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Zurück in die Heimat

In Zeiten einer als bedrückend empfundenen Gegenwart blinkt die Zukunft hell am Firmament: Auf in neue Welten! heißt darum das Thema unserer heutigen Taschenbuchkolumne, und mit Hans-Arthur Marsiske geht es vorwärts zurück in die Heimat. Dort nämlich kommen wir alle her, aus dem Universum, weswegen der Band in der Edition Suhrkamp forsch »Heimat Weltall« heißt.

Von Florian Felix Weyh | 09.04.2006
    Das bezieht sich auf eine Theorie mit dem schönen Namen Panspermie, die gute Aussichten hat, in den nächsten Monaten aus der Mottenkiste wieder hervorzukriechen. Die berüchtigte Spanische Grippe von 1918, sagte unbeirrt bis zu seinem Tode der britische Astronom Sir Fred Hoyle, sei nämlich aus dem Weltall gekommen, im Schweife eines Kometen gereist und wie alles biologische Leben auf der Erde eine Folge panspermischer Besiedlung. Vogelgrippe also ist auch nichts anderes als eine außerirdische Pest, werden die Verschwörungstheoretiker sagen, und alle Vorsichtsmaßnahmen dagegen blieben nichtiges Menschenwerk. Nein, Hans-Arthur Marsiske ist kein Science-Fiction-Autor, sondern Fachjournalist! Doch vieles, was er in seinem Band zum Stand der Raumfahrt anno 2005 versammelt, klingt kaum anders als die Produkte aus den Schreibstuben literarischer Futuristen.

    Mit einem Unterschied: Etliches davon wird schon auf Erden simuliert; die Besiedlung des Wüstenplaneten Mars lässt sich etwa trefflich im Klima des amerikanischen Staates Utah einüben. Schwieriger schon, den »Orbitallift« zu erbauen, so lange es an entsprechenden Materialien fehlt, aus denen man ein Kabel von mehreren zehntausend Kilometern mit extrem hoher Reißfestigkeit herstellen könnte. Sollten eines Tages Kohlenstoff-Nanoröhren diese Aufgabe erfüllen, dürfte der Weltraumtourismus einen jähen Aufschwung erleben, denn dann jagt man nicht mehr unkontrolliert mit der Rakete in den Orbit, sondern gleitet wie ein Aufzug am Leitseil in die Höhe, direkt zum Raumhotel. Denn für touristische Zwecke ist die Raumfahrt, wie wir sie kennen, zu teuer, zu strapaziös und, notabene, zu gefährlich. Denken wir nur an die Desaster der letzten Jahren! Mit denen beginnt das Buch, vielmehr mit einem sehr entschiedenen Satz: »Nein«, sagt der Autor, »eine Katastrophe war der Absturz der Columbia nicht. Wenn sich sieben Menschen in vollem Bewusstsein auf ein riskantes Unternehmen einlassen und dabei ihr Leben verlieren, ist der Begriff unangemessen.« Das ist mannhaft gesprochen, und also taugt das Buch nicht für Mondlichtromantiker, sondern nur für große Jungen, die beinahe Astronauten geworden wären, hätten sie in der Schule nicht ihre Physiknote versiebt. Der Suhrkamp-Intellektuelle alten Zuschnitts legt das Buch dagegen verständnislos weg. Raumfahrt? Der bestirnte Himmel über uns bleibt doch besser besungen als erobert.

    »Heimat Weltall« von Hans-Arthur Marsiske ist erschienen in der Edition Suhrkamp, 196 Seiten kosten 9 Euro.

    Wäre Zukunft reine Herrensache, hätten wir vermutlich keine mehr. Darum kommt nun eine Autorin zu Wort, die sich freilich in einer harten Männerdomäne behauptet. Antonia Bettina Kesel hält den Lehrstuhl für Bionik an der Universität Bremen und klärt uns im gleichnamigen Taschenbuch zunächst auf, dass ihre Wissenschaft international »Biomimetics« heißt – die Kunst, der Natur Bauweisen abzuschauen, die sie bislang aller Technik überlegen machen. Während die Raumfahrt ihre Utopien stets deduktiv angegangen ist – wir wollen auf den Mond (Ziel), also überlegen wir uns, wie wir das schaffen (Lösung) – ist die Bionik eine ganz induktive Angelegenheit: Beobachten, Studieren, Analysieren des Vorhandenen, ergo die Lösung, stehen vor der Deklaration eines technischen (Nachahmungs)-Ziels, auch wenn es natürlich ganz konkrete Fragestellungen gibt. Etwa die Frage nach Klebstoffen, wie sie Schnecken in ihrem Haftschleim verwenden. Das Seltsame ist doch, dass sie einerseits besser vorankommen, indem sie Schleim absondern, auf dem sich besonders gut gleiten lässt (also gerade keine Haftung stattfindet) – andererseits aber genau dieser Schleim sie unempfindlich gegen die Schwerkraft macht, sobald sie eine Steigung erklimmen – dann wird er vom Gleitmittel zum Klebstoff. Ein hochkomplizierter Proteincocktail ermöglicht diese Überbrückung eines eigentlich unüberbrückbaren Gegensatzes, so wie sich die Natur in vielen Fällen gegen ein simples Entweder-Oder entscheidet. Damit weist die Bionik den Weg in eine postindustrielle Zukunft, in der die groben Regeln der Mechanik durch smarte Lösungen der belebten Natur ersetzt werden. Da allerdings gibt es ein kleines Problem: das Wasser. In fast allen biologischen »Werkstoffen« spielt es eine zentrale Rolle, die es in der technischen Welt nicht spielen kann. »Wasser ist zu wenig thermoresistent, um den Hochtemperaturprozessen vieler technischer Vorgänge standhalten zu können« erklärt die Professorin. »So werden z.B. temperaturresistentere Öle zur Schmierung der beweglichen Teile von Motoren eingesetzt, wohingegen Organismen wasserbasierte Gele zur Schmierung in den Gelenken verwenden.« Ein Grundproblem aller bionischen Nachahmungs-Konstrukteure, die sich in den Gefilden der alten Industrien aus dem 19. Jahrhundert herumtreiben. Solange wir noch destruktive Explosionsmotoren benutzen, die mehr Hitze als Antriebsenergie erzeugen, können wir nicht einzelne bionische Komponenten einsetzen; sie funktionieren nur bei einem kompletten Paradigmenwechsel. So liefert Antonia Bettina Kesel en passant auch noch eine Einführung in kybernetisches Denken mit, denn monokausale, unvernetzte Logik passt nicht zu komplexen Systemen. In der Natur ist ohnehin alles mehrwertig und auf verblüffende Weise umnutzbar. Spinnennetze etwa sind nicht nur dehnbarer als Nylon und fester als Stahl, sondern vor allem auch, wie die Autorin schreibt, »energetisch hochwertig«: Die Spinne kann sich von ihrem eigenen Produkt ernähren, falls sich darin mal kein Beutetier verfängt. Kesels Tierleben hat noch eine Menge anderer Absonderlichkeiten zu bieten, etwa das australische Thermometerhuhn, das absolute Temperaturgrade mit dem Schnabel misst – und die Professorin räumt auch mit der weit verbreiteten Mär auf, die Natur hätte nie das Prinzip des Rades erfunden. Das aber ist, genau betrachtet, in der Bakteriengeißel komplett verwirklicht.

    »Bionik« von Antonia Bettina Kesel ist in der Reihe »Fischer kompakt» erschienen, 128 Seiten kosten 8,95 Euro.

    Wie war das eigentlich damals, als man über jene Zukunft nachdachte, die wir heute als Gegenwart erleben? Um dies zu erfahren, muss man alte Science-Fiction-Erzählungen und -romane lesen, doch wer sich diese Mühe ersparen will, greift zu einem weiteren Band aus der Reihe »Fischer kompakt«. Der Wissenschaftshistoriker Thomas P. Weber hat sich dieses Themas mit deutlicher Verve angenommen, und so liest sich der optisch identisch aufgemachte Band »Science Fiction« viel lukullischer als die nüchterne Sachprosa der Bionikerin. Doch der Gegenstand ist ja auch ein anderer, versammelt kein gesichertes Wissen, sondern bewertet spekulative Produkte. Von »Hohlweltgeschichten« über Weltraumopern bis zur alternativen Historie nach dem Muster »Was wäre wenn« reicht das Spektrum des Bandes, dessen erstes Drittel sich am spannendsten liest. Woher der Science Fiction überhaupt kommt, was längst vergessene Autoren prognostizierten – etwa eine Revolution der Fußgänger gegen die Autofahrer, erdacht im Jahr 1928 – mag sogar diejenigen interessieren, die selbst sonst keine Science Fictions lesen. Für sie ist das Buch eine Ideengeschichte vergangener Ängste und Utopien; für andere vielleicht eine praktische Annäherung an die eigenen Kinder, zumal männlichen Geschlechts: Jetzt weiß man endlich, was sie unter der Bettdecke lesen! Nach der Lektüre spricht man dann auch nie mehr von »Sci-Fi« – was die vollkommene Unkenntnis sprachlicher Gepflogenheiten dieser Szene offenbart –, sondern nur noch von SF. Dieses Kürzel erlaubt übrigens alternierende Ausdeutungen, von denen eine besonders respektabel klingt: »Strukturelles Fabulieren« – SF – schlug der amerikanische Literaturwissenschaftler Robert Scholes dafür vor. Das ist weit weg von aller Perry-Rhodan-Trivialität, und möge darum als kleiner Bildungsschatz den Abend überleben.

    »Science Fiction« von Thomas P. Weber ist in der Reihe »Fischer kompakt» erschienen, 128 Seiten kosten 8,95 Euro