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Zum Tode von Dieter Kühn
Das Bewusstsein der Leser scharfgestellt

Der im Alter von 80 Jahren gestorbene Dieter Kühn sei der wohl meistunterschätzte Autor seiner Generation in der deutschsprachigen Literatur gewesen, sagte Literaturkritiker Denis Scheck im DLF. Kühn habe etwa zusammen mit Umberto Eco quasi den Mittelalter-Boom ausgelöst. Bis ins hohe Alter sei Kühn immer auf der Suche nach dem Neuen beziehungsweise dem Neuen im Alten gewesen.

Denis Scheck im Gespräch mit Burkhard Müller-Ullrich | 26.07.2015
    Der Schriftsteller und Biograf Dieter Kühn (1935 – 2015); Aufnahme von 2009
    Der Schriftsteller und Biograf Dieter Kühn (1935 – 2015); Aufnahme von 2009 (picture-alliance / Erwin Elsner)
    Burkhard Müller-Ullrich: In den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts war der Zeitgeist in der Bundesrepublik vom Terror der RAF geprägt, man interessierte sich für Politik, für Krebs und für Faschismus, für Soziologie und Psychologie, aber sicher nicht fürs Mittelalter, da erschien plötzlich eine Biografie über den mittelalterlichen Sänger Oswald von Wolkenstein, deren Verfasser Dieter Kühn damit einen unglaublichen Erfolg hatte. Gestern ist Dieter Kühn gestorben und wir wollen, Denis Scheck, zunächst auf die Anfänge schauen! Kühn ist ja immer wieder zum Mittelalter zurückgekehrt, nach Oswald von Wolkenstein hat er sich mit Wolfram von Eschenbach und Neidhart aus dem Reuental beschäftigt!
    Denis Scheck: Ja, man kann sagen, dass er zusammen mit Umberto Eco eigentlich den Mittelalter-Boom ausgelöst hat. Und es zeigte sich, dass die Methode, die Dieter Kühn als Romancier entwickelt hat, auch für seine Arten, Biografien zu schreiben, unglaublich produktiv war. Dieter Kühn hat über Robert Musil promoviert und hat immer am Möglichkeitssinn festgehalten. Und die Spezialität seiner Biografien war, nicht nur zu erzählen, wie es war, sondern auch wie es hätte sein können. Und das machte er brillant in "Ich Wolkenstein", wo er nicht nur die Werke von Wolkenstein übersetzte, wo er nicht nur die wirklich verblüffende Lebensgeschichte dieses Südtiroler Autors erzählte, sondern eben auch die gesamte Geschichte und die alternativen Verläufe. Er hat jetzt noch in späteren Jahren eine vermehrte Auflage von "Ich Wolkenstein" geschrieben, wo rauskam, dass dieser Dichter ja sogar ziemlich reich wurde. Er hat wirklich viel Geld gemacht und, ganz anders als aus der Spitzwegschen Arme-Poeten-Tradition, wir am Anfang der Dichtung von Oswald von Wolkenstein einen Dichter haben, der über große finanzielle Mittel gegen Ende seines Lebens jedenfalls verfügte.
    Dieter Kühn ist ein Autor, der mir zum ersten Mal begegnete – da war ich zwölf Jahre alt – mit seinem ersten Roman, der den für mich immer noch rätselhaftesten aller literarischen Titel trägt, nämlich den Buchstaben "N". Das war Dieter Kühns Roman über Napoleon. Und in diesem ersten Roman ist im Grunde seine ganze Poetik schon enthalten. Denn das war eben keine Romanbiografie über Napoleon – über Napoleon ist ja mehr geschrieben worden als über Jesus Christus –, nein, "N" enthielt lediglich ganz kurze alternative Lebensläufe von Napoleon, was wäre aus Napoleon geworden, wenn er Jurist geworden wäre oder Schreiner oder wenn seine Eltern gar keine Lust gehabt hätten auf Sex, als sie Napoleon zeugten? Und dieses ist ein so typisches Buch für Dieter Kühn, nämlich darauf hinzuweisen, dass Geschichte eben immer ein Konstrukt ist, nicht wie ein Schicksal über uns verhängt wird, sondern etwas, was man machen kann. Das ist auch im Lebenslauf der Biografie des ja 1935 in Köln geborenen Dieter Kühn enthalten.
    In "Das magische Auge", seinem mit 78 veröffentlichten Memoirenband beschreibt er, wie seine Mutter 1941 mit ihm aufs Dach ihres Hauses in Köln steigt und dem kleinen Jungen einschärft: Schau es dir genau an! Denn die sehen das brennende Köln, sie sehen die ersten Brandbombenabwürfe über Köln im Zweiten Weltkrieg. Und auf diese Weise immunisiert gegen die Nazi-Ideologie übersteht der Junge den Zweiten Weltkrieg, das sogenannte Dritte Reich, die Nazi-Zeit und wird eben zum skeptischen Beobachter der sich gründenden Bundesrepublik. Ich hätte viel lieber, Herr Müller-Ullrich, eigentlich den Anlass gehabt, Dieter Kühn, den ich für den meistunterschätzten Autor seiner Generation in der deutschsprachigen Literatur halte, mit Ihnen über Dieter Kühn als Träger des Büchner-Preises zu reden statt aus Anlass eines Todes. Leider ist es dazu nicht mehr gekommen.
    Müller-Ullrich: Der Titel seiner Autobiografie "Das magische Auge", das Sie gerade erwähnt haben, verweist ja auf eine Komponente seines Schaffens, nämlich die Radioaffinität. Er hat viel für den Rundfunk gearbeitet, er war im Grunde ein Kollege. Das magische Auge ist ja dieses kleine grüne Instrument auf den alten Empfängern, mit denen man den Sender scharfstellte!
    Scheck: Ja, und er hat sozusagen das Bewusstsein seiner Leser scharfgestellt mit seinen Texten, auch fürs Radio. Er war ein glänzender Hörspielautor, das war eine wichtige Werkgruppe, er war aber auch immer hellsichtig genug natürlich einzuräumen, warum er so viel fürs Radio schrieb: erstens weil es Spaß macht, zweitens weil man damals jedenfalls ganz gut Geld verdienen konnte. Aber er war natürlich auch ein wirklich unglaublich kundiger Moderator von langen Musikstrecken. Etwa im Westdeutschen Rundfunk hatte er Musiksendungen zur Begeisterung der Hörerschaft moderiert. Aber er war und blieb immer, mit jeder Faser seiner Person Schriftsteller. Er hat sehr kundig über Musik geschrieben, etwa über Clara Schumann, wunderbare Erzählungen über Beethoven, er hat wirklich ein großartiges Verständnis für die Künste insgesamt aufgebracht, aber er war immer ideengetrieben und bis ins hohe Alter immer auf der Suche nach dem Neuen beziehungsweise dem Neuen im Alten, das, was man aus der Geschichte bergen kann, unglaubliche Geschichten, über Hitlers Schutzengel oder so was. Er kannte im Denken kein Tabu und das machte es zu einem so großen Vergnügen, seine literarische Entwicklung als Leser zu begleiten.
    Müller-Ullrich: Denis Scheck über den Schriftsteller Dieter Kühn, der gestern im Alter von 80 Jahren gestorben ist.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.