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Zur Erinnerung an Anna Politkovskaja

Am 7. Oktober 2006 wurde die russische Journalistin Anna Politkovskaja im Aufzug ihres Moskauer Wohnhauses erschossen. Sie war unbequem, weil sie Opfern der Politik eine Stimme gab. Der schwedische Dramatiker Lars Norén hat jetzt das Stück "À la Mémoire d'Anna Politkowskaja" über sie geschrieben, das, von ihm selbst inszeniert, anlässlich ihres zweiten Todestags am Theater in Nanterre uraufgeführt wurde.

Von Eberhard Spreng |
    Ein Mann schleppt einen Koffer über die Bühne und will ihn nicht aus der Hand geben, auch nicht, als er mit einer jungen Frau allein ist, die sich für ein bisschen Geld prostituiert. Später, wenn der Koffer dann doch geklaut ist, erfahren wir in einem kurzen Monolog der Verzweiflung, was er enthielt: Den Kopf seines Sohnes. Russische Soldaten hatten ihn getötet, den Körper zurückgelassen und den Kopf mitgenommen. Nun wollte der Mann, der diesen wieder aufgefunden hatte, beide Teile des Körpers für das endgültige Begräbnis zusammenbringen. In dem, wie Lars Norén erklärt, schwärzesten seiner Stücke, kommt selbst eine posthume Gnade, die Wohltat der ewigen Ruhe, nicht in Frage. Die Toten bleiben unbeerdigt und die Überlebenden des Krieges rauben sich die letzten Hoffungen auf ein bisschen Menschlichkeit, prügeln sich, bestehlen sich. Im Zentrum des Stückes stehen eine junge Frau, ein Mann, der sie schlägt und an Freier verkuppelt, und ihr Sohn. Die Ruine einer Kleinfamilie. Hinzukommt der leibliche Vater, der sein Kind aus dem ohnehin gewalttätigen Zusammenhang löst, um ihn an pädophile Geschäftsleute zu verkuppeln. Eine schwarze Welt aus Prostitution und Gewalt entfaltet sich in Lars Noréns neuem Stück.

    Die Bühne ist bedeckt mit einer Unzahl verkohlter DIN-A4-Blätter. Es könnten ehemalige Manuskriptseiten sein, vielleicht von Artikeln, die Anna Politkowskaja einmal geschrieben hat, bevor sie in ihrem Moskauer Wohnhaus ermordet wurde. Zu sehen ist also eine szenische Metapher für eine Zeit nach der Schrift, wenn selbst der Bericht vom Elend der Welt verbrannt ist. Nicht das Tschetschenien des Krieges, nicht das, über das Anna Politkowskaja in der Zeitung Nowaja Gaseta berichtet hat, will der schwedische Autor nachzeichnen, sondern eine Welt nach der Schlacht, wenn sich der Krieg in den Seelen verewigt hat und den Kanonendonner gar nicht mehr braucht, um seinen Schrecken zu verbreiten. In einer stillen Ecke an der Seite der Bühne sind drei Bilder der Anna Politkowskaja an eine Wand geheftet. Zu ihr geht ein älterer Mann im Armeemantel und spricht zu der Ermordeten. Die einzigen Momente der Zärtlichkeit in Lars Noréns Stück gelten dieser Verstobenen.

    Noréns "À la mémoire d'Anna Politkovskaïa" ist kein Stück über die mutige Journalistin, sondern eine Hommage, die auf dem Theater mit den Mitteln der Bühne so aufrütteln will, wie die Artikel der Journalistin aufgerüttelt haben. Aber kann das Theater so etwas überhaupt? Im Kontext der russischen Medienlandschaft waren diese Artikel die einzigen Zeugnisse einer vertuschten Wirklichkeit, Anklageschriften an ein Regime mit heuchlerischer Doppelgesichtigkeit. Auf der Bühne wirken manche der Gewalttätigkeiten stereotyp, manche Dialoge grotesk. Der Autor Norén hat in den Seelen der Menschen immer das Unheimliche aufgespürt und zu einer unausgesprochenen Bedrohung gemacht. Der Regisseur Norén neigt zu einer quasi pädagogischen Überdeutlichkeit und sollte sich selbst etwas subtiler auf die Bühne bringen. Immer wieder versuchen die verschiedenen Figuren in ausgestellten, grausamen Reiz-Reaktions-Schemata ihrem Gegenüber doch noch Reste von Mitleid zu entlocken: Auch mit den Mitteln der Erpressung. Der prostituierte Sohn richtet einen Revolver erst auf seine Huren-Mutter und dann auf sich selbst. "Ich will nett zu dir sein", sagt sie nun plötzlich, aber das ist so gelogen wie alles andere. Nur unmittelbare Bedrohung, rohe Gewalt beeindruckt. Wo der Krieg gewütet hat, sind die Seelen zerstört, kann die Menschlichkeit vorerst nicht wieder Fuß fassen. Das ist Noréns Botschaft an alle, die mit sogenannten Militäreinsätzen liebäugeln. Das sind allesamt Kriege, und Kriege kann man nur anfangen, beenden kann man sie nicht.