Dienstag, 16. April 2024

Archiv


Zungengewahrsam. Kleine Schriften zur Poetik und zur Kunst

"Lauter Kühnheit im Blick im Ohr" - so wächst und wuchert das dichte, das traumdichte und überwache Wortgesträuch der Anne Duden, unzugänglich und verfänglich zugleich,

Guido Graf | 20.01.2000
    In "Stadt, Land, Fluß" von Christoph Peters, dem meist bejubelten Roman dieses Frühjahrs, spielt der spätgotische Georgsaltar des Bildschnitzers Henrik Douwermann in Kalkar eine wichtige Rolle. Ein zu gewagten Interpretationen aufgelegter Kunsthistoriker nähert sich hier einem "Alptraum in Holz". Was auf diesem Umweg etwas über das Gewirr im Kopf des Protagonisten mitteilen soll, erweist sich als durchaus diskurstrainierte Anspielungswehmut. Gelassen und ein wenig am Rande taucht Douwermanns Altar auch in dem neuen Essayband Anne Dudens auf. Unter dem Titel "Zungengewahrsam" sind hier eine in Paderborn und Zürich gehaltene Poetikvorlesung sowie Prosa versammelt, die sich der Kunst englischer Kathedralgothik, Cézannes oder Böcklins als poetischem Arbeitsmaterial annimmt.

    "Bilder heben ein Wissen auf, in meinen Augen ..., auch in diesem doppelten Sinne: aufheben und aufheben, und ich kann dieses Wissen am besten, viel besser noch als in Texten, besser auch als in der Musik, - abrufen, wenn ich ein Bild sehe. Das muß ich natürlich schrittweise machen. Das ist nicht mit einem Donnerschlag da. In gewisser Weise kann man auch sagen, die Bilder müssen gelesen werden. Es ist für mich ein Material, das sich mir geradezu anbietet. In vielen Bildern finde ich ein Wissen wieder, was mir durch den Blick auf das Bild erst bewußt wird."

    Sie liest die Bilder, sieht in ihnen Wortgewächse. Die verästelte Schnitzkunst von Kalkar, ein so genannter Jessebaum, "eine einzige, schier unendlich und unauflösbar erscheinende Verflechtung feingliedriger und zugleich kräftiger Ranken, - die "Verstrickung und Verwicklung" dieses Altars schlingt ihren Blick mit ins Bildwerk. So wie aus dem liegenden, schlafenden oder toten Jesse, der Wurzel, dem Urvater, kommen für Anne Duden die Wörter der Dichtung aus Schlaf und Tod und wuchern wild und erstarrt zugleich in alles, was wir sehen, sprechen, hören oder lesen.

    Wie schon in ihren früheren Prosabänden "Übergang" von 1982, "Der wunde Punkt im Alphabet" und "Wimpertier", beide von 1995, versucht Anne Duden, einen unvermittelten Zugang zu den Dingen zu inszenieren, vor allem zu den Dingen, die die Kunst betreffen. Carpaccio, Mantegna oder Van Gogh sind ihr Anlaß zu Erkundungen, die Sprachintensität und Körperlichkeit miteinander verkoppeln. Das gilt auch für ihre Lyrik, die eng mit ihrem übrigen Schreiben verknüpft ist, und wie der Band "Steinschlag" von 1993 sind die jetzt - unter dem Titel "Hingegend" erschienenen Gedichte nur andere Agregatzustände der kantig-verknappten, vegetabilischen Prosasprache. Daß sie mit einer Lakonie präsentiert werden, die sich auch Miniaturkalauer wie Verschreibungen und Verlesungen oder bewußt alberne Alliterationen gestattet, macht sie nicht weniger komplex, sondern gelassen und beharrlich

    "Dieser Text in "Zungengewahrsam", der "Englischer Gruß" heißt, der über die Verkündigungsbilder geht- das entstammt einer Lektüre eigentlich schon ganz so wie die Lektüre eines Textes. Es sind ganz viele Bilder zu diesem Thema gesehen worden, und ich weiß vielleicht nachher gar nicht mehr, was ich wo gesehen habe. Das ist fast wie aus einer Vogelperspektive, daß man diese Bilder noh einmal aus der Rückschau überfliegt. Das wird dann wie collageartig neu zusammengesetzt und es kommt dann auch ein ganz neues, wenn man so will,'Werk' dabei heraus."

    Das Zusammenfügen verschiedener Bild- und Bedeutungsbereiche mit Wortfeldern reflektiert natürlich die Herstellung von literarischen Texten. Metaphorisch wird dieser Komplex von Anne Duden im Kontrast von Innen und Außen dargestellt, als Übergänge und Grenzen in einer Welt sich eingrenzender Körperlichkeit. Allein die Dichtung scheint zwischen Oberflächenspannungen und der Hohlwelt des Körpers als Resonanzraum vermitteln zu können. In "Zungengewahrsam" schreibt Anne Duden über den eigenartigen Sog in englischen Kathedralen in die Tiefe des Raums, so als würde man sich "im Körpergehause eines gigantischen, urzeitlichen Säugetieres" befinden. In einem Gedicht aus "Hingegend" spricht sie von einem "Rippenkäfig", der ein Herz gefangen hält, in dem die Worte "entherzt" werden. Das Spiel der morphologisierenden Rückbestätigung findet im Bild vom Körper, der alles von Bedeutung in hastig-seltsamer Not austreibt und löscht, scheinbar eine Form

    Anne Duden vertraut der Komplizitä der Sprache, zielt nicht auf reines "Tönen", sondern baut die Widerstände und Fehler alltäglichen Sprachgebrauchs mit ein, sie durchmißt die Wörterbuchregister und Lektüren. Durch Vervielfachung, Umlenkung von Bedeutungen durch Buchstabenverschiebung, dichtes Nebeneinander der Wortassoziationen, durch (Gleichzeitigkeit von Aktiv und Passiv) entsteht ein kalkuliertes Spiel mit Zufälligkeiten, mit einer steten Drift, die zugleich auch nicht so recht von der Stelle kommt. "Die Augenblicke gehen seitwärts", heißt es in dem Langgedicht 'Hibernaculum', was Anne Duden mit "Wintergemach" übersetzt, und die "Bilder bringen Glück - und Wege, die die Sprache sucht." Wie in eisiger Klarheit, einer Wachheit, die sich verselbständigt hat, wird hier "Unaufstörbares" bereitgehalten. Sie geht immer, was zugleich unwahrscheinlich ist und doch genau ihr vorläufiges Vorgehen beschreibt, "vielleicht bis zum nächsten Mal / oder noch darüber hinaus,"

    "Die Sprache selbst hat sozusagen als Potenz, meines Errachtens, nach wie vor dieses: in eine Unbegrenztheit, oder man kann auch sagen: Freiheit zu gelangen. Für mich ist damit der Punkt verbunden, in meiner eigenen Schreibgeschichte, wo ich überhaupt angefangen habe zu schreiben, darüber nachzudenken, jetzt ist es so weit, jetzt kann ich alles das, was ich sagen möchte, das kann ich sagen, wenn ich dahin komme. Das heißt nicht, daß ich dahin komme, aber als Potenz habe ich einmal sozusagen diesen Durchbruch in diese Freiheit erlebt. Und das war für mich auch genau dieser Punkt, wo ich gesagt habe, jetzt kann man daran denken zu veröffentlichen. Ich hätte vorher nie daran gedacht, etwas zu veröffentlichen, weil die Texte in der Sprache für mich nie weit genug gegangen sind. Man ist mal nah dran, mal weniger nah. Das hat ja auch etwas mit der Arbeitsmöglichkeit zu tun. Auch damit, wie sehr ich mich konzentrieren kann, auch damit, wie die Zeitläufte sind. Wenn sich hier keine Sau außer mir für sowas interessiert, dann bin ich natürlich auch ziemlich damit alleine und kann auch nicht mal mit jemandem darüber sprechen, das weiter entwickeln und so weiter und muß das ganz alleine machen. Das heißt, ich brauche eine ganz lange Anlaufzeit, um wieder in diese Intensität oder zu dieser Intensität zu kommen, die mir dann wiederum auch ermöglicht, diesen Freiheitsraum zu betreten - Also ich weiß, das klingt jetzt alles auch leicht ideologisch, aber das meine ich gar nicht, ich meine das wirklich ganz sachlich, fast könnte man sagen: materialistisch."

    In einem früheren Text hat Anne Duden einmal für sich in Anspruch genommen, etwas zu wissen, "das die Dinge noch nicht zu wissen scheinen." Für diesen Vorsprung scheint sie immer in Bewegung, nimmt sie die Metapher vom Übergang wörtlich und weiß doch auch, daß sie sich in Aporien bewegt. Denn zum Schreiben kommen zu wollen, ist für sie zugleich etwas Unlösbares. Und genau daraus, so sagt sie in ihrer Poetikvorlesung, "resultiert dann ein Schreiben als Gewaltakt, zumindest ein Schreiben mit gewalttätigem Auftakt." Mit dieser Aporie kann und muß sie leben und gehen: gehen, wo eigentlich kein Weg ist. Wie dieses Unmögliche in der Praxis ausgeht, beschreibt Anne Duden mit einer Formel des Philosophen Emmanuel Levinas: "Ich bin die Geisel meines anderen."

    "Das ist ja auch eine Entscheidung, eine Entscheidung, sich selber zur Geisel dieses anderen zu machen oder als solche zu sehen. Das ist, in meinen Augen, Leben schlechthin, Leben mit anderen Menschen, Und das heißt: ich bin ständig eigentlich aufgerufen, für andere da zu sein. Das klingt christlich und teilweise meint der Livinas das ja auch durchaus so. Und wenn man das jetzt ernst nimmt, ernsthaft wahrnimmt, also die Wahrnehmung wirklich auch darauf ausgerichtet ist: Die meisten Leute existieren so und können auch nur so existieren. indem sie genau diesen Teil der Wahrnehmung ausblenden: dann heißt das nämlich auch: Ich bin ständig aufgerufen mich in disem Geiselsein zu empfinden und auch zu bewahrheiten. Wenn man das aber tut - in dieser Situation sind ja wirklich viele Frauen, auch viele andere Menschen, aber Frauen sind von ihrer gesellschaftlichen Rolle geradezu dafür bestimmt - dann komme ich im Grunde nicht mehr zum Schreiben, dann komme ich zu nichts anderem mehr. Wenn ich aber dennoch schreibe, schreiben muß, wenn man so will, oder meine es zu müssen und mich dazu durchringe es zu tun, dann ist Schreiben auch wirklich ein Gewaltakt. Das heißt: Ich übe eine gewisse Gewalt aus. Müller hätte das ganz anders gesagt, beziehungsweise meinte er etwas ganz Ähnliches, daß Schreiben oder Dichtersein oder was auch immer ein ungeheures Privileg ist. Und Privilegien, wie wir wissen, sind erkauft und sind vor nicht allzu langer Zeit mit Blut bezahlt worden."