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Zur Normalität beurlaubt

Als Aby Warburg 1918 nach einem Selbstmordversuch in eine Nervenheilanstalt eingeliefert wird, ist dies der Beginn einer sechs Jahre langen Behandlungs-Odyssee wegen Verfolgungswahns. Die Prognosen sind ungünstig, doch der Kunsthistoriker Warburg greift mit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit selbst in seinen Heilungsprozess ein. Diesen Weg beschreibt die Dokumentation "Die unendliche Heilung. Aby Warburgs Krankengeschichte" auf eindrucksvolle Weise.

Von Ludger Lütkehaus | 29.02.2008
    Krankengeschichten sind intime, Diskretion fordernde Dokumente. Aber manchmal wiegt das öffentliche Interesse schwerer als der Personenschutz. Für die Krankengeschichte des großen Hamburger Kunsthistorikers und Kulturwissenschaftlers Aby Warburg, die jetzt in einer Edition des kleinen Zürcher und Berliner Diaphanes-Verlages dokumentiert wird, gilt das in besonderem Maße.

    Am 2. November 1918 wird Aby Warburg in die Hamburger Nervenheilanstalt von Dr. Arnold Lienau aufgenommen. Der Patient, der in Begleitung seiner Frau und eines seiner Brüder erscheint, hat unter dem traumatisierenden Eindruck der deutschen Kriegsniederlage, getrieben von Ängsten vor dem "Bolschewismus" und antisemitischen Pogromen, einen Selbsttötungsversuch unternommen und seine Familie mit einem Revolver bedroht. Sie und sich will er so vor Schlimmerem bewahren. Er leidet unter massiven paranoiden Zwangsvorstellungen und ist nur medikamentös und mit der brachialen Gewalt der Pfleger ruhigzustellen. Im Juli 1919 wird er entlassen:

    "ungeheilt, aber etwas gebessert."

    Doch die Besserung dauert nicht. Im Oktober 1920 erfolgt die Aufnahme in die psychiatrische Klinik von Professor Hans Berger in Jena. Der Patient fühlt sich in einem Gefängnis, hängt Verschwörungstheorien an und befürchtet wieder antisemitische Pogrome. Er tobt und attackiert die Pflegerinnen und Pfleger. Die Überführung in eine geschlossene Anstalt wird ihm angedroht. Die Diagnose lautet mit einem von Emil Kraepelin, dem anerkanntesten Psychiater der Zeit, eingeführten Begriff auf "praesenilen Beeinträchtigungswahn", eine Form des Verfolgungswahns. Die Prognose ist nun sogar "durchaus ungünstig".

    Von Jena wird Warburg im April 1921 direkt in das private Schweizer Sanatorium "Bellevue" in Kreuzlingen, dessen Pflegesätze nur von begüterten Patienten aufzubringen sind, überwiesen. Der Leiter ist Ludwig Binswanger, später Mitbegründer der "Daseinsanalyse". Heute gilt Binswanger als einer der Väter einer humanen, auf Zuhören und Einfühlung statt auf ein autoritäres Regiment gegründeten Psychiatrie. Aber auch Binswangers Prognose ist wenig günstig.

    Es kam anders, als Binswanger glaubte. Zwei Jahre nach der Einlieferung ins "Bellevue" wird Emil Kraepelin von der Familie Warburg um eine Begutachtung des Patienten gebeten. Kraepelin schreibt die bisherige Diagnose auf Schizophrenie und die von ihr abgeleitete Prognose um:

    "Manisch-depressiver Mischzustand, Prognose entsprechend durchaus günstig. Entlassung aus der Anstalt kommt vorderhand nicht in Frage, gerade weil es sich um einen akuten Fall handelt, und die Entlassung den Heilungsprozess nur verzögert."

    Binswanger und seine Kollegen übernehmen die neue autoritative Diagnose zwar in die Krankengeschichte, mögen aber an die Prognose nicht recht glauben.
    Es folgt ein weiteres Jahr im "Bellevue", in dem der weiterhin aggressiv tobende, potenziell suizidale Patient immer wieder zwangsweise sediert wird. Die als Kriterium der Genesung geforderte Krankheitseinsicht geht ihm ab. Auch seine Versuche, die wissenschaftliche Tätigkeit als "subjektiven Heilfaktor" zu nutzen, werden eher zurückhaltend begleitet. In den Briefen und Aufzeichnungen aus dieser Zeit beschwert Warburg sich massiv über seine Zwangsverwahrung und -behandlung als "leidendes Objekt" und über die "Katastrophenpolitik" seiner Ärzte. In der Tat liegt bei der Lektüre dieser Aufzeichnungen öfters der Eindruck nahe, man hätte selbst in dieser privilegierten Krankengeschichte ein Dokument "schwarzer" Psychiatrie vor sich. Die Grenzen zwischen Klinik und Gefängnis, Freiheitsberaubung und Behandlung, Diagnose und Urteil, klinischer Prognose und Resozialisierungsprognose sind nicht immer klar zu ziehen. Die Aufzeichnungen von Warburgs durchaus gesundem wissenschaftlichem Assistenten Fritz Saxl teilen die kritische Perspektive. Und die Angst vor antisemitischen Pogromen wird man heute schwerlich noch einem wahnhaften Realitätsverlust zuschreiben. Gleichwohl muss man in Rechnung stellen, dass Warburgs "Universalargwohn" auch von jenem Verfolgungswahn bestimmt ist, der eines der Symptome seiner Krankheit ist.

    Schließlich, nachdem Warburg seine wissenschaftliche Tätigkeit weiter intensiviert hat, wird er 1924 zu seiner Familie entlassen. Kraepelin spricht bei einer zweiten Visite von "unverkennbarer Besserung". Binswangers vorsichtigere Formulierung lautet:

    "Zur Normalität beurlaubt."

    Diese vorbehaltliche Formulierung lässt sowohl der Genesung wie einer bleibenden Skepsis Raum. Die Diktion der Briefe, die danach zwischen Binswanger und Warburg gewechselt werden, ist indessen durchaus freundschaftlich, das Verhältnis gleichberechtigt. 1925 wird der Patient brieflich "endgültig entlassen". Nur einmal, als es um den Plan einer Vortragsreise nach Amerika geht, reagiert der Psychiater wieder restriktiv. Im Übrigen bleibt es bis zu Warburgs Tod 1929 bei einer produktiv übernormalen "Normalität".

    Die Dokumentation zu Warburgs Kranken- und Genesungsgeschichte, die Chantal Marazia und Davide Stimilli in einer vorzüglich edierten und kommentierten Ausgabe vorgelegt haben, ist ein herausragendes, spannendes, ja, atemberaubendes Dokument. Sie umfasst neben der Binswanger’schen die Hamburger und Jenaer Krankengeschichte, Wärterprotokolle, die Briefe und Aufzeichnungen Aby Warburgs, die Anamnesen seiner Ärzte, den Briefwechsel zwischen ihm und Binswanger, auch die Aufzeichnungen von Warburgs Assisent Fritz Saxl, der selber ein bedeutender Kunstpsychologe war. Das Buch füllt eine gravierende Lücke der Warburg-Forschung. Den Begründer einer "historischen Psychologie des menschlichen Ausdrucks", einer "psychologischen Ästhetik", lernt man hier endlich auch selber psychologisch kennen. Es ist das denkbar persönlichste Bild des bedeutenden Gelehrten.

    Kontroverser wird das Bild sein, das vor allem Chantal Marazia in ihrem Nachwort von Ludwig Binswanger und der "Bellevue"-Klinik zeichnet. Marazia wirft ihm die religiös motivierte Vermischung von Heilung und Heil vor, wie Warburg selber sie mit den "Bekehrungsversuchen seines psychischen Beichtvaters" gegeben sah. Darüber hinaus konfrontiert Marazia auch die daseinsanalytisch humanisierte Psychiatrie mit dem kritischen Blick der Antipsychiatrie. Das ist unhistorisch, aber nicht ganz abwegig, weil selbst Binswanger den Versuchungen erst der autoritären Psychiatrie, später denen der Hirnchirurgie und Elektroschocktherapie nicht völlig abgeneigt war. Die Beurlaubung von den Schemata der "normalen" Psychiatrie hatte auch bei diesem Pionier ihre Grenzen.


    Ludwig Binswanger/Aby Warburg: Die unendliche Heilung. Aby Warburgs Krankengeschichte.
    Hrsg. von Chantal Marazia und Davide Stimilli.
    Diaphanes. Zürich/Berlin 2007,
    287 Seiten, 24,90 Euro