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Zur Debatte um den Standort eines Zentrums gegen Vertreibungen

Wie dürfen die Deutschen dem Schicksal ihrer Flüchtlinge und Vertriebenen und damit dem eigenen Kriegsleid gedenken? Diese Frage wurde vor anderthalb Jahren heftig diskutiert, als die Grass-Novelle „Im Krebsgang“ erschien, über den Untergang des Flüchtlingsschiffs „Wilhelm Gustloff“. Nun ist die Diskussion neu aufgeflammt. Der Bund der Vertriebenen will nämlich, dass in Berlin ein Zentrum gegen Vertreibungen gebaut wird. Die Bundesregierung, namentlich Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer lehnen das Projekt ab. Sie befürchten in Berlin eine zu starke nationale Ausrichtung und außerdem Ärger mit den Nachbarländern. Stattdessen wollen sie ein europäisches Zentrum gegen Vertreibungen in Breslau schaffen. CDU-Chefin Merkel hat Kanzler Schröder vorgeworfen, alte Vorurteile gegenüber den Vertriebenen-Verbänden wiederaufleben zu lassen. Und der CSU-Vorsitzende Stoiber sagte, es sei legitim und selbstverständlich, dass ein Volk der eigenen Opfer gedenke. Frage an den Schriftsteller Walter Kempowski:

Walter Kempowski im Gespräch |
    Walter Kempowski: Was mich an der Geschichte besonders interessiert, ist, dass unser verehrter Herr Bundeskanzler fast automatisch die Geschichte ablehnt. Ich sage automatisch, weil man eine solche Haltung ja schon fast erwarten muss bei einem Bundeskanzler, der früher gegen die Wiedervereinigung war. Als Ministerpräsident von Niedersachsen hat er bekanntlich nicht unterzeichnet. Von ihm kann man nicht erwarten, dass er sich hier plötzlich engagiert. Ich finde, man kann der Opfer verschiedener Kriege und schrecklicher Ereignisse gar nicht genug gedenken. Warum soll man in Berlin kein Zentrum haben für die Opfer, für die Vertriebenen und auch die Flüchtlinge, die ja auch dazugehören? Warum soll man es nicht bauen? In Breslau kann man ja außerdem noch eines bauen. Warum denn nicht?

    Doris Schäfer-Noske: Sehen Sie den Zeitpunkt für ein solches Zentrum nun, da gerade mal die ersten Stelen des Holocaust-Mahnmals stehen, nicht als zu früh an?

    Walter Kempowski: Immer ist irgendetwas zu früh und irgendetwas zu spät. Man könnte ja ebenfalls extra sagen, es sei zu spät, denn die letzten Vertriebenen, die das selbst miterlebt haben, sterben nun bald - biologisch - aus. Es gibt immer ein "zu früh" und ein "zu spät". Mit dem Holocaust-Denkmal hat das Ganze gar nichts zu tun.

    Doris Schäfer-Noske: Müsste man aber nicht auch auf die Meinungen im Ausland, zum Beispiel in Polen und in der Tschechischen Republik, Rücksicht nehmen? Da gab es ja schon einige Politiker, die sich dagegen geäußert haben, so etwas auch in Berlin zu bauen.

    Walter Kempowski: Politiker müssen sich ja schon von Berufs wegen dafür oder dagegen äußern. Da sollte man nicht so viel drauf geben. Ich meine, es ist ganz wichtig und entscheidend, dass wir uns mit unserer Vergangenheit auseinandersetzen. Sie brauchen ja bloß in ein x-beliebiges Telefonbuch zu gucken. Wenn Sie da die Namen durchgehen, wie viele ostklingende Familiennamen sind da dabei! Sie sind überall. Es sind Millionen Menschen, die unser Land bevölkern. Warum soll man nicht an deren Vergangenheit erinnern?

    Doris Schäfer-Noske: Bundeskanzler Schröder befürchtet aber, dass es bei einem solchen Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin eine zu starke deutsche Ausrichtung geben könnte.

    Walter Kempowski: Wenn die Bundesregierung sich selbst da raushält, muss sie sich nicht wundern, dass die Geschichte in eine andere Richtung treibt. Es geht ja nur, wenn man mitmacht und sagt, wir wollen es aber so oder so haben. Außerdem: Soweit ich das verstanden habe, will man sich in diesem Zentrum nicht nur der deutschen Vertriebenen erinnern, sondern auch der anderen. Die Polen, wie Sie wissen, sind ja auch vertrieben worden.

    Doris Schäfer-Noske: Es geht ja manchen, glaube ich, sogar um eine Aufarbeitung der Vertreibungen im 20. Jahrhundert. Ist das denn nicht ein zu weites Feld? Man hat ja beim Holocaust-Mahnmal auch schon gesagt: Jedes Denkmal wird sinnlos, wenn es zu pauschal ist.

    Walter Kempowski: Da haben Sie völlig Recht. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich glaube, es gibt in den kleinen bundesdeutschen Städten auch Archive und Zentren, wo alte Herrschaften sitzen und die letzten Vertriebenenberichte, Flüchtlingsberichte archivieren. Ich weiß nicht, ob da viele Schulklassen hingehen. Ich glaube nicht, oder? Wer liest denn die Vertriebenen-Zeitung? Doch nur die Vertriebenen. Die anderen nehmen davon keine Kenntnis. So ist das immer. Man möchte die eigenen Wunden betasten. Ich finde, das ist das Recht jedes Menschen.

    Doris Schäfer-Noske: Besteht denn aber nicht die Gefahr, wenn es in Berlin entsteht, dass inhaltlich das Zentrum die Vertreibung von ihren Ursachen abschneidet?

    Walter Kempowski: Ja, das ist immer so. Es gibt aber nicht nur solche Zentren, es gibt Literatur, es gibt eine öffentliche Meinung.

    Doris Schäfer-Noske: Besteht denn nicht auch die Gefahr - es stehen die ersten Stelen des Holocaust-Mahnmals, aber da hat es ja viel Hin und Her gegeben, dass da vielleicht wieder einmal nicht weitergebaut wird -, dass das Vertriebenenzentrum eher fertig werden könnte als das Holocaust-Mahnmal und dass man dann sagt: Ah, die Deutschen sehen sich als Opfer und haben ihre Tätervergangenheit noch nicht aufgearbeitet?

    Walter Kempowski: Diese Stimmen sind ja jetzt schon laut. Sie haben noch gar nicht angefangen, da geht das schon los. Lass die doch bauen. Außerdem: Ob nun der eine eher fertig wird oder der andere, lieber Himmel noch einmal, ich finde dieses Denkmal schon im Entwurf so großartig, dass kein Mensch daran vorbeikommt. Damit meine ich jetzt das Holocaust-Denkmal am Brandenburger Tor.

    Doris Schäfer-Noske: Breslau ist ja auch noch im Gespräch. Nun hat sich im Spiegel auch Günter Grass zu Wort gemeldet und gesagt, er sei für ein europäisches Zentrum in Breslau, oder aber, was ihm noch besser gefallen würde, in Frankfurt an der Oder oder einer anderen Grenzstadt. Was halten Sie davon?

    Walter Kempowski: Der eine sagt Breslau, der andere sagt Frankfurt an der Oder. Dann sagt einer Frankfurt am Main... Das ist ja ein derartiges Hin und Her. Haben wir nun eine Hauptstadt, oder haben wir sie nicht? Das gehört selbstverständlich nach Berlin. Ich bin aber der Meinung, dass man der europäischen Vertriebenen, wie das für Breslau angestrebt wird, auch hier gedenkt. Warum soll man das nicht tun?

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