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Zum Tod von Norbert Blüm
Blüm - das soziale Gewissen der CDU

"Die Rente ist sicher", dieser Satz wurde zum Markenzeichen von Norbert Blüm. Er war Dauerminister unter Helmut Kohl und das soziale Gewissen der CDU. Nun ist der langjährige frühere Sozial- und Arbeitsminister im Alter von 84 Jahren in Bonn gestorben.

Von Norbert Seitz | 24.04.2020
Norbert Blüm (CDU), ehemaliger Arbeits- und Sozialminister, sitzt in seinem Arbeitszimmer im April 2019.
Norbert Blüm in seinem Arbeitszimmer im April 2019. (dpa / Rolf Vennenbernd)
"Und es gilt auch der Satz, so mitschreiben: Die Rente ist sicher."
Ein kleiner Mann, ein großes Wort. Es sollte das Markenzeichen des Norbert Blüm werden, als er mit Pinsel und Kleber vor Wahlplakaten auf einer Litfaßsäule posierte, um seine Botschaft anzubringen. Damit schrieb er in der alten Bundesrepublik Geschichte.
"Die Rente ist sicher." Dass der CDU-Sozialpolitiker noch in den späten 1980er-Jahren diese Parole tremolierte, setzte erheblichen Mut voraus. Denn längst kursierten zuverlässige Untersuchungen zum demografischen Wandel - mit möglicherweise negativen Folgen für das solidarische, umlagefinanzierte Rentensystem. Es schien zunehmend wahrscheinlich, dass eine steigende Lebenserwartung bei sinkender Geburtenrate eine Veränderung der Alterssicherung nötig machen würde.
Der frühere Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Norbert Blüm, neben einer Litfaßsäule mit seinem Versprechen "Eins ist sicher: Die Rente"
Der frühere Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Norbert Blüm, neben einer Litfaßsäule mit seinem Versprechen "Eins ist sicher: Die Rente" (dpa / picture alliance / Popp)
Blüm stand eisern zum Generationenvertrag
Auch ein vormaliger Mitstreiter Blüms für eine "Neue soziale Frage", Kurt Biedenkopf, plädierte für einen Übergang zu einer Grundrente, da er das bestehende Rentensystem angesichts der demografischen Entwicklung langfristig nicht mehr für finanzierbar hielt.
Doch Norbert Blüm stand eisern zum solidarischen Generationenvertrag. Er sah seine Rolle nicht als Hiobsbotschafter, sondern als mutiger Kämpfer für eine fundamentale Errungenschaft des Sozialstaats. Der hatte für ihn Verfassungsrang, wusste er doch nur zu gut, dass die Akzeptanz der Demokratie in der Bevölkerung mit dem Erhalt des Sozialstaats eng verknüpft ist.
"Wir stehen in der Pflicht gegenüber den Rentnern, denen, die jetzt in Rente sind, und denen, die zukünftig in Rente gehen. Wir haben Hausaufgaben zu erfüllen, und zwar nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die Gewerkschaften. Insofern empfehle ich uns nicht, dauernd unsere Seelenlage zu beschreiben. Die gemeinsame Sache muss sein, dass wir die Rente aus dem parteipolitischen Streit heraushalten."
Norbert Blüm (CDU), ehemaliger Arbeits- und Sozialminister, sitzt in seinem Arbeitszimmer im April 2019.
Zeitzeugen im Gespräch: Norbert Blüm
Kein Satz Norbert Blüms wird so häufig zitiert wie der: "Die Rente ist sicher". Norbert Blüm trat 1950 in die CDU ein und engagierte sich besonders in den Sozialausschüssen, deren Hauptgeschäftsführer und späterer Bundesvorsitzender er insgesamt 17 Jahre lang war.
Blüm überzeugtes Gewerkschaftsmitglied und "Herz-Jesu-Marxist"
Norbert Blüm wurde 1935 in Rüsselsheim geboren. Sein Vater war Autoschlosser und Busfahrer. Während des Krieges siedelte die ausgebombte Familie nach Alzey in Rheinhessen um. Wieder nach Rüsselsheim zurückgekehrt, wurde Sohn Norbert zum Werkzeugmacher bei der Adam Opel AG ausgebildet.
Für den kirchentreuen Katholiken, Messdiener und Pfadfinder kam als Partei nicht die traditionalistisch gesinnte und als Weimarer Relikt empfundene Sozialdemokratie in Frage, sondern nur Konrad Adenauers Neugründung: die erste überkonfessionell-bürgerliche Volkspartei namens CDU. Denn in ihr fand Blüm auch die Tradition der christlichen Soziallehre aufbewahrt. Schon als 15-jähriger Lehrling schloss sich Blüm der Gewerkschaft IG Metall an.
"Ich bin Mitglied der Gewerkschaft aus Überzeugung, weil ich glaube, dass eine soziale Marktwirtschaft, also eine nicht staatlich gelenkte Wirtschaft Tarifpartner braucht und deshalb starke Gewerkschaften."
Doch der Mann von der Werkbank, der am Abendgymnasium in Mainz das Abitur nachholte und über den Soziologen Ferdinand Tönnies in Bonn promovierte, wurde wegen seines Engagements in der christlich-demokratischen Arbeitnehmerschaft von der linken Konkurrenz gern als "Herz-Jesu-Marxist" abgetan. Außerdem musste er stets mit dem Spott von gewerkschaftlicher Seite leben, nur das soziale "Alibi" oder "Feigenblatt" seiner zumeist als wirtschaftshörig gescholtenen Partei zu sein.
Wenn Blüm und der Sozialexperte der SPD, Rudolf Dreßler , der Metaller und der Drucker, im Bundestag aufeinanderprallten, ging es immer um die soziale Hegemonie im Lande. Dreßler hat sein Verhältnis einmal – am Beispiel der Auseinandersetzungen um die Pflegeversicherung – so beschrieben:
"Also wir haben uns nichts geschenkt. Wir sind aufeinander losgegangen. Wir haben die unterschiedlichen Auffassungen im Bundestag rückhaltlos, ohne zimperlich zu sein, ausgetragen. Aber wir haben uns die Fähigkeit behalten, danach und oder davor miteinander reden zu können."
Blüm hielt seinen Kritikern von links entgegen, dass alle großen Sozialgesetze der Nachkriegszeit - wie die Montan-Mitbestimmung, das Betriebsverfassungsgesetz, der Familienlastenausgleich oder die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall - aus der christlichen Soziallehre heraus entwickelt worden seien.
Diese strebt eine "gottgefällige soziale Ordnung" an - aus den Prinzipien der Solidarität, der Subsidiarität und des Gemeinwohls -, wie sie auch Norbert Blüms sozialphilosophischem Lehrer, Pater Oswald von Nell-Breuning, vorschwebte. Dieser war Mitverfasser der päpstlichen Sozialenzyklika "Quadragesimo anno" aus dem Jahre 1931 und Ratgeber der SPD vor deren Godesberger Programm. Weil die katholische Kirche die Einheitsgewerkschaft bekämpfte, pflegte von Nell-Breuning seinen Gegnern in der Kirchenleitung die berühmte Gretchenfrage zu stellen:
"Gretchen fragt den Faust: Wie hältst Du es mit der Religion? So frage ich die Kirche: Wie hältst Du es mit den Gewerkschaften?"
Kohl schätzte Blüms Volksnähe und bilderreiche Sprache
Aber Norbert Blüm engagierte sich nicht nur sozialpolitisch. 1981, am Vorabend des Sturzes von SPD-Kanzler Helmut Schmidt, war er Richard von Weizsäcker in den Berliner Senat gefolgt – freilich nicht in das Arbeitsressort, sondern als Senator für Bundesangelegenheiten.
Zusammen mit dem neuen Regierenden Bürgermeister von Berlin und anderen machte sich Blüm in jener Zeit für eine deutschlandpolitische Wende der Union stark. Nach Jahren verbissen bis feindselig geführter Opposition sollte auch die Union ihren Frieden mit der Ostpolitik der sozialliberalen Koalition schließen.
Das Kabinett Kohl 1983 - Gruppenbild 
Das Kabinett Kohl 1983 (picture alliance/ UPI)
Doch lange verweilte er nicht in West-Berlin, denn nach der Bonner Wende 1982 war für den neuen Kanzler Helmut Kohl der schwarze Protagonist von der proletarischen Basis als Minister für Arbeit- und Sozialordnung im Kabinett unverzichtbar. Der Machtpolitiker Kohl schätzte die Vorzüge des kampferprobten Chefs der CDU-Sozialausschüsse, seine Volksnähe und bilderreiche Sprache.
"Wer Politik gegen die Kinder macht, der macht auch Politik gegen die Alten. Denn wenn es heute keine Kinder gibt, gibt es morgen keine Beitragszahler. Und die, die Beitragszahler sind, die werden mitbezahlen müssen für die, die nicht geboren sind. Es tut mir leid, aber das ist so."
Doch Kohls Rechnung, mit dem früheren Metaller auch die Kritiker an der Gewerkschaftsfront fernhalten zu können, ging häufig nicht auf. So bei der Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes von 1986: Strittig war, unter welchen Bedingungen Arbeitnehmer, die bei Schwerpunktstreiks nicht arbeiten konnten, also "kalt" ausgesperrt wurden, noch Arbeitslosengeld bekommen sollten. Hinterher beklagte sich Blüm über wahre Hasstiraden von Gewerkschaftern.
"Die sind ja im Austeilen Weltmeister. Aber empfindlich wie eine Prinzessin auf der Erbse, wenn sie mal kritisiert werden."
Gemeinsam mit Geißler setzte Blüm das Erziehungsgeld durch
Auf dem Essener Parteitag von 1985, der auch als "Frauenparteitag" in die Parteigeschichte der CDU eingehen sollte, setzten Blüm und Heiner Geißler, Minister für Familie, Jugend und Gesundheit, das Erziehungsgeld, den Erziehungsurlaub und die Anerkennung von Erziehungsjahren für Mütter durch. In Anerkennung von Familienarbeit und Erziehungsleistung wurde der Begriff einer "Neuen Arbeit" geprägt - über das traditionelle Verständnis von Erwerbsarbeit auf Seiten der politischen Linken hinaus.
Heiner Geißler (l.), ehemaliger CDU-Generalsekretär und Bundesfamilienminister, und Norbert Blüm (r.), früherer Bundesarbeitsminister, beide CDU, am 01. Juli 2017 vor dem Pontifikalrequiem für den verstorbenen Altkanzler Helmut Kohl vor dem Dom zu Speyer
Blüm über Geißler: "Er war tapfer bis zur Verwegenheit"
Sorgfältig überlegen, was richtig ist, und dann loslaufen, egal woher der Wind kommt: Jüngere CDU-Politiker könnten viel vom ehemaligen Generalsekretär Heiner Geißler lernen, sagte Norbert Blüm zum Tode seines streitbaren Parteikollegen im Dlf.
War dieser Modernisierungskurs parteiintern schon äußerst umstritten, so sorgte Ende der 1980er-Jahre Norbert Blüms couragierte Visite im Junta-Land Chile für helle Aufregung im Lager der Union. Er wurde bei Militärdiktator Augusto Pinochet persönlich vorstellig, um ihn an die Menschenrechte zu erinnern. Das war für den bekennenden Christenmenschen eine Selbstverständlichkeit, wurde aber im rechten Flügel der CDU wie der CSU als empörende Kompetenzüberschreitung wahrgenommen.
Franz Josef Strauß hatte Pinochet noch in den 1970er-Jahren im Namen des "christlichen Abendlandes" für dessen militärisches Eingreifen gegen die freigewählte und in wirtschaftliche Schwierigkeiten geratene Regierung des Sozialisten Salvador Allende gedankt. Doch Blüm ließ sich nicht beirren, als er auch noch zu Beginn der mühsamen Demokratisierung des Andenstaates erklärte:
"Dem chilenischen Volk meine große Bewunderung. Mein Appell an das chilenische Militär, seiner besten Tradition treu zu bleiben. Das chilenische Militär hat nämlich eine große demokratische Tradition. Auch an die andere Seite, beispielsweise an die Kommunisten, die Demokratie nicht mit Gewalt zu stören."
"Verräter": 1989 kommt es zum Bruch zwischen Blüm und Helmut Kohl
Auch Kanzler Kohl waren die Alleingänge seines Arbeitsministers nicht ganz geheuer. Zum Bruch des Verhältnisses zwischen beiden kam es dann 1989 um den spektakulären Bremer Parteitag herum, auf dem der CDU-Chef seinen Generalsekretär, den Modernisierer Heiner Geißler, aus dem Amt jagen sollte.
"Ich habe jedenfalls Helmut Kohl nicht unterstützt, als er Heiner Geißler abgelöst hat."
Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (l.) und Arbeitsminister Norbert Blüm am 26.4.1993 vor einer Gesprächsrunde über das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost.
"Auf Kohls Rückruf warte ich bis heute"
Der CDU-Politiker Norbert Blüm war lange Jahre einer der engsten Weggefährten Helmut Kohls. 30 Jahre nach der Kohls Wahl zum Bundeskanzler bezeugt Blüm großen Respekt vor dessen Lebensleistung. Die Parteispendenaffäre aber bleibe "ein trauriges Kapitel".
Aus Empörung darüber formierte sich eine Opposition in der CDU-Führung um Rita Süssmuth, Norbert Blüm und andere, mit dem Ziel, den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth zu einer Kampfkandidatur gegen Kohl um den CDU-Vorsitz zu ermuntern. Doch die Putschpläne zerschlugen sich.
Kohl hielt Blüm fortan für einen "Verräter", wie spätere Aufzeichnungen offenbaren. Dieser sollte den alttestamentarischen Zorn seines langjährigen Förderers noch auf dem Altenteil zu spüren bekommen, als Kohl in seinen Memoiren die damalige Rolle seines Sozialministers aufs Korn nimmt:
"Dieser schlug sich erst in letzter Sekunde, vor dem Bremer Parteitag, in die Büsche, als die Erfolgsaussichten für den Coup schwanden. Von diesem Zeitpunkt war mein Vertrauen zu Blüm erheblich beschädigt. Heute weiß ich, dass es politisch wie persönlich ein schwerer Fehler war, an ihm als Sozialminister festzuhalten. Im Licht der Ereignisse frage ich mich heute, wie ich mich so in seinem Charakter täuschen konnte."
Dabei galt Blüm bis zu dem Zerwürfnis als relativ loyaler Weggefährte seines Kanzlers, dem es hörbar schwerfiel, öffentlich von Kohl abweichende Meinungen zu artikulieren.
Blüms Lieblingsprojekt: die Einführung einer Pflegeversicherung
Doch nach der Deutschen Einheit warteten auf Blüm noch große sozialpolitische Herausforderungen. Zunächst stand die Rentenanpassung auf dem Programm, das sogenannte Rentenüberleitungsgesetz, mit dem das gesamte Rentenrecht auf die neuen Bundesländer übertragen wurde – auch wenn bis dato im Osten noch niemand in die Rentenkassen der nun vereinten Republik eingezahlt hatte und aus der DDR keinerlei Altersvorsorgekapital zu übernehmen war.
Als der Bundestag die Pflegeversicherung verabschiedete
Es war ein immenser Kraftakt, bis die Pflegeversicherung als fünfte Säule des deutschen Sozialsystems endlich stand. Maßgeblich daran mitgewirkt hat der ehemalige CDU-Politiker Norbert Blüm. Die strittigste Frage vor der Einführung: Wer soll das bezahlen? Unter anderem musste ein Feiertag daran glauben.
Ein alter Mann sitzt an Deck eines Kreuzfahrtschiffes und hält einen Gehstock mit Silbergriff in den Händen. 
Die Gefahr, durch Pflege arm zu werden
Eine anständige Antwort auf das Thema Pflege forderte vor 25 Jahren Bundesarbeitsminister Norbert Blüm im Bundestag. Wer krank und pflegebedürftig war, wurde bis dahin schnell zum Sozialhilfe-Empfänger. Bis heute deckt die Versicherung allerdings nicht die kompletten Kosten – und um sie wird wieder gestritten.

Ein schwieriges Unterfangen im Kampf gegen die notorischen Kritiker in den eigenen Reihen und beim Koalitionspartner FDP, der über die "marode Rentenversicherung" fortwährend Klage führten – freilich mit dem Ziel der Privatisierung. So musste Blüm zum Erhalt für die 1990er-Jahre Anpassungen und Abstriche in Aussicht stellen:
"Die Renten sind sicher. Das ist richtig. Aber in den 90er-Jahren würde ohne Umstellung die Rente in Gefahr geraten. Und das kann niemand verantworten. Ich halte es für richtig, rechtzeitig zu handeln, nicht erst zu handeln, wenn das Haus unter Einsturzgefahr steht, sondern jetzt umzubauen - wohlbemerkt umzubauen, nicht abzureißen."
Das Lieblingsprojekt, das seinen Ehrgeiz noch antrieb, war die Einführung einer Pflegeversicherung, für ihn die sozialpolitische Krönung seiner Laufbahn. Dank der erfreulichen Tatsache, dass die Menschen immer älter werden, allerdings dabei nicht unbedingt gesund bleiben, nahm auch die Pflegebedürftigkeit zu.
CDU-Klausur-Tagung am 03.09.1992
Vor Beginn der zweitägigen CDU-Klausur-Tagung am 03.09.1992 in Windhagen bei Bad Honnef unterhalten sich Bundeskanzler Helmut Kohl (r), Arbeitsminister Norbert Blüm (M), und Generalsekretär Peter Hintze. (picture alliance/dpa/Foto: Martin Gerten)
Da die Kosten für Pflegedienste Renten und Ersparnisse überstiegen und die Sozialhilfe überfordert war, musste eine Versicherung für den Pflegefall her. Als zentrales Motiv nannte Blüm die für ihn zum Himmel schreiende Benachteiligung von pflegenden Frauen zu überwinden:
"Das sind die stillen Samariter unseres Sozialstaates. Zum Dank dafür, dass sie nicht erwerbstätig werden können, sind sie dann im Alter selber Sozialhilfeempfänger. Das kann nicht so bleiben. Wir brauchen eine anständige Antwort auf das Thema Pflege."
Für Norbert Blüm begann damit in den 1990er-Jahren ein großer Kampf, vor allem gegen seine Widersacher in der Partei und beim Koalitionspartner, die sich grundsätzlich gegen einen weiteren Ausbau des Sozialstaats stemmten und Pflegerisiken privat absichern lassen wollten.
Forderungen, den Arbeitgeberanteil für die Pflege etwa dadurch zu kompensieren, dass Löhne an Feiertagen oder im Krankheitsfall gekürzt würden, riefen die SPD auf den Plan. Diese hatte im Bundesrat die Mehrheit und konnte dadurch die schwarz-gelbe Mehrheit im Bundestag ausbremsen. So erklärte Rudolf Dreßler, Blüms langjähriger sozialpolitischer Antipode im Deutschen Bundestag:
"Die SPD wird so einen Unsinn den Bürgerinnen und Bürgern und vor allem den Pflegebedürftigen nicht antun. Die glauben nämlich, Blüm würde für sie die große Lösung bereithalten."
Doch Blüm bekam seine Lösung, wenn auch mit etlichen Blessuren. Das Projekt war nach seinen Worten "an mehreren Abgründen vorbeimarschiert"" Für den Fall seines Scheiterns schien er sogar zum Rücktritt bereit. Nach der Feiertagsstreichung des evangelischen Buß- und Bettags konnte die Pflegeversicherung in Kraft treten.
"Wir haben es zusammen geschafft. Deshalb ist es heute ein guter Tag für den Sozialstaat Deutschland", verkündete Norbert Blüm im April 1994 ebenso erschöpft wie stolz. "Es wird eine soziale Pflegeversicherung unter dem Dach der gesetzlichen Krankenversicherung, finanziert im Umlageverfahren, eingeführt."
Norbert Blüm - das soziale Gewissen der CDU
Als nach Kohls Rekordkanzlerschaft eine Parteispendenaffäre Ende 1999 die Grundfeste der Union erschüttern sollte, wandte sich auch Kohls dienstältester Minister öffentlich von ihm ab. Blüm bekundete sein Unverständnis über den Rechtsbruch, die Namen privater Parteispender gegen die gesetzliche Meldepflicht beharrlich zu verschweigen. Ein größeres Risiko ging Norbert Blüm dabei nicht mehr ein. Denn zu kitten gab es nichts mehr im Verhältnis zu seinem nachtragenden früheren Kabinettschef.
"Verdienst bleibt Verdienst, aber ich wünsche ihm nicht, dass Verbitterung und noch Schlimmeres das letzte Wort von ihm sind."
Eine vergebliche Hoffnung.
Blüm sollte freilich unter der späteren Parteivorsitzenden Angela Merkel seine bitterste politische Niederlage noch erleben. Die Oppositionsführerin wollte ihrer Partei im Kampf gegen die 2002 bestätigte rot-grüne Koalition ein neues neoliberales Image verpassen.
06.09.2018, Hamburg: Deutscher Radiopreis 2018: Laudator Norbert Blüm, ehemaliger Bundesarbeitsminister, steht bei der Verleihung des Deutschen Radiopreises auf der Bühne Foto: Axel Heimken/dpa | Verwendung weltweit
Deutscher Radiopreis 2018 (dpa)
Nach den Vorstellungen des Steuervereinfachers Friedrich Merz und des Alt-Bundespräsidenten Roman Herzog wurde auf dem Leipziger Parteitag von 2003 die sogenannte Kopfpauschale verabschiedet, eine Gesundheitsprämie, nach der ein Bankdirektor genauso viel einzahlen sollte wie eine Krankenschwester. Als soziales Gewissen seiner Partei begehrte Norbert Blüm heftig dagegen auf:
"Ich stelle fest: Kopfpauschale ungerecht, unsolidarisch und Umverteilung: mehr Staat, weniger Transparenz. Und deshalb bin ich dafür, die Reform mit Beiträgen fortzuführen."
Doch es hörte ihm in den Leipziger Messehallen kaum noch jemand zu. Blüm landete mit seinen Mahnungen erstmals in der Sektierer-Ecke der Union. Sein Fazit lautete:
"Zunächst einmal halten wir fest: Die Kopfpauschale heißt, je mehr du verdienst, umso weniger wirst du prozentual belastet. Das ist eine platt gewalzte Gerechtigkeit, das ist eine auf den Kopf gestellte nivellierte Solidarität."
Norbert Blüm war ein volkstümlicher Politiker
Der polemisch Hochbegabte wurde für den messerscharfen Befund einer "platt gewalzten Gerechtigkeit" erstmals von den Delegierten seiner Partei ausgebuht. Eine bittere Stunde für jemanden, der über viele Jahre mit seiner direkten Ansprache und seinem trockenen Humor zum Publikumsliebling auf CDU-Kongressen avanciert war.
Norbert Blüm war ein volkstümlicher Politiker, der sich auch nicht scheute, die Rolle des Pausenclowns anzunehmen. Als gefragter Büttenredner trat er häufig in der fünften Jahreszeit auf und unterhielt mit seinem rheinischen Mutterwitz die jubelnde Narrenschar: "Norbert, Norbert, Norbert!" - wie hier in Aachen 2001 während der Verleihung des Ordens wider den tierischen Ernst. Sein Thema: die Gentechnik.
"Der ideale Mensch hätte die Stimme von Pavarotti, die Ohren von Genscher, die Frisur von der Merkel, die Wurfarme von Fischer, das Mundwerk von der Simonis." (Applaus und dreifach Tusch)
Norbert Blüms Stimme mit dem Timbre des beleidigten Underdogs wird noch lange nachhallen. Er beherrschte das rhetorische Wechselspiel, ob als aufmüpfiger Rebell, fröhlicher Wadenbeißer, als strategischer Haudegen zwischen Sozialpartnern oder auch - als besinnlicher Prediger in Sachen Demokratie:
"Zu meiner Vorstellung von politischer Kultur gehört, dass man konfliktfähig ist. Die Demokratie braucht die Auseinandersetzung. Allerdings kann das nicht das Einzige sein. Wir müssen ebenso fähig sein zum Konsens. Und wann Konflikt und wann Konsens, das ergibt sich nicht aus Voreingenommenheit, sondern aus der Sache."