutschky spazierte durch die Welt, schaute genau hin und hielt das, was er sah, mit der Kamera oder in seinen Büchern fest. Jetzt ist er im Alter von 74 Jahren gestorben. "Er war ein Flaneur, den Augenblicksereignisse interessiert haben, nicht der große Zusammenhang", sagt der Journalist und Publizist Willi Winkler im Deutschlandfunk über ihn.
    Rutschky, geboren am 25. Mai 1943 und aufgewachsen im hessischen Spangenberg, studierte Soziologie, Literatur und Philosophie, unter anderem bei Theodor W. Adorno in Frankfurt am Main. Die 68-Bewegung prägte ihn, aber er "überlebte " sie auch, so Winkler:
    "Er hat die 68-er Bewegung nicht zu seinem Lebenswerk gemacht, er hat sich nicht andauernd damit beschäftigt, das Leben ging weiter. Er hat vor allem - für einen Soziologiestudenten eher ungewöhnlich - die Liebe zur Literatur nie verloren. Er wusste, dass er Teil einer Generation ist, aber er wusste noch besser, dass er ein Individuum ist, ein Autor - aber seine Sicht war nachvollziehbar."
    "Ich kenne kein besseres Buch über die 70er"
    Zuletzt waren von Rutschky 2017 die Tagebuchaufzeichnungen "In die neue Zeit" erschienen. Darin berichtet er über seine Sicht auf die deutsche Umbruchphase 1988 bis 1992. 1997 erhielt Rutschky auch den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg.
    Willi Winkler schätzt vor allem Rutschkys "Erfahrungshunger", das 1980 bei Kiepenheuer & Witsch erschien und das ein Stück Alltagsgeschichte der Bundesrepublik festhält:
    "Ich kenne kein besseres Buch über die 70er Jahre als dieses. Es beschäftigt sich mit Phänomenen - mit dem Kino, mit der Literatur. Es ist eine melancholische Reaktion auf die Traumatisierung der Linken beispielsweise durch die RAF. Also dass man gleichzeitg um die Toten in Stammheim trauert und Hölderlin liest."
    Ethnographie des Inlandes
    Rutschky war laut Winkler kein systematischer Denker, er habe auf Ereignisse reagiert: "Er hat Sachen entdeckt - er hat sich für die Ethnographie des Inlandes interessiert. Mein Lieblingsbeispiel war, das hat er mal erzählt, der türkische Bäcker um die Ecke in Kreuzberg hat ein Großfoto vom Wimbledonsieger Boris Becker aufgezogen, er hat sich damit eingebürgert, er betet die Lokalgottheit an - und sowas ist nur Rutschky aufgefallen."
    Auch für Graffiti konnte sich Rutschky begeistern, berichtet Winkler: "Er war ein Zeichendeuter, er hat einen permanenten Rorschach-Test gemacht - was machen die Leute, was bewegt die, was soll das sein. Er ist ja auch geschulter Analytiker gewesen, mit der Psychoanlayse im Hintergund - das Vexierbild des Alltags hat ihn interessiert."