"Wer wissen will, wer wir Deutschen sind, der muss in die Vergangenheit schauen".
In diesem Satz aus dem neuesten Buch des Bundespräsidenten a.D. Richard von Weizsäcker klingt das Leitmotiv seines ganzen Denkens und Handelns an. Richard von Weizsäcker, 1920 geboren, im Berlin der Weimarer Republik aufgewachsen, kann wie kaum ein anderer weit in die Vergangenheit zurückschauen, und er kann sie mit Gewinn für die Gegenwart deuten.
So wie mit seiner großen Rede am 8. Mai 1985, 40 Jahre nach Kriegsende, ist ihm jetzt eine gültige Interpretation der deutschen Geschichte von der Teilung bis zur Einheit gelungen. Richard von Weizsäcker schreibt als ein Zeitzeuge, der seine eigene Rolle nicht verschweigt, aber auch nicht überbewertet. Das Alter hat ihn gnädig gestimmt. Sein einstiger Zorn über die Parteien, die sich den Staat zur Beute gemacht haben, über die politischen Generalisten mit der Spezialkompetenz zur Bekämpfung des politischen Gegners scheint verraucht.
Er kritisiert immer noch - aber milde - die Haltung seiner eigenen Partei, der CDU, zur Ostpolitik Willy Brandts und den fehlenden Mut, nach der Wiedervereinigung den Menschen in den alten und den neuen Ländern zu sagen, dass ihnen auch Opfer abverlangt werden. Vor allem aber zeigt der Bundespräsident a. D. viel Sympathie für die Menschen in Ostdeutschland. Er lobt ihren Mut:
"So waren es die Bürger, die die Mauer überwunden haben, die Bürger im Osten. Sie waren die Hauptakteure in diesen unvergesslichen, dramatischen Wochen. Sie haben die Mauer von Osten her eingedrückt. Das wird keiner je vergessen, je umdeuten."
Und von Weizsäcker verteidigt sie gegen selbstgerechte Angriffe aus dem Westen:
"Die Bürger im Osten wussten weit mehr über den Westen als umgekehrt. Der Westen hatte sich weitgehend mit sich selbst beschäftigt. Über den Osten gab es oft eine Vorherrschaft von Pauschalurteilen: Unrechtsstaat, Stasi-Diktatur, Mauer, Stacheldraht, olympische Goldmedaillen. Das alles hat es ja gegeben. Aber daraus durfte und konnte nun keine Deutungshoheit des Westens über das menschliche Leben im Osten werden. Es gab eben auch ein richtiges Leben im falschen System ... "
60 Jahre nach Gründung der beiden deutschen Staaten und 20 Jahre nach dem Fall der sie so lange trennenden Mauer wird dieses Buch des ersten Bundespräsidenten des vereinten Deutschland zur Pflichtlektüre. Viele Ostdeutsche fühlen sich bei den zahlreichen 60-Jahr-Feiern übergangen, weil wie selbstverständlich die Geschichte des westdeutschen Teilstaates, der Bundesrepublik Deutschland, gefeiert wird. Vielleicht deshalb erinnert Richard von Weizsäcker zunächst an die Gründung der DDR und die ostdeutsche Antwort auf die gemeinsame Vergangenheit, den Holocaust, den Völkermord und den Angriffskrieg:
"Für die werdende Deutsche Demokratische Republik lautete die von Moskau verordnete Antwort vom ersten Tag an: Antifaschismus ... . Der Antifaschismus degenerierte zur Staatsräson, zur Grundorientierung gegenüber dem westlichen Teilstaat, dem die alleinige Trägerschaft und das ganze Erbe der Schuld für die Vergangenheit zugesprochen wurden."
Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland, die Ausarbeitung des Grundgesetzes als einer provisorischen Verfassung, Westbindung und soziale Marktwirtschaft handelt Richard von Weizsäcker eher kursorisch ab. Er kommt schnell zum Kern der politischen Auseinandersetzung, an der er selbst wesentlich beteiligt war: Die Aussöhnung mit den Nachbarn, mit Frankreich, vor allem aber mit Polen. Zunächst engagierte sich Richard von Weizsäcker in der evangelischen Kirche, wirkte an der "Ostdenkschrift" der EKD mit, die die Verständigung über die deutschen Ostgrenzen, auch die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, als die große politische Herausforderung der Zeit bezeichnete.
Erst 1969 wechselte er das Forum, legte sein Amt als Präsident des Evangelischen Kirchentages nieder und engagierte sich als Bundestagsabgeordneter für die innerdeutschen Beziehungen und die Aussöhnung mit den einstigen Kriegsgegnern. Die Darstellung der politischen Auseinandersetzung über die Ost- und Deutschlandpolitik der neuen sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt gehört sicher zu den wichtigsten Kapiteln dieses Buches. Richard von Weizsäcker gehörte zu der kleinen Minderheit seiner Partei, die für die Annahme der Ostverträge stimmte:
"Die ausgehandelten Ostverträge trugen die Unterschrift der gewählten Bonner Regierung. Alle anderen Länder hatten ihre Außenpolitik darauf eingestellt. Und nun die Ablehnung durch das Bonner Parlament? Westdeutschland wäre unvermeidlich in eine außenpolitische Isolierung geraten, in eine schwere Krise. Deshalb hatte ich mich schon zuvor in der innerparteilichen Beratung deutlich gegen eine Ablehnung ausgesprochen. Sie war nach meiner Überzeugung ein Fehler."
Die letzte Etappe auf dem Weg zur deutschen Einheit hat Richard von Weizsäcker nicht gestaltet, aber als Bundespräsident doch beeinflusst. Bundeskanzler Helmut Kohl bestätigte in seinen Erinnerungen das, was für politische Beobachter unübersehbar war, die zunehmende Distanz zwischen beiden. Kohl kritisierte, dass Richard von Weizsäcker schon als Regierender Bürgermeister von Berlin immer wieder eigene Wege gegangen sei. Helmut Kohl schreibt über die Position von Weizsäckers:
"Im Zusammenhang mit der Wende von 1989 gehörte Weizsäcker in mancher Hinsicht zu den Bedenkenträgern, vor allem, als es um den Beitritt der DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes ging. Die Freude über meine Erfolge in der Deutschlandpolitik, vor allem bei den schwierigen und verschlungenen Wegen zur deutschen Einheit, hielt sich bei ihm in Grenzen."
Richard von Weizsäcker lässt die Distanz zum damaligen Kanzler weniger direkt spüren. Zum Beispiel so:
"Im Sommer 1987 reiste ich zusammen mit dem damaligen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher nach Moskau. Es war der erste Besuch eines westdeutschen Staatsoberhauptes in der Sowjetunion, und er fand mitten im Kalten Krieg statt. Die Aufgabe dieser Reise wurde in westdeutschen Medien als 'Eisbrecherarbeit' charakterisiert."
Warum "Eisbrecherarbeit"?
"Ein neu angestrebter Kontakt zwischen Bonn und Moskau schien zunächst gescheitert zu sein, nachdem Bundeskanzler Kohl in einem amerikanischen Magazin unsere Verbündeten unserer unverminderten Treue und Freundschaft versicherte – das war seine Verantwortung und damit hatte er recht – und dann aber als eine Art Beruhigungspille hinzufügte, man solle sich über Gorbatschow, dessen Tonart zuweilen mit der von Goebbels zu vergleichen sei, nicht beunruhigen Das wurde in Moskau übelgenommen. So durfte es nicht bleiben."
Richard von Weizsäcker lobt durchaus Helmut Kohls Rolle bei der Erlangung der deutschen Einheit, wenn auch nicht überschwänglich. Tatsächlich bedauert er, dass die Vereinigung durch den Beitritt zur Bundesrepublik stattfand und nicht nach Artikel 146 des Grundgesetzes, also dadurch, dass sich das wiedervereinte Deutschland eine neue Verfassung gegeben hätte.
"Dies hätte die historisch, politisch und menschlich große Chance geboten, die Bevölkerung selbst und direkt um ihr Votum zum ganzen Vereinigungsvorgang zu bitten. Viele haben es aus höchst verständlichen Gründen schmerzlich empfunden, dass hierzu vor allem für die Bevölkerung in Ostdeutschland keine Gelegenheit gefunden oder vielleicht überhaupt nicht ernsthaft genug gesucht worden war."
Richard von Weizsäcker schreibt als Zeitzeuge über die jüngste deutsche Geschichte. Er tut dies mit einem erkennbaren Ziel: zusammenzuführen, nicht zu trennen, die innere Einheit Deutschlands zu fördern und die Überwindung der deutschen Teilung als bleibenden Auftrag zur Einigung Europas zu verstehen.
Dieter Jepsen-Föge war das über Richard von Weizsäcker: Der Weg zur Einheit. Erschienen bei C. H. Beck. 220 Seiten kosten 19 Euro 90.
In diesem Satz aus dem neuesten Buch des Bundespräsidenten a.D. Richard von Weizsäcker klingt das Leitmotiv seines ganzen Denkens und Handelns an. Richard von Weizsäcker, 1920 geboren, im Berlin der Weimarer Republik aufgewachsen, kann wie kaum ein anderer weit in die Vergangenheit zurückschauen, und er kann sie mit Gewinn für die Gegenwart deuten.
So wie mit seiner großen Rede am 8. Mai 1985, 40 Jahre nach Kriegsende, ist ihm jetzt eine gültige Interpretation der deutschen Geschichte von der Teilung bis zur Einheit gelungen. Richard von Weizsäcker schreibt als ein Zeitzeuge, der seine eigene Rolle nicht verschweigt, aber auch nicht überbewertet. Das Alter hat ihn gnädig gestimmt. Sein einstiger Zorn über die Parteien, die sich den Staat zur Beute gemacht haben, über die politischen Generalisten mit der Spezialkompetenz zur Bekämpfung des politischen Gegners scheint verraucht.
Er kritisiert immer noch - aber milde - die Haltung seiner eigenen Partei, der CDU, zur Ostpolitik Willy Brandts und den fehlenden Mut, nach der Wiedervereinigung den Menschen in den alten und den neuen Ländern zu sagen, dass ihnen auch Opfer abverlangt werden. Vor allem aber zeigt der Bundespräsident a. D. viel Sympathie für die Menschen in Ostdeutschland. Er lobt ihren Mut:
"So waren es die Bürger, die die Mauer überwunden haben, die Bürger im Osten. Sie waren die Hauptakteure in diesen unvergesslichen, dramatischen Wochen. Sie haben die Mauer von Osten her eingedrückt. Das wird keiner je vergessen, je umdeuten."
Und von Weizsäcker verteidigt sie gegen selbstgerechte Angriffe aus dem Westen:
"Die Bürger im Osten wussten weit mehr über den Westen als umgekehrt. Der Westen hatte sich weitgehend mit sich selbst beschäftigt. Über den Osten gab es oft eine Vorherrschaft von Pauschalurteilen: Unrechtsstaat, Stasi-Diktatur, Mauer, Stacheldraht, olympische Goldmedaillen. Das alles hat es ja gegeben. Aber daraus durfte und konnte nun keine Deutungshoheit des Westens über das menschliche Leben im Osten werden. Es gab eben auch ein richtiges Leben im falschen System ... "
60 Jahre nach Gründung der beiden deutschen Staaten und 20 Jahre nach dem Fall der sie so lange trennenden Mauer wird dieses Buch des ersten Bundespräsidenten des vereinten Deutschland zur Pflichtlektüre. Viele Ostdeutsche fühlen sich bei den zahlreichen 60-Jahr-Feiern übergangen, weil wie selbstverständlich die Geschichte des westdeutschen Teilstaates, der Bundesrepublik Deutschland, gefeiert wird. Vielleicht deshalb erinnert Richard von Weizsäcker zunächst an die Gründung der DDR und die ostdeutsche Antwort auf die gemeinsame Vergangenheit, den Holocaust, den Völkermord und den Angriffskrieg:
"Für die werdende Deutsche Demokratische Republik lautete die von Moskau verordnete Antwort vom ersten Tag an: Antifaschismus ... . Der Antifaschismus degenerierte zur Staatsräson, zur Grundorientierung gegenüber dem westlichen Teilstaat, dem die alleinige Trägerschaft und das ganze Erbe der Schuld für die Vergangenheit zugesprochen wurden."
Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland, die Ausarbeitung des Grundgesetzes als einer provisorischen Verfassung, Westbindung und soziale Marktwirtschaft handelt Richard von Weizsäcker eher kursorisch ab. Er kommt schnell zum Kern der politischen Auseinandersetzung, an der er selbst wesentlich beteiligt war: Die Aussöhnung mit den Nachbarn, mit Frankreich, vor allem aber mit Polen. Zunächst engagierte sich Richard von Weizsäcker in der evangelischen Kirche, wirkte an der "Ostdenkschrift" der EKD mit, die die Verständigung über die deutschen Ostgrenzen, auch die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, als die große politische Herausforderung der Zeit bezeichnete.
Erst 1969 wechselte er das Forum, legte sein Amt als Präsident des Evangelischen Kirchentages nieder und engagierte sich als Bundestagsabgeordneter für die innerdeutschen Beziehungen und die Aussöhnung mit den einstigen Kriegsgegnern. Die Darstellung der politischen Auseinandersetzung über die Ost- und Deutschlandpolitik der neuen sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt gehört sicher zu den wichtigsten Kapiteln dieses Buches. Richard von Weizsäcker gehörte zu der kleinen Minderheit seiner Partei, die für die Annahme der Ostverträge stimmte:
"Die ausgehandelten Ostverträge trugen die Unterschrift der gewählten Bonner Regierung. Alle anderen Länder hatten ihre Außenpolitik darauf eingestellt. Und nun die Ablehnung durch das Bonner Parlament? Westdeutschland wäre unvermeidlich in eine außenpolitische Isolierung geraten, in eine schwere Krise. Deshalb hatte ich mich schon zuvor in der innerparteilichen Beratung deutlich gegen eine Ablehnung ausgesprochen. Sie war nach meiner Überzeugung ein Fehler."
Die letzte Etappe auf dem Weg zur deutschen Einheit hat Richard von Weizsäcker nicht gestaltet, aber als Bundespräsident doch beeinflusst. Bundeskanzler Helmut Kohl bestätigte in seinen Erinnerungen das, was für politische Beobachter unübersehbar war, die zunehmende Distanz zwischen beiden. Kohl kritisierte, dass Richard von Weizsäcker schon als Regierender Bürgermeister von Berlin immer wieder eigene Wege gegangen sei. Helmut Kohl schreibt über die Position von Weizsäckers:
"Im Zusammenhang mit der Wende von 1989 gehörte Weizsäcker in mancher Hinsicht zu den Bedenkenträgern, vor allem, als es um den Beitritt der DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes ging. Die Freude über meine Erfolge in der Deutschlandpolitik, vor allem bei den schwierigen und verschlungenen Wegen zur deutschen Einheit, hielt sich bei ihm in Grenzen."
Richard von Weizsäcker lässt die Distanz zum damaligen Kanzler weniger direkt spüren. Zum Beispiel so:
"Im Sommer 1987 reiste ich zusammen mit dem damaligen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher nach Moskau. Es war der erste Besuch eines westdeutschen Staatsoberhauptes in der Sowjetunion, und er fand mitten im Kalten Krieg statt. Die Aufgabe dieser Reise wurde in westdeutschen Medien als 'Eisbrecherarbeit' charakterisiert."
Warum "Eisbrecherarbeit"?
"Ein neu angestrebter Kontakt zwischen Bonn und Moskau schien zunächst gescheitert zu sein, nachdem Bundeskanzler Kohl in einem amerikanischen Magazin unsere Verbündeten unserer unverminderten Treue und Freundschaft versicherte – das war seine Verantwortung und damit hatte er recht – und dann aber als eine Art Beruhigungspille hinzufügte, man solle sich über Gorbatschow, dessen Tonart zuweilen mit der von Goebbels zu vergleichen sei, nicht beunruhigen Das wurde in Moskau übelgenommen. So durfte es nicht bleiben."
Richard von Weizsäcker lobt durchaus Helmut Kohls Rolle bei der Erlangung der deutschen Einheit, wenn auch nicht überschwänglich. Tatsächlich bedauert er, dass die Vereinigung durch den Beitritt zur Bundesrepublik stattfand und nicht nach Artikel 146 des Grundgesetzes, also dadurch, dass sich das wiedervereinte Deutschland eine neue Verfassung gegeben hätte.
"Dies hätte die historisch, politisch und menschlich große Chance geboten, die Bevölkerung selbst und direkt um ihr Votum zum ganzen Vereinigungsvorgang zu bitten. Viele haben es aus höchst verständlichen Gründen schmerzlich empfunden, dass hierzu vor allem für die Bevölkerung in Ostdeutschland keine Gelegenheit gefunden oder vielleicht überhaupt nicht ernsthaft genug gesucht worden war."
Richard von Weizsäcker schreibt als Zeitzeuge über die jüngste deutsche Geschichte. Er tut dies mit einem erkennbaren Ziel: zusammenzuführen, nicht zu trennen, die innere Einheit Deutschlands zu fördern und die Überwindung der deutschen Teilung als bleibenden Auftrag zur Einigung Europas zu verstehen.
Dieter Jepsen-Föge war das über Richard von Weizsäcker: Der Weg zur Einheit. Erschienen bei C. H. Beck. 220 Seiten kosten 19 Euro 90.