Berlin beispielsweise, Zitat, "Man soll ... sich mit Tatsachen abzufinden lernen. Die heutigen Tatsachen sind allerdings noch nie dagewesen, und man hat kein Vorbild und keine Erfahrung auf diesem erschreckend ernsten Gebiete." Ilse Wunschs Buch zeigt mit solchen Dokumenten, daß das Ziel der Nazis, die Juden zu vernichten, deren Vorstellungskraft überstieg. Für den Völkermord gab es nicht nur bei den Tätern keine konkrete Sprache. Auch die Opfer konnten für das, was sich abzeichnete, keine genauen Worte finden. Das war nur nennbar als"erschreckend ernstes Gebiet". In gelegentlichen Exkursen kommt die Autorin auf das Lebensgefühl der Juden zurück, auf ihre Biographien. Viele Familien kamen aus dem Osten, lebten aber schon seit Generationen in Deutschland. Sie hatten im ersten Weltkrieg für "die Heimat" gekämpft, und in Friedenszeiten hatten sie wesentliche Beiträge in Kultur, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft geleistet. Kurz, man konnte sich als Teil einer mehr oder weniger heterogenen Bevölkerung in einer industrialisierten, kultivierten, aufgeklärten Republik fühlen. Und der sollte man den Rücken drehen und Hals über Kopf ins Ausland flüchten, vielleicht gar nach Palästina, von dem sagt Wunsch, doch eher die Juden aus den osteuropäischen Ländern träumten?
In der Fassungslosigkeit darüber, daß so wenige aus Deutschland flohen, als das noch möglich war - nicht lange - vergißt man auch oft, daß es eben nicht nur junge tatkräftige Leute waren, die flüchten und Sprache und Kultur wechseln mußten. Es waren natürlich auch die Älteren und Alten. 1939 bekommt Ilse Wunsch in die USA eine Karte ohne Absender geschickt, sie erkennt die Handschrift eines alten Onkels aus Berlin. Die Karte war als Kettenbrief gedacht und ist mit einem zweizeiligen Gebet beschrieben; ein Stoßseufzer, der Gott um Schutz und Segen anfleht. Dem alten Mann ist die Hoffhung auf Hilfe von Menschen, von seinen Zeitgenossen, ganz abhanden gekommen. Und Ilse Wunsch - was kann sie als mittellose Emigrantin außer dauernden Behördengängen machen in den USA -, Ilse fährt fort, den Alten in Briefen an die Mutter stets "lieb zu grüßen".
Autobiographien können das Rätsel des eigenen Lebens nicht lösen; sie können es im besten Fall nachbuchstabieren. Ilse Wunschs Leben muß, wenn man sich an die blanken Fakten hält, aufregend und kompliziert gewesen sein. Als Leser räselt man dann aber vor allen Dingen über die enthobene oder entlegene Schlichtheit, mit der dieses Leben beschrieben wird. Gegen Ende heißt es zusammenfassend, Zitat, "So muß ich mich halt damit begnügen, meinem Prometheus beigestanden und einer Anzahl von Menschenkindern ihre Ohren fur die Göttlichkeit der Musik geöffnet zu haben." Man möchte diese Schlichtheit nicht mit Naivität ineins setzen. Eher ist man entwaffnet von einem Charme, den es heute so nicht mehr zu hören gibt. Eine Liebenswürdigkeit, die durch das ganze Leben geht und die das eigene Lied unbeirrbar weiter singt, bei gelegentlich fest geschlossenen Ohren für das, was sich"draußen" abspielt.