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Zum Tode des Dichters Thomas Kling

Thomas Kling wurde nur 47 Jahre alt. Am 1. April starb der in Bingen geborene Dichter an Lungenkrebs. Mit seinen seinen Gedichten, die ihre volle Wirkung erst durch ihren Klang erreichen, avancierte Kling zum Vorbild für Lyrikperformer und Rockpoeten.

Von Hubert Winkels | 04.04.2005
    Zum Bildprogramm des Dichters Thomas Kling gehört die Wespe. Ein schönes Insekt mit unruhigen Bewegungen, bei dessen Auftauchen man unwillkürlich Obacht gibt. Es zieht Aufmerksamkeit, es verschwindet schnell wieder, wenn es nicht gerade das Panzerglas an der Armbanduhr eines Dichters knacken will, um in die Zeit zu kommen.

    Meine ersten Begegnungen mit Thomas Kling waren kurz und schnell. Ob er immer seinen schwarz-gelb streifengemusterten Pullover anhatte, weiß ich nicht mehr, aber so will es die Erinnerung. Eine schnelle Begegnung - was ist das? Man steht an den Schaukästen einer Buchhandlung, ein Buch in der Hand, ein Name darauf - und schon ist ein bezeichnendes Faktum zur Hand, eine Anekdote gar. Wie aus dem Handgelenk geschüttelt ist sie da, eine Assoziation mit realem Hintergrund. Ein historisches Datum, ein biographische Einzelheit, das Detail einer Stadtbeobachtung. Wie ausgeschnitten, ausgefräst aus seinem Kontext, beiläufig und absolut zugleich. Der von Kling gern benutzte Ausdruck "fräsen" hat mit dem Tonfall seines Erzählens zu tun. Etwas Spöttisches klingt darin, ausgekühlte, abgeklärte, also durchgearbeitete Empörung, auch Apodiktik. Anschlussfähig sind solche Ausfräsungen für alles Mögliche, nur nicht für moralische Reden. Das brutale Reale darin darf nicht weichgespült werden, es versaute die Konturen, die scharf gezackten Ränder. Einfühlung ist unmöglich, sie verdürbe die Genauigkeit der Beobachtung. Und welches Reale wäre nicht brutal?

    Man weiß das alles nicht im Gespräch, aber man handelt danach. Ein Gespräch vor der Buchhandlung. Es ergibt sich ein Diskurs der schnellen Anschlüsse. Welche Beobachtung passt zur Anekdote und umgekehrt? Die wird angehängt oder drüber gelegt. Die Redenden sind bereit, das Raster oder das Moiree, das sich in der Überlagerung bildet - nein, nicht gut zu deuten, das hieße, es auf die allgemeine Welt- und Stimmungslage zu beziehen -, sondern es als Ausgangspunkt zu nehmen, von ihm aus weiterzugehen, neue Anschlüsse zu suchen. Zwei Hocker werden angeboten vom Buchhändler Niepel. Nein, nein, stehend kommt die Rede schneller voran, überkreuz zwar und im Zickzack, aber eben schnell an einen anderen Ort. Man ist kurz auf Speed gekommen. In der Buchhandlung ist kein Bleiben mehr, man geht am besten ein bisschen über´n Boulevard, allein, und lässt es aus-tropfen.

    Die Wespe, wie gesagt, ist ein Lieblingstier von Thomas Kling. Wenn Feudalherren der Poesie heute Wappen anfertigen ließen, Kling trüge das der stachelbewehrten Schönen, die Aggressivität und Schnelligkeit vereint. In einem Doppelwappen wäre die an-dere Seite übrigens dem Hirschen reserviert. Was hier nur des-halb erwähnenswert ist, weil einem anderen Rheinländer mit Verwandlungszauberkraft der Hirsch ebenfalls als Emblem taugt. Von Kling immer wieder zitiert, führt Joseph Beuys den Hirsch und den Hasen im Schild. Der Hase, wir können nicht anders als in ihm das Gegenmodell zur Wespe zu sehen: schnell davon auch er, doch warm und fruchtbar, irdisch und friedlich. Eine rheinische Doppelherme: kalt und warm, Himmel und Ääd.

    Auf einer Dokumenta in Kassel - die letzte der siebentausend Eichen wird gepflanzt - komme ich nachts in einen Raum, in dem ein Heidenlärm herrscht: Palaver, eine Band, vor allem ein lautes Schlagzeug. Als die Musik zurücktritt, schreit einer. Jetzt gibt es Ärger. Ein Gleichgewicht wird gestört. Aufmerksamkeit wird gezogen, Köpfe drehen sich, da wird aus dem Schreien ein rhythmisches Lautspektakel. Wer mal eben nach Streithähnen schauen wollte, blieb an einem blonden Kerl mit großem Mund hängen, der das Mikrophon so heftig hielt, als wolle er wie Savonarola die Strafe Gottes herbeizitieren für alle, die der Botschaft nicht lauschten. Das taten nun alle, und was sie zu hören bekamen, war ein leicht verwirbelter Wortzauber, ein rituelles, sich nach und nach in sein Maß findendes Sprechen, das zwar ´Kunst´ sagte, ´ich bin Kunst´ - wie auch anders auf der Documenta in Kassel - dann aber den Tanz- und Kunst-Raum vom Sprechen her auszumessen begann, ihm Grenzen zog, scharfzackige Ränder, in die, wer Ohren hatte, gebannt blieb für eine Weile kraft des Wortes allein.

    Kling erobert Räume, setzt Grenzen, umreisst klar und deutlich Ort und Zeit, und lässt sein Sprechen ebendort Wirkung tun. Das hat Autorität, was man ja Anfang der 80er noch nicht so gerne mochte. Aber man kann es nicht von innen mit Verständnis und Kritik aushebeln. Es ist opak, in seiner Gegenwärtigkeit nicht zu beeinträchtigen. Man kann Kling-Räume meiden, in ihnen eine andere Szene aufzuziehen kann man nicht. Hermeneutik ist für später. Jetzt ist kurz und kühl, schnell und heftig. Und so war's. Dann übernahm das Schlagzeug.

    Ich will die Reihe der Begegnungen nicht fortsetzen. Sie waren zugleich intensiv und flüchtig, tief hinein in die Aufmerksamkeit und adieu. Wespenlike. Und nach und nach dann - nun sind schon fünfundzwanzig Jahre mit uns durch die Lande, zumal die Rheinlande gekrochen - auch ruhiger, mit mehr Bedacht als Obacht.

    Es ist eine Kunst, sich dem Dichter zu nähern. Mit hermeneutischer Anstrengung allein ist diese Kunst nicht zu bewerkstelligen. Es muss schon ein Moment des Erfindens hinzukommen, eine Breitschaft zu Konjekturen und auch apodiktischen Setzungen. Die Hermeneutik hat dafür den Begriff des Divinatorischen in petto, aber darin steckt zuviel Höheres und Rätselraten. Erfinden ist schließlich so konstruktiv wie poetisch. Und beider Kräfte bedarf es in hohem Maße, wenn man nachvollziehen will, was unter dem Namen Thomas Kling in Büchern wie "geschmacksverstärker" "brennstabm" oder "fernhandel" geschieht. Mehr aber noch, wenn man folgende Frage nicht vollends verwirft, wie es eine Zeit lang Mode war: Die Frage: Wer spricht?

    In Thomas Klings Texten ist eine Überfülle an Gründen und Quellen, Zitaten und Referenzen, sind hochkomplexe Väterreihen und Mütterlinien zu entdecken, und allesamt sind sie heftig und vor allem ungewöhnlich ineinander verflochten. Kling selbst hat sich irgendwann entschlossen, diese Filiationen eigens zu beleuchten. Ovid und Catull, Oswald von Wolkenstein und Willibald Pirckheimer, Donne und Gongora, der trichternde Harsdörffer und der donnernde Abraham a Santa Clara, Artmann, Priessnitz und die Mayröcker, und in der Gegenwart nimmt er auch, insistent und klar abgegrenzt, eine Schar befreundeter Spracharbeiter in seinen Kreis. In "Itinerar" und in "Botenstoffe" geht er der selbst erzeugten Vorgeschichte nach und nimmt den Exegeten viel Arbeit ab, so daß nicht immer alle alles mögliche heben und überheben müssen aus den Gedichten. Es steht eben schon im Itinerar daneben. Auch hier sichtbar: Das Kling'sche Begehren, den eigenen Raum selbst zu definieren, die eigene Herkunft aus der Geschichte mit entschiedenen Bewegungen auszufräsen: die Selbstbegründung - ein starker Antrieb. In der Sammlung Kling'scher All-time-classics deutscher Dichtung, seiner Anthologie "Sprachspeicher", hat er noch ein Kompendium hinzugefügt, das eine eigene Spur in die Geschichte legt, ein Textmarker der voluminösen Art: ´mit dem dicken Edding´ - auch eine notorische Kling-Wendung.

    Die Fülle also der Stimmen in den Gedichten ist groß, die alten schweren gemischt wie jeder weiß, mit Dialekten, Slangs und Fachsprachen aller Art. Und eben deshalb wird die Frage drängender, wie das kommt, dass der Raum, in dem diese Stimmen klingen und körperlich aufeinander treffen, so spürbar homogen ist. Welche Instanz schafft hier die Ordnung?, wer ist das, der da spricht? Doch die beiden Instanzen, die sich hier aufdrängen, der Autor und das lyrische Ich, sind schwer zu fassen. Sie sind es natürlich sowieso, wie jeder genau weiß, der in den letzten Jahrzehnten mit Philologie und Philosophie zu tun hatte. Sie sind es aus strukturellen Gründen. Aber sie sind es auch gedichttechnisch. Kling ist ein Meister der Dissimulation, des Verschwindens. Man gehe nur einmal den wenigen Personalpronomen in den Gedichten nach. Sie führen kaum einmal heraus aus dem aufgefalteten Bild, der ausgefahrenen Sequenz, sie gehören jemandem, der genau für diesen Ausdruck, diesen Vers, vielleicht diese Strophe Person mimt und auch schon wieder untergeht in der heftigen Stimmenbrandung. Viele Partizipien, wenige Verben. Da ist niemand, der für die Wahrnehmung einstünde, geschweige mit einer weltanschaulichen Haltung oder männlichen Meinung; da ist niemand, der die Beobachtung sicherte, keine imaginäre Person des Beobachters. Wechselnde Sprecher, das ja, aber wessen Blick folgen wir eigentlich? Welche Strategien in der Arbeit von Thomas Kling ermöglichen diese Dissimulation der Person und des lyrischen Subjekts und machen etwas daraus.

    Sagen wir es zunächst schematisch und ein wenig abstrakt: Ein Bild, eine Bildersequenz offenbart sich nicht einem Schauenden, sondern findet seinen indirekten Betrachter in einem anderen Bild. Der Blick, der eine Szene, zum Beispiel die eines Tanzschuppens, in lauter Einzelheiten zerlegt und so eine nicht-emphatische Nähe erzeugt, erkennt in diesen Einzelheiten Konstellationen, die sich mit ganz anderen sozialen und semantischen Feldern verbinden und konfrontieren lassen. Die andere Szene, der andere Schauplatz wird aufgerufen und steht ohne ein Wort der Deutung zur ersten in der Funktion des Kommentars. Das Auge, das die Gemeinsamkeit entdeckte, ist indessen weit entfernt, ist gar nicht mehr von dieser Welt. Ein kalter Blick aus der Höhe, der niederkam und Einzelheiten aggressiv fixierte, ist körperlos verschwunden. Zurück lässt er Splitter, Ereignis- Bild- und Klangsplitter, die sich zu immer wieder neuen Mustern ordnen lassen. Wir sind dran. Unsere Wahrnehmung tritt in Kraft. Wir sehen das Gedicht sehen kraft unserer Fähigkeiten und Er-findungsgabe. Ein Erkenntnismittel ohne Erkennenden.

    Auf dieser Erfahrung ruht die häufig und naiv gestellte Frage, ob Klings Intelligenz und Ingenium eigentlich ausreichten, ob sie Bürgschaft genug seien für all die exegetischen Subtilitäten, die seinen Gedichten widerfahren? Who cares? It´s your business, lieber Leser. Das sagen die Gedichte doch in vielen Sprachen. Sie sagen, was sie sind ganz unverblümt: "nacht-sicht-geräte" zum Beispiel, "Feldstecher", "Scherenfernrohr", "Fotoapparat", zoomendes Objektiv" oder "Mückengläslein", vulgo Mikroskop. Das Instrumentendepot ist gut gefüllt, jetzt kommt ein Leser und ein operativer Akt hinzu, jetzt heißt es anwenden und neu ein-stellen.

    Man kann die Funktionsweise des Bild gebenden Verfahrens gut zeigen an den frühen "Ratinger Hof" - Gedichten. "Ratinger Hof zb 2" findet sich bereits 1986 in den "Klinggedichten" aus "Erprobung herzstärkender Mittel", Klings erstem Gedichtband, erschienen in der Eremiten-Presse.

    Der ´Ratinger Hof´ war ein legendärer Szeneschuppen in der Düsseldorfer Altstadt, der, als Kultstätte diverser künstlerischer und Lebenstilmilieus, uns beiden einige Jahre lang zu nächtlichen Reisen diente. Es ist nicht ohne Witz, wenn in einem Thomas Kling gewidmeten Heft von "text und kritik" der Status dieses neben dem Berliner ´SO 36´ seinerzeit in Deutschland tonangebenden Kreuzungspunkts von Revolte, Hedonismus und Kunst mittels Zeitzeugen eruiert wird. Man kann als philologisch gestimmter Literatur- und Kunstliebhaber den Gedanken kaum abweisen, dass am Ende all der Körper- und Zeitgeistexstase dieser - wie alle anderen Lust-Höfe - genau in solchen Fußnoten überdauern wird, in den Anmerkungen zu Joseph Beuys, und Jörg Immendorff, zu Mittagspause und Fehlfarben und eben Thomas Kling. So ist das mit Ereignis und Gedächtnis - so ist es immer schon gewesen. Wohl dem Dichter, der das weiß. So leidet es sich leichter an der räuberischen Zeit.

    Ich schweife ab, wo ich denn längst schon in den Text geschwenkt sein müßte. Einige Zeilen nur:

    "UNTERM -ZERHACKER das schuhe zertanzn."

    So beginnt "Ratinger Hof zb 2". Es folgt eine Serie strobosko-pierter Beobachtungen der Nachtszene, überraschend gefolgt von einem aggressiv adressierten Anschrei

    "Walzer heißt pogo! vulkan fiber / merkts euch! Ihr säcke mit den verrutschten kathetern..."

    Dann geht das Gedicht über in eine Szene in einem Krankenheim für Alte und endet in einer ganz sachlich distanzierten Darstellung des Endes allen sexuellen Begehrens. Was bleibt, wenn alle Exstasen und Infarkte durchlebt sind:

    "DAS ABLE/CKN ODER KÜSSN DES SCHUHS..."

    Vom Rausch im Tanzraum sind wir mit einem aggressiven Ruck gesteppt ins Alters-Kranken-Siechenheim, sind in der Geriatrie. Am anderen Ende der Skala also, die anzeigt, was eine Gesellschaft als kollektive Körperexposition institutionell zu bieten hat.

    Überlagerungen finden statt. Lust-Dragees steuern die Wahr-nehmung hier, Schmerztabletten dort. Hier reißende Iris, dort Infarkt. Die Stiefel-Martialität des Pogo endet nach Durchgang durch die Invalidenbaracke im Kuss des Schuhs als letztem Akt, in dem sich Sexualität und Tod berühren. Das ist der anthropologische Horizont des Textes. Doch es gibt in ihm ein schreiendes, ein schweres historisches Zeichen, welches diese eben ganz und gar nicht surreale, sondern brutal reale Überblendung der Orte, Szenen und Generationen wie hinterrücks zentriert, ein aufgerufener Fluchpunkt:

    "verdun ihr verdunblick ende der durchsage."

    Zwei in kurzer heftiger Schraffur einander konfrontierte Bildräume befördern uns also im Nu aus größter unübersichtlicher Nähe fort an einen anderen Schauplatz. Die semantischen Blitze der Szenenüberlagerung nimmt man jetzt in großer Kälte und aus großer Ferne wahr. Lichtzerhackung und angeknipste Verdunvision. Supernah die Einstellungen zu Beginn: das brutale Reale in seiner zerrhackten Zerrgestalt. Dann die Distanzierung: artistisch kalt und hart und schnell ins Werk gesetzt. Neue Anschlüsse sind offen. Geschichte wird gemacht. Es geht voran: Verdun. 1914-18. Ein Knotenpunkt europäischer Geschichte. Er geht aus zwei Wahrnehmungsrastern hervor, die sich überlagern, nicht aus der Künstlerperspektive. Das Gedicht gibt nicht den Ort des Beobachters preis, es zeigt sich selbst als Beobachtungsmittel bei der Arbeit. Brutal Reales im Schnittpunkt der Bilder, Reden, Szenen. Gelegentlich grüßt Thomas Kling den Maler Sigmar Polke auch explizit.

    Verdun - ein Wort, ein Ort, ein historisches Zeichen, das noch Karriere machen wird im Werk von Thomas Kling. Über Zwi-schenstationen in "geschmacksverstärker" und "brennstabm" schließlich zum Gedichtband "fernhandel", der ganz im Zeichen des ersten Weltkriegs steht.

    Springen wir jetzt gleich dorthin, um einen feinen Wandel sichtbar zu machen. Rund 15 Jahre liegen zwischen "Ratinger hof, z b 2" und dem Zyklus "Der erste Weltkrieg". Durch Sichtschlitze und Klangröhren war dieser immer wieder eingedrungen ins Ma-terial, mitinstalliert gewissermassen als Hohlraum. Ein Datum, der Name einer Schlacht, der heruntergeklappte Unterkiefer ei-ner Leiche. In "brennstabm" gar als Fotomaterial. Und erinnert sei hier an den Großvater und Lehrer des Dichters, dem "brennstabm" gewidmet ist: Dr. Ernst Matthias (1886 - 1976).

    Dem Zyklus "Der erste Weltkrieg" steht ein Zitat aus Karl Kraus` Drama "Die letzten Tage der Menschheit" voran: "Ein Schlachtfeld. Man sieht nichts. Im fernen Hintergrund hin und wieder Rauchentwicklung. Zwei Kriegsberichterstatter mit Breeches, Feldstecher, Kodak."

    In diesem Zyklus ist die Distanzierung vom Gegenstand weit fortgeschritten. Die Gedichte handeln, wenn schon, denn schon, stärker vom Bleiglanz auf Kredenzen in bürgerlichen Wohnzimmern als vom Blei in der Luft über den flandrischen Schützengräben, sie zeigen die grauen Farben alter Feldpost, die braun gewordenen Ränder alter Fotografien, Modefarben, Traklfarben, optische Medien jeder Facon. Dabei vollziehen sie eine Bewe-gung, die von der Perspektive des Nachgeborenen über die Me-dien und Milieus der Erinnerung in der Eltern- und Großeltern-generation zu einem Krieg zurückführt, von dem sich in der Hauptsache sagen lässt: "Man sieht nichts. Im fernen Hintergrund hin und wieder Rauchentwicklung".

    Das brutal Reale, das einen Namen hat, mit dem wir zur Konstruktion historischer Folgerichtigkeit munter hantieren, wird unsichtbar, wenn wir genauer hinsehen. Was wir sehen, wenn wir näher kommen, ist das Sehen selbst als Aufzeichnungstechnik: Kriegsberichterstatter, mit Karl Kraus sowieso und immer schon unter Fälschungsverdacht, Feldstecher und Kodakkamera. Der erste Weltkrieg war der erste Krieg, in dem die moderne Nachrichtentechnik eine entscheidende Rolle spielte. Das spiegelt sich exakt in der Funktion der Aufzeichnungssysteme für die Erinnerung: Fotos, stumme Filmaufnahmen, Zeitungsberichte, Feldpostkarten- und Briefe. Kling spricht von der "Grobkörnigen Mnemosyne", um diesen Vorrang der Aufzeichnung vor dem Aufgezeichneten anzudeuten. Seine Gedichte fächern diesen Medienschirm auf.

    Es ist keine unpersönliche Arbeit am Primat der Apparate. Im Gegenteil, aus seiner Funktion heraus wird der Affekt nachmodelliert, der Einschlag der Geschichte bei denen, die mit ihm weiterleben mussten. So geht die Kugel durch den Kopf eines Soldaten ein Leben lang weiter - durch den Kopf der Schwester, die ihren Bruder im Kopf hat. Diese Wahrnehmung wahrzunehmen ist eine Leistung des Gedichts. Es nimmt eine Botschaft auf, welche die Gestalt einer Bleikugel hat und ein Jahrhundert durchquert. Durch reale und erinnernde und das Erinnern erinnerden Köpfe. Medientechnisch geht die Bewegung von Feldtelefon auf dem Tornister über heimische dia-shows zu "CNN- Verdun", wie es im Zyklus immer wieder heißt. Dieser Anachronismus hat Methode, nicht nur weil hier die Medientechniken auch Metaphern sind, sondern eines grundsätzlichen Anspruchs wegen:

    "... da wird das nächste Dia eingeschoben und das nächste und
    ein nächstes ein / übernächstes. dias aus dem kambrium ausm /
    ersten weltkrieg bildmaterial CNN Verdun..."

    Vom Kambrium zum Cable Network - das ist nebenbei auch ein anthropologischer Schlenker, der aus dem Handgelenk mal eben jene Bewegung nachvollzieht, die den Anfang von Stanley Kub-ricks 2001" markiert. Ein alter Knochen wird zur High-Tech-Black-Box. Diese Evolution der Erkenntnismittel ist nicht das Thema von Klings Gedichten, aber ihre Voraussetzung. Von ihr aus dringen sie ein in die feinen Verästelungen jener Spuren, die die Erinnerung eingräbt in alles, was wir sind: in unserer Dielen und unsere Köpfe, unserer Reden und unser Verschweigen, in Farben, Laute und Lichteinfälle und glänzende Oberflächen. Es ist ein Geflecht der feinen Schmerzen, das die "grobkörnige Mnemosyne" erzeugt:

    "währenddessen fotos, familienfotos von fontänen, summen im ohr. geknister. hohe summen in bewegung. das sind die schwer erträglichen frequenzen, ein lebenlang, im ohrenzwischenraum der großmutter."

    Ich sprach oben vom Unsichtbarwerden, von der Dissimulation der Person und des lyrischen Subjekts in den Texten Thomas Klings. Ein aggressiver geradezu konkretistischer Bildzauber, inszeniert aus größter Distanz, hält dort den Beobachter im Beobachteten fest und macht aus performativen Äußerungen sprachliche Embleme. Diese Technik hat sich im Lauf der Jahre auf eine unmerkliche Weise gewandelt. Stärker als vordem operiert der Dichter von "fernhandel" auf der Grundlage jener von Medien erzeugten Zwischensphäre, in der die Bilder und Töne bereits vorgeprägt sind. Was den Dichtern der von Kling hoch geschätzten Barocklyrik die Mythologeme waren, sind ihm in immer höherem Maße die technisch medialen Vorgaben geworden. Wie zum Beleg lässt er der ´CNN-Verdun´- Abteilung Gedichte im Zeichen des Totentanzes und des Actäon folgen. Das ist nichts weniger als willkürlich: Der Informations-Tanz der Technik, in dem unsere Wahrnehmung gründet, hat im tanzenden Tod seinen emblematischen Vorläufer. Und das beobachtende Subjekt, der lyrische Voyeur Actäon in Artemis´ Gefolge, wird zum Hirschen verwandelt und von den eigenen Hunden zerfleischt. Auch eine Warnung vor der Einbildung einer Wahrheit jenseits der alltäglichen Kriegsberichterstattung der Medien. So sind, bis in Klings jüngstes Buch "Auswertung der Flugdaten" hinein, die Hunde, die auf Befehl der Jagdgöttin ihren Herren zerreißen, zu Leittieren der Kling´schen Bildsprache geworden.

    Diese zunehmende Zustimmung zur Vermitteltheit, zur Abhängigkeit unserer Weltwahrnehmung , das fast schon Zutrauen zu etwas so Menschenfernem wie es unsere Erinnerungsapparaturen sind - dies hat den Gedichten Klings eine größere Gelassenheit gegeben. Er inszeniert die Ferne nicht mehr mit dieser Plötzlichkeit von Vorstoß und Verschwinden, es setzt sie einfach in höherem Maße voraus. Dass es der Krieg ist, auf den diese Verbindung von Abgeklärtheit und Bild generierender Kraft immer wieder verweist, das hat Kling mit den Dichtern des 17. Jahrhunderts gemeinsam. Desillusioniert sein ist die Erfahrung, die dem vormodernen Illusionstheater des Barock zugrunde liegt. Eine späte Entsprechung findet sich in der Bild- und Sprachlust eines Dichters, dem die Kriege des vergangen Jahrhunderts Grund geworden sind.

    Wenn dies nun allzu schwer und trübe klingt, lege man die Beto-nung im letzten Satz auf den Ausdruck ´Bild- und Sprachlust´. Sagen wir ein wenig hoffnungsdumm: diese sei gleichursprüng-lich mit jeder Form der Enttäuschung.

    Dazu noch eine letzte Erinnerung: Eine andere frühe Begegnung mit Thomas Kling fand in einem befremdlich ort- und zeitlosen Etablissement statt, das sich "Restaurant der sieben Sinne" nann-te und von Thomas Kling mit veranstaltet wurde. Man musste gebückt durch dunkle Gänge streifen, um in ein Atrium der Lüste zu gelangen. Musik, Maskerade, Poesie. Es versteht sich, dass dort gut gegessen und getrunken wurde. Verkleidete Menschen suchten ihr Glück im Anfassen. "Eyes wide shut" als hippes Kunsthappening. Bitte Hemd oder Blus auszuziehen. Schwarze Binden über die Augen. Mit Haaren und Federn wurde empfindliche Haut auf's Heikelste gereizt. Eine kniende Schöne trug den gebratenen Fasan auf dem Rücken zum Gast. Und eine laute Stimme mischte sich in dieses Konzert der Sinne. Es war die scharfe aus der Kunstkammer Documenta, jetzt aber klang sie nachtigallenhaft betörend, aufbrausend üppig und schmeichelnd fein. Man wusste nicht, wer sprach. Man wusste nicht, wo man war. War man gemeint oder verhöhnt? Doch wie immer, wenn man Kling hören kann, selbst wenn die Stimme märchenhaft sich bauscht, eine Frequenz bleibt immer vernehmbar: die eines Schreckens, ohne den das Schöne in dieser Welt nicht zu haben ist.


    -Liste der lieferbaren Bücher

    "Auswertung der Flugdaten"
    (Dumont Literatur und Kunst Verlag, Köln)

    "Sprachspeicher"
    Eine Anthologie
    (Dumont Literatur und Kunst Verlag, Köln)

    "Geschmacksverstärker"
    (Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main)

    "Thomas Kling entdeckt Sabine Scho"
    (Europa Verlag, Hamburg)

    "Botenstoffe"
    Essays
    (Dumont Literatur und Kunst Verlag, Köln)

    "Karl-Heinz Müller"
    Ein Gespräch mit dem Kunstmäzen.
    (Dumont Literatur und Kunst Verlag, Köln)

    "Sondagen", mit Audio-CD
    (Dumont Literatur und Kunst Verlag, Köln)