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Zum Tode von Johannes Rau

Auch jenen, die ihn lange kannten, ist Johannes Rau ein Rätsel geblieben: Er war ein Mann, der mit seinen Geschichten und Anekdoten die Menschen Stunden lang in seinen Bann ziehen konnte und der doch immer Distanz hielt, die nur wenige gute Freunde überwanden.

Von Renate Faerber-Husemann | 27.01.2006
    Er verfügte über viel Wärme und Mitgefühl, suchte immer das Gespräch mit Menschen, schrieb Briefe voller Anteilnahme und verfügte dennoch über jene Härte, ohne die ein Politiker nicht nach ganz oben kommt und sich dort über Jahrzehnte hält.

    Johannes Rau hat im politischen Leben alles erreicht, was er erreichen wollte. Er hat im In- und Ausland viel Zuneigung erfahren und hohes Ansehen genossen und blieb doch zeitlebens dünnhäutig. Vielleicht ist er deshalb für einen Politiker so ungewohnt behutsam gewesen im Umgang mit Menschen:

    "Ich bin es von zu Hause gewöhnt, dass das Bibelwort "Lasst nicht Abend werden über eurem Zorn" gilt, dass man also versuchen soll, den Tag friedlich abzuschließen, und deshalb ist mir Zorn, Jähzorn, Wut, immer sehr fremd gewesen. Mit der Nebenwirkung, dass man manches in sich hineinfrisst, was man lange verarbeiten muss. Aber ich habe Toleranz auch dadurch gelernt, dass ich die Welt kennengelernt habe. Ich habe gelernt, es gibt Menschen, die glauben anderes als ich. Es gibt Menschen, die haben nach meiner Überzeugung einen falschen Glauben und leben glaubwürdiger als ich. Und das zu erkennen, dass jeder einzelne Mensch ein Geschenk ist auch für den jeweils anderen, das ist in unserer unübersichtlich gewordenen Zeit nicht leicht, das muss man üben. "

    Johannes Rau, Jahrgang 1931, war, wie die meisten seines Jahrgangs, gebeutelt von Krieg und Nachkriegszeit: Dass der Vater ihn 1948 vom Gymnasium nahm, weil das Geld in der großen Familie knapp war, hat den lesesüchtigen Johannes Rau, der schon als Jugendlicher für Zeitungen und Zeitschriften schrieb, immer geschmerzt. Er machte eine Lehre als Verlagsbuchhändler und ließ sich von Gustav Heinemann für die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP) anwerben, ein bunter Haufen, den vor allem eines verband: der Kampf gegen die Wiederbewaffnung und für die Wiedervereinigung. Schon 1957 löste sich die Partei auf. Ihre prominentesten Mitglieder Gustav Heinemann, Dieter Posser, Erhard Eppler und eben Johannes Rau gingen in die SPD und arbeiteten am Godesberger Programm mit, das 1959 den Abschied vom Marxismus brachte. "Nie wieder Krieg...", dieser Satz war damals für viele junge Menschen die Triebfeder für politisches Engagement:

    "Bei mir ist das auch so gewesen. Nie wieder Soldaten, nie wieder Krieg oder, wie Willy Brandt gesagt hat, nie wieder Krieg, der von deutschem Boden ausgeht, aber das war doch eine sehr kurzatmige Begründung. Denn es hieß ja nicht nur "Nie wieder Krieg", sondern es hieß auch: Nie wieder Völkermord, nie wieder Verletzung der Menschenrechte, nie wieder Diskriminierung von Menschen. Wenn ich mir die Welt jetzt ansehe, entdecke ich viel Diskriminierung, entdecke ich viel Ungerechtigkeit, entdecke ich vieles, was uns nicht nur Füchtlinge ins Haus treibt, sondern was Fluchtursachen zu Stande bringt..... Die großen, großen Worte: Frieden und Gerechtigkeit, Sicherheit -, die sind alle nicht erfüllt, und deshalb ist Politik eine bleibende Aufgabe - mit Amt und ohne Amt. "

    Es sind Sätze wie diese, die dem gläubigen Christen, Sohn eines Predigers aus Wuppertal, schon sehr früh den lebenslang haftenden Spitznamen "Bruder Johannes" eintrugen. Doch ihn zu unterschätzen, war stets ein Fehler. Die Karriere von Johannes Rau begann früh und hatte nur eine Richtung: nach oben. Schon mit 27 Jahren saß er im Landtag. In den schwierigen Zeiten des Umbruchs im einstigen Kohle- und Stahlrevier wurde Johannes Rau (nach einem kurzen Zwischenspiel als Oberbürgermeister in Wuppertal) Wissenschafts- und Forschungsminister in der Regierung Heinz Kühn. In seine Amtszeit fallen zahlreiche Gründungen von Gesamthochschulen und Fachhochschulen. 1977 gewann er als Außenseiter eine Kampfabstimmung gegen Friedhelm Farthmann und wurde neuer SPD-Landesvorsitzender. 1978 setzte er sich gegen den Freund und Kabinettskollegen Diether Posser durch und wurde nach dem Rücktritt Heinz Kühns zum Ministerpräsidenten gewählt. Und Rau wäre nicht Rau gewesen, wenn ihm zu diesem Tag nicht eine Geschichte eingefallen wäre.

    "Meine Mutter hat meine Wahl zum Ministerpräsidenten mitbekommen und war so glücklich, dass sie auf der Empore des Landtags lauter Interviews gegeben hat, bis ich dann gesagt habe: Mutter, ich bin Ministerpräsident, nicht du. Und sie war sehr stolz auf ihren Sohn, und sie ist natürlich mit allen Anliegen der Nachbarn und Freunde gekommen, weil sie der Meinung war, wenn man schon einen Sohn hat, der Ministerpräsident ist, dann kann der alle Probleme lösen. "

    Vielleicht waren diese frühen Jahre als Ministerpräsident Johannes Raus glücklichste und erfolgreichste Jahre. Bundeskanzler Helmut Schmidt nannte ihn bei seinem 50. Geburtstag im Januar 1981 "einen Glücksfall für Nordrhein-Westfalen". 1982 heiratete der "ewige Junggeselle" Christina Delius, eine Enkelin von Gustav Heinemann. Die Ehe wirkte in all den Jahren harmonisch. Rasch bekam das Paar zwischen 1983 und 1986 eine Tochter, einen Sohn und noch eine Tochter. Bei den Landtagswahlen im Jahre 1985 folgte der politische Triumph: Die SPD erhält sensationelle 52,1 Prozent der Stimmen, und das war Johannes Raus persönliches Verdienst. Er hatte es verstanden, im größten Bundesland mit seinen rund 16 Millionen Einwohnern zwischen Bürgern und SPD ein Wir-Gefühl zu schaffen, das sich in dem so simplen wie genialen Wahlkampfslogan "Wir in Nordrhein-Westfalen" ausdrückte.

    Folgerichtig wurde der Mustersozialdemokrat 1987 zum Kanzlerkandidaten der SPD gekrönt – und scheiterte an Helmut Kohl aber auch an der eigenen Partei, die sich, statt ihn im Wahlkampf konsequent zu stützen, in Nörgeleien erging. "Versöhnen statt spalten", für ihn nicht nur ein griffiges Schlagwort im Wahlkampf sondern Lebensmaxime, wurde in der Partei spöttisch gegen ihn verwendet. Den "Zauderer" nannten sie ihn nun oder den Prediger aus Wuppertal. Seinen Politikstil empfanden viele Genossen plötzlich als altmodisch, als zu gefühlvoll, etwa seine Definition von Politik:

    "Ich nehme am liebsten das Wort von Hannah Arendt, die gesagt hat, Politik ist angewandte Nächstenliebe zur Welt. Und das gefällt mir gut. Ich glaube auch, dass die meisten Politiker dem nachzujagen versuchen, und ich finde viele negative Urteile über Politiker ausgesprochen ungerecht. Ich glaube, dass Politiker heute eine besondere Bringschuld haben. Sie müssen übersetzen, was sie tun. Und das ist schwerer geworden in einer Zeit, in der man Vorlagen bekommt aus einem Untersuchungsausschuss mit 3000 Seiten, in der man Referentenentwürfe durch die Medien transportiert, längst bevor darüber politisch entschieden ist, und da wünsche ich mir mehr Disziplin, mehr Klarheit, mehr einfache Sprache. "

    Und für die Bürger mehr Mitbestimmung. Schon als Ministerpräsident war Johannes Rau ein Befürworter von mehr Teilhabe der Wähler am politischen Geschehen. Volksabstimmungen und Volkentscheide könnten die Demokratie lebendiger machen, warb er vergeblich viele Jahre lang:

    "Ich habe keine Angst vor den Menschen. Ich habe auch keine Angst vor der Mündigkeit der Bürger. "

    Die Bundesversammlung wählte Johannes Rau – nach einem vergeblichen ersten Anlauf 1994 - fünf Jahre später zum Staatsoberhaupt, und damit erfüllte sich für ihn ein Lebenstraum. Doch bis zur Wahl hatte er manch bittere Pille zu schlucken: Zu alt sei er, schrieben die Zeitungen. Schon wieder keine Frau und niemand aus dem Osten, wurde gemäkelt. Und selbst an seiner ersten Rede am Tag der Wahl gab es massive Kritik. Johannes Rau hatte, für ihn eine Selbstverständlichkeit, versprochen, er wolle der Präsident aller Menschen sein, die in Deutschland leben und nicht nur der Deutschen.

    "Ja, das habe ich ganz bewusst getan. Ich war sehr erstaunt über das kritische Echo, das dieser Satz bei einigen gefunden hat, denn an sich ist dieser Satz völlig selbstverständlich. Im Grundgesetz steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und das Grundgesetz ist geschaffen worden 1949, als man noch im Schatten der Verbrechen stand, die bis 1945 von Deutschen begangen worden waren in Deutschland und in Europa, und deshalb glaube ich, für die Väter und Mütter des Grundgesetzes war diese Auslegung völlig selbstverständlich. "

    Bei seiner Wahl hat Johannes Rau vor den Fernsehkameras darum gebeten, Geduld mit seinen Schwächen zu zeigen – und ein bisschen auch nach seinen Stärken zu suchen. Doch eine Schonfrist wurde ihm nicht gewährt. Kaum war er im Amt, wurde gefragt, wo denn "die große Rede" bleibe. Dann geriet er in den Strudel der Flug- und anderen –Affären in Nordrhein-Westfalen, was ihn lähmte, zum CDU-Spendenskandal das Notwendige zu sagen. Der mühsame Beginn lässt sich aber auch damit erklären, dass die Medien so wenig neugierig waren auf diesen neuen Präsidenten. Alle Porträts waren im Laufe seiner langjährigen Karriere längst geschrieben, jeder und jede hatte sein Bild von Johannes Rau. Die bekannten Etiketten vom frommen "Bruder Johannes", vom "Zauderer", vom "Menschenfischer" klebten fest an ihm. Dass seine Reden stets sperrig, kritisch und sehr politisch waren, dass es sich lohnte, ihm zuzuhören – es dauerte, bis sich das herumsprach. Schon zu Beginn seiner Amtszeit hat er gesagt:

    "Je stärker unsere Welt sich globalisiert, desto stärker brauchen wir Gemeinsinn. Darüber gibt es eine Diskussion unter dem Stichwort "Zivilgesellschaft". Wir müssen darüber reden, was ist der Mörtel in dieser Gesellschaft. Über die Steine, über den Umsatz, über die Gewinne ist genug geredet worden. Jetzt muss geredet werden über den Mörtel, der alles zusammenhält. "

    Der Bundespräsident, so wie Johannes Rau sein Amt verstand, ist Redner und Zuhörer. Er greift Stimmungen auf, ist Anwalt und Dolmetscher für Menschen ohne Lobby, wirbt auf Reisen für sein Land, ist Warner und Mutmacher. Sein einziges Machtinstrument als Staatsoberhaupt ist die Rede. Und Johannes Rau hat diese Chance genutzt, selten mit barschen Sätzen, nie mit Hau-Ruck-Reden, dafür mit viel Nachdenklichkeit und Verständnis für jene, die von Zukunftsängsten gebeutelt wurden. Je länger er im Amt war, desto unabhängiger und deutlicher wurde er. In Dutzenden von Reden variierte er sein Unbehagen darüber, dass die Menschen auf ihren ökonomischen Nutzen reduziert wurden, dass immer seltener vom lebendigen facettenreichen Land die Rede war und immer häufiger nur noch vom "Wirtschaftsstandort Deutschland".

    "Wir müssen versuchen, mehr und mehr Orientierung anzubieten. Die Menschen müssen sie dann bewerten, das können wir ihnen nicht vorschreiben. Aber ich wundere mich schon, dass wir im Verhältnis zu allen unseren Nachbarn: zu den Polen, zu den Niederländern, zu den Franzosen, so wenig Zuversicht ausstrahlen. Ich will ja gar nicht, dass wir alle so werden wie die Menschen in Shanghai, die glauben, Shanghai werde eines Tages die Weltstadt Nummer eins, und das werde nur noch Wochen dauern. Aber ich wünschte mir schon, dass wir dankbarer wären für die Schönheit unserer Städte, für die Vielfalt unserer Landschaften, für die Tatsache, dass die meisten Menschen wirklich zufrieden sein könnten und dass das ein Ansporn wäre, sich für die Unzufriedenen einzusetzen und für die, die Leid erfahren, denn die werden ja auch allein gelassen. "

    Bei der letzten "Berliner Rede" seiner Amtszeit hat Johannes Rau noch einmal nachgelegt und sich die Eliten in Deutschland vorgeknöpft. Er wirkte müde an diesem Tag, fast matt. Wahrscheinlich litt er schon an den gesundheitlichen Problemen, die dann wenige Monate später eine Herzklappen-Operation notwendig machten. Doch der Text der Rede war kämpferisch, ja aggressiv wie nie zuvor:

    "Haben wir uns vielleicht selber inzwischen so schlecht geredet, dass wir uns nichts mehr zutrauen? Nähern wir uns gelegentlich einer Art kollektiver Depression? Ich wüsste kein Land, in dem so viele Verantwortliche und Funktionsträger mit so großer Lust so schlecht, so negativ über das eigene Land sprechen, wie das bei uns in Deutschland geschieht. "

    Geradezu biblischer Zorn war zu spüren bei dem Mann, dem seine Gegner vorwarfen, er sei zu versöhnlerisch, zu blass, wolle es immer allen recht machen. Es war die Zeit, als Habgier deutsche Spitzenmanager vor Gericht gebracht hatte, als Managergehälter in den Himmel wuchsen, während in den Konzernen die Mitarbeiter um ihre Jobs fürchteten und für weniger Geld länger arbeiten sollten.

    "Wir müssen zum Beispiel erleben, dass einige, die in wirtschaftlicher oder öffentlicher Verantwortung stehen, ungeniert in die eigene Tasche wirtschaften. Das Gefühl für das, was richtig und angemessen ist, scheint oft verloren gegangen zu sein. Egoismus, Gier und Anspruchsmentalität in Teilen der sogenannten Eliten schwächen auch das Vertrauen in die Institutionen selber, wenn deren Repräsentanten offenbar alle Maßstäbe verloren haben. "

    Als Johannes Rau am 30. Juni 2004 seinen Schreibtisch in Schloss Bellevue räumte, da schrieben viele Leitartikler, er sei einer der politischsten Präsidenten gewesen. Das mag ihn gefreut haben, denn genau das wollte er sein.

    Zusammen mit seiner Frau Christina hat Johannes Rau eine ganz besondere Atmosphäre im anmutigen Schloss Bellevue geschaffen. Meist mit dem Hund Scooter neben sich, einem charmanten schwarzen Mischling, über den sein Herr einmal sagte: Als Hund sei er eine Katastrophe, als Mensch unersetzlich, gab er Besuchern das Gefühl, nur sie selbst seien wichtig in diesem Augenblick. Seine Neugier auf Menschen war echt, das machte ihn glaubwürdig.

    Manchmal spielte Johannes Rau, und das tat er schon als Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen gerne, Harun al Raschid: Er tauchte am Tresen einer Kneipe auf und redete mit den Menschen. Oder er griff zum Telefonhörer, wenn der Brief eines Bürgers ihm naheging:

    "Das macht unendlich viel Spaß, und wenn dann einer am Telefon sagt, veräppeln kann ich mich selber und den Hörer wieder auflegt, dann mache ich eben einen zweiten Versuch. Mir hat das den Gewinn gebracht, dass die Menschen dann erzählen. Sie erzählen von der Situation, in der sie den Brief geschrieben haben, die Not, warum sie den Brief geschrieben haben, die oft gar nicht in dem Brief vorkommt. Und mir hilft das, nicht abzuheben und zu glauben, nur das Veröffentlichte sei die Wirklichkeit. Es gibt eine Unmenge von Menschen, die haben Politik wirklich nur als kleines Segment ihres Lebens. Und ihnen da ein Stückchen Freiheit oder gar Befreiung zu bringen, das finde ich sinnvoll. "

    Johannes Rau, der letzte von Erinnerungen an Nazizeit und Krieg geprägte Bundespräsident, war der erste Deutsche, der im israelischen Parlament, der Knesset, reden durfte, für ihn einer der bewegendsten Momente seiner Zeit als Bundespräsident. Sein Fazit am Ende seiner Amtszeit und damit am Ende seines öffentlichen Lebens:

    "Es gab auch Situationen, bei denen man gedacht hat: Hätte ich doch dieses Amt nicht. Zum Beispiel die Rede in Erfurt nach dem schrecklichen Mord an 16 Menschen, und es gab auch Situationen, in denen man im Laufe eines Tages wechselnde Stimmungen hatte. Dass man glücklich war, weil man bestimmte Menschen traf und bekümmert war, weil man mit bestimmten Menschen sprechen musste und weil es schwer war, mit ihnen zu sprechen. Das alles gehört zu diesem Amt, und das macht auch das Faszinierende aus. "

    Das Ansehen von Johannes Rau im Ausland war groß. Schon als junger Politiker war er viel gereist, immer wieder vor allem nach Israel und nach Polen. So hatte er ein über Jahrzehnte geknüpftes dichtes Beziehungsgeflecht rund um den Globus. Über sich selbst sagte der Bundespräsident einmal, er sei ein Patriot ohne ein Nationalist zu sein:

    "Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt. Und ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet. Und im Sinne dieser Definition möchte ich gerne ein guter Patriot sein. "