Archiv


Zur OP über die Grenze

Zu viele Patienten, zu wenig Ärzte und Pflegepersonal, zu hohe Kosten, zu lange Wartezeiten: Allerorten knirscht es gefährlich im Gebälk der europäischen Gesundheitssysteme, die zwar völlig unterschiedlich sind, aber doch eines gemeinsam haben - den enormen Kostendruck. Deshalb ist überall von einem großen Reformbedarf die Rede, deshalb arbeitet die EU an einer Öffnung der nationalen Gesundheitssysteme, damit es die Patienten künftig leichter haben, sich über alle Grenzen hinweg behandeln zu lassen. Vor diesem Hintergrund könnte das Beispiel Belgiens Schule machen: ein neues Gesetz erleichtert die Behandlung von ausländischen Patienten in belgischen Krankenhäusern - und weil es dort immer noch freie Kapazitäten gibt, soll jetzt sogar um Kunden geworben werden. Die Zahl der behandelten Patienten aus dem Ausland soll von 30.000 auf 200.000 steigen. Aus Brüssel eine Reportage von Sven-Claude Bettinger.

Von Sven-Claude Bettinger |
    Robert Maarschalkerweerd zeigt auf seine Hand. Sie ist frisch verbunden. Der Niederländer kommt gerade aus dem Sint-Vincentius-Krankenhaus in Antwerpen, wo er sich eine Zyste entfernen ließ. Nach 20 Minuten war alles vorbei, sagt Maarschalkerweerd. 150 Euro hat ihn diese Behandlung gekostet, an der 5 Ärzte und Krankenschwestern beteiligt waren. Doch die niedrigen Kosten waren für ihn nur ein Grund, über die Grenze zu fahren:

    " In den Niederlanden gibt es Wartelisten. Der Patient muss warten, bis er an der Reihe ist. Er wartet auf einen Termin bei Fachärzten für Voruntersuchungen, er wartet im Durchschnitt noch mal sechs Monate bis zur Operation. In machen Fällen ist der Patient da schon tot. In Belgien ist das ganz anders. Da gibt es umgehend einen Arzttermin und kann man schon innerhalb von zehn Tagen operiert werden. "

    Schnelligkeit, Preis und Qualität locken immer mehr ausländische Patienten nach Belgien. Die weitaus meisten kommen aus den Niederlanden und aus Großbritannien. Die belgischen Krankenhäuser nehmen sie mit offenen Armen auf, denn die Betten sind nur zu 80% belegt. Das ist eine Frage der Kalkulation: Mehr ausländische Patienten bedeuten eine bessere Auslastung. Das ist aber auch eine medizinische Frage, sagt der Vorsitzende des Verbandes der belgischen Krankenhäuser und Direktor des Universitätsklinikums der Katholischen Universität Neu-Löwen, Professor Guy Durant:

    " Wir sind an Patienten mit schweren Krankheiten interessiert. Mehr Fälle nutzen der klinischen Forschung und verbessern die Expertise unserer Spezialisten, zum Beispiel bei Organtransplantation, in der Neurochirurgie, Augenchirurgie oder Herzchirurgie für Kinder. "

    Belgiens Unternehmerverband FEB hat ausgerechnet, dass die Behandlung ausländischer Patienten auch positive Auswirkungen auf den einschlägigen Arbeitsmarkt hat: Wenn sich 200.000 ausländische Patienten in belgischen Krankenhäusern behandeln lassen, können dort 6.000 neue Stellen geschaffen werden, für Ärzte, Krankenschwestern und Pflegepersonal. Der Experte der Unabhängigen Krankenkassen, Christian Horemans, beobachtet schon Anzeichen für Engpässe:

    " Bei uns ist zurzeit bereits Pflegepersonal Mangelware, trotz aller möglichen Initiativen der verschiedenen Ministerien, mehr Krankenschwestern auszubilden. "

    Dabei muss das Personal seiner Ansicht besonders gut geschult sein, wenn immer mehr Patienten aus dem Ausland nach Belgien kommen:

    " Natürlich ist es schwierig, mit Patienten umzugehen, deren Kultur und Sprache man nicht kennt. Wenn sich flämische Patienten schon darüber beklagen, dass sie in Brüsseler Krankenhäusern französisch sprechen müssen, was sollen da erst Patienten aus dem Ausland sagen? Eigentlich bräuchten wir Sprachkurse für unser Personal. "

    Derlei Forderungen hält Professor Durant allerdings für weit überzogen - die Praxis sehe doch ganz anders aus:

    " In unserem Krankenhaus haben wir mit Englisch und Spanisch keinerlei Probleme. Für andere Sprachen stehen 75 Personen als Dolmetscher zur Verfügung. Selbst bei der Notaufnahme eines Patienten aus einem arabischen oder asiatischen Land hat es noch nie Probleme gegeben - wir finden schon jemanden, der dolmetschen kann. "

    Darüber sind sich allerdings alle Beteiligten in Belgien einig: Die Öffnung des Gesundheitssystems für ausländische Patienten darf nicht zu Lasten der einheimischen Patienten gehen. Es soll nicht zu langen Wartezeiten kommen. Und an Krankenhäuser nur für Patienten aus dem Ausland ist auch nicht gedacht. So soll ein neu eingerichtetes Kontrollgremium darauf achten, dass das belgische Gesundheitssystem so leistungsfähig und preiswert bleibt wie es ist.