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Zur Philosophie des Unbewussten
Über Willensfreiheit und mentale Faulheit

Menschen sind vernunftbegabte Wesen und steuern Ihr Handeln über Willensfreiheit. Ab wann siegt die mentale Faulheit? Kann Aufmerksamkeit Vernunft aktivieren? Diesen und weiteren existenziellen Fragen geht der Philosoph Philipp Hübl in seinem Buch "Der Untergrund des Denkens - Eine Philosophie des Unbewussten" nach.

Von Matthias Eckoldt | 22.01.2016
    Eine Menschenmenge wird verzerrt und verschwommen dargestellt.
    Neurowissenschaften versus Psychoanalyse - von der Macht des Unbewussten. (picture-alliance/ dpa / Fredrik von Erichsen)
    Ein Baseballschläger und ein Ball kosten zusammen 1,10 Dollar. Der Baseballschläger kostet 1 Dollar mehr als der Ball. Wieviel kostet dann der Ball? 10 Cent. Diese Antwort fällt einem rasch ein, hat jedoch ein Problem: Sie ist falsch. Denn dann würde der Baseballschläger 1,10 Dollar kosten und Ball und Schläger zusammen 1,20 Dollar. 5 Cent ist die richtige Antwort, die nach einer Untersuchung des Nobelpreisträgers Daniel Kahnemann weniger als die Hälfte der Probanden finden. Da die Aufgabe an sich sehr einfach ist, führt er die hohe Fehlerrate auf ein Phänomen zurück, das er mentale Faulheit nennt.
    Wenn mentale Faulheit schnell über Vernunft siegt
    Dies ist einer der vielen empirischen Belege, die der Philosoph Philipp Hübl in seinem Buch "Der Untergrund des Denkens" diskutiert, um genau jenen Untergrund sichtbar zu machen.
    Unsere Vernunft scheint des Öfteren zu schlafen. Wir lassen uns täuschen, verführen und betrügen uns noch selbst dabei. Doch das allein ist für den Professor der theoretischen Philosophie an der Universität Stuttgart kein Grund, der Macht des Unbewussten das Wort zu reden. Im Gegenteil: Hübl fordert in seiner "Philosophie des Unbewussten" – so der Untertitel seines Buches – eine Rehabilitation der aus der Mode gekommenen Vernunft.
    Vernunft oder verdrängte Wünsche als Maßstab menschlichen Handelns?
    "In der Kulturgeschichte konkurrieren grob gesprochen, zwei Bilder über die Natur des Menschen. Das klassische Bild stellt uns als selbstbestimmte Personen dar, die bewusst über sich und die Welt nachdenken und vernünftige Entscheidungen treffen. Seit mehr als hundert Jahren skizzieren allerdings Forscher vieler Fachrichtungen ein Gegenbild. Typische Thesen sind beispielsweise, verdrängte Wünsche würden unser Handeln leiten, das Ich sei eine Illusion und das Gehirn entscheide für uns."
    Hübl stellt sich selbstbewusst gegen die Phalanx jener Hirnforscher, die dem Menschen die Willensfreiheit absprechen und ebenso gegen die psychoanalytische Tradition, die in der Vernunft des Ichs die schwächste Instanz der menschlichen Psyche sieht. Dazu packt der Philosoph sein Handwerkszeug aus und prüft Aussagen, die für die Macht des Unbewussten zu sprechen scheinen auf Exaktheit verwendeter Begriffe, die Datenlage, die kausalen Zusammenhänge sowie die Verallgemeinerungsfähigkeit.
    Einer der berühmtesten und bis heute vieldiskutierten Versuche der Neurowissenschaften hält keinem der Kriterien stand. Der Hirnforscher Benjamin Libet bat in den 80er Jahren seine Probanden, zu einem selbstgewählten Zeitpunkt einen Finger zu bewegen. 300 Millisekunden vor diesem Entschluss maß Libet bereits ein Signal im Gehirn. Seine Schlussfolgerung war nun, dass wir Menschen keinen freien Willen haben. Hübl läuft zu großer Form auf, wenn er den Versuch auseinandernimmt. Demnach schließt Libet von gerade einmal fünf Studenten, die ihm als Probanden gedient hatten, auf die gesamte Menschheit, also auf mehrere Milliarden.
    Neben dieser problematischen Verallgemeinerung kritisiert Hübl auch die Verwendung des Begriffs Willensfreiheit. Libet setzt nämlich das Auslösen der profanen Bewegung der Finger mit dem hohen menschlichen Gut der Willensfreiheit gleich. In ähnlicher Weise verfährt der Philosoph auch mit Experimenten aus der Psychologie. Etwa wenn den Probanden, die bei einem Spiel die Ballwechsel zählen sollen, ein Mann im Gorillakostüm nicht auffällt, der durch die Szenerie läuft. Oder wenn Probanden, die per Smartphone-App mehrmals am Tag um die Schilderung ihres Bewusstseinszustands gebeten wurden, angaben, dass sie die Hälfte der Zeit nicht bei der Sache waren und sich mit Tagträumereien befassten.
    Unbewußtes erfährt eine Neujustierung im Verhältnis zur Vernunft
    All diese Befunde werden von Hübl gewürdigt und hinterfragt, sprechen jedoch für ihn nicht gegen die Möglichkeit, sich seines Verstandes zu bedienen. Was sein Buch stark macht ist, dass Hübl das Unbewusste nicht leugnet, sondern für eine Neujustierung im Verhältnis zur Vernunft plädiert.
    "Die Vernunft zeigt sich in der Art und Weise, wie wir etwas tun, also als theoretische Fähigkeit, wenn wir gründlich nachdenken, und als praktische Fähigkeit, wenn wir wohlüberlegt handeln. In diesem Sinne haben Menschen die Vernunft als eine allgemeine Fähigkeit, die sie mehr oder weniger erfolgreich im Alltag anwenden – auch dann, wenn sie nie perfekt rational sind."
    Aufmerksamkeit - ein Faktor der Vernunft und Bewusstsein einschaltet
    Da eine Philosophie des Unbewussten ebenso auch eine Philosophie des Bewusstseins ist, unternimmt Hübl zugleich noch einen ebenso brillanten wie leicht verständlichen Parforceritt durch die neueste Philosophie des Geistes ein, um das Buch schließlich in ein überzeugendes Lösungsangebot münden zu lassen.
    Den Schlüssel zur Aktivierung der Vernunft sieht er in der Aufmerksamkeit. Sobald wir uns auf Dinge konzentrieren, die in unbewussten Bahnen schief laufen, können wir sie und damit unser Leben, Planen und Handeln wieder ins Lot bringen. Zur Demonstration dieser Strategie taugt die eingangs gestellte Frage nach den Kosten des Balls. Denn mit ein klein wenig Anstrengung können wir sehr wohl herausbekommen, dass der Baseball 5 Cent kosten muss. Wir brauchen nur unser Bewusstsein einzuschalten und die mentale Faulheit zu überwinden. Das kann gelingen. Jederzeit, meint Hübl.
    Und wenn wir wissen, in welche der vom Unbewussten gelegten Fallen wir immer wieder hineingeraten, können wir prophylaktisch nach der Taktik von Odysseus verfahren, der sich auf seiner jahrelangen Irrfahrt an den Mastbaum ketten ließ, um den Gesang der Sirenen zwar zu hören, ihm aber nicht zu verfallen. An dieser Stelle würde Sigmund Freud Philipp Hübl nicht einmal widersprechen, verfuhr doch sein Therapieprinzip auch nach dem Motto: Wo Es – also der Ort des Unbewussten – ist, soll Ich werden.
    Philipp Hübl: "Der Untergrund des Denkens – Eine Philosophie des Unbewussten", Rowohlt Verlag, 480 Seiten, 19.95 Euro