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Zusammengewachsen oder fremdgeblieben?

Beim Thema Wiedervereinigung heben die meisten Politiker den Daumen, wogegen ihn viele Ökonomen senken. Bei den Soziologen pendelt er meist zwischen oben und unten, zwischen gut gewollt, aber schlecht in den Auswirkungen für zu viele Menschen. Diese Dreiteilung wurde auch auf dem Kongress "20 Jahre Deutsche Einheit – Von der Transformation zur europäischen Integration" deutlich, zu dem das Hallische Wirtschaftsforschungsinstitut IWH Experten aus Deutschland und Europa eingeladen hatte, denn: Kann der deutsche Prozess für Europa stehen?

Von Christian Forberg |
    Wenn nicht vor zwei Jahrzehnten, wäre es wohl nur wenig später zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten gekommen, erinnerte der Theologe und Bürgerrechtler Richard Schröder in seinem Eröffnungsvortrag des Hallenser Kongresses, denn – die DDR stand vor der Zahlungsunfähigkeit, was man "oben" wusste. Im Memorandum, das Gerhard Schürer, der oberste DDR-Wirtschaftsplaner, dem SED-Politbüro im Herbst 1989 vorlegte, sei nicht nur von der drastischen Entschlackung der Verwaltung die Rede gewesen:

    "Zweitens: bedeutende Einschränkung von Arbeitsplätzen. Schürer empfiehlt Arbeitslosigkeit. Die wäre auch ohne Einheit gekommen. In welchem Umfang weiß man natürlich nicht. Grundlegende Veränderung der Subventions- und Preispolitik; Klein- und Mittelbetriebe aus den Kombinaten ausgliedern; die Rolle des Geldes als Maßstab für Leistung, wirtschaftlichen Erfolg und Misserfolg ist wesentlich zu erhöhen."
    Und natürlich eine wahre Statistik und Informationspolitik einzuführen. - Alles zu spät: die DDR war auf dem technologischen Niveau der Bundesrepublik etwa des Jahres 1970 stehen und im Sumpf von Schönrechner und -rednerei stecken geblieben. Richard Schröder brachte die Wiedervereinigung deshalb so auf den Punkt: Lieber im Hafenbecken untergehen, als auf hoher See.
    Die Folge: Beitritt in einem "Schockverfahren mit dicht geknüpftem Fangnetz", wie es Hans-Jürgen Wagener von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder nannte. Der Schock, den auf dem Hallenser Kongress vor allem die Wirtschaftswissenschaftler kritisierten, war die zu schnelle Einführung der D-Mark und Übernahme des bundesdeutschen Lohn- und Sozialsystems, was den Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft zur Folge hatte: Verdoppelung der Löhne plus alte Wirtschaft gleich Konkurrenzunfähigkeit. An dem erwähnt dichten, sehr teuren Fangnetz hatten aber nicht nur die Gewerkschaften ein Interesse, so Professor Wagener:

    "Die Unternehmer hatten ebenfalls ein Interesse an den hohen Löhnen: Wenn die Löhne hoch sind, dann ist der Ertragswert niedrig; je höher die Löhne bei gleich bleibender Produktivität, desto niedriger die Gewinne - wir kommen in die Verluste hinein. Und genau das war der Effekt: Wenn sie im Osten Betriebe erwerben wollen, dann sorgen sie tunlichst dafür, dass zu Beginn die Löhne sehr hoch sind; dann ist der Ertragswert des Betriebes niedrig und sie können für wenig Geld kaufen. Das heißt sowohl die Gewerkschaften als auch die Arbeitgeberverbände hatten ein Interesse daran, dass eine Hochlohnstrategie gewählt wird. Und die Politik dann auch noch."
    Betrachtet man den Ostblock als Transformationsraum insgesamt, ist dieser Doppelprozess – Übernahme einer Volkswirtschaft einerseits und soziale Abfederung andererseits – einzigartig. Hans-Jürgen Wagener vergleicht ihn mit unseren direkten östlichen Nachbarn:

    "Die Tschechen standen auf sich selbst gestellt, haben einen Prozess gewählt der langsamen, graduellen Transformation. Wenn sie in ähnlicher Weise eine Hochlohnstrategie gewählt und eine hohe Arbeitslosigkeit bekommen hätten, dann hätten sie intern große Schwierigkeiten gekriegt – haben die Polen gehabt. In Polen hat man sehr viel höhere Arbeitslosenzahlen zugelassen, hat enorme Prozentsätze auch in die Rente geschickt, in die Frühverrentung, was hier ja in den neuen Bundesländern auch geschehen ist."

    Vor allem die Tschechische Republik hatte den Weg eines drastischeren Sozialabbaus eingeschlagen. Die Folge: Die Arbeitslosigkeit blieb im Vergleich zu Ostdeutschland sehr viel geringer, die Wirtschaft ist inzwischen stabiler und produktiver.

    Was alle drei Länder eint, ist der Ausgangspunkt: Die Nähe zu Westeuropa, die damalige EU als Vorbild und Ziel der politischen und sozialen Bestrebungen zum einen. Zum anderen seien die alten politischen Eliten konsequent abgewählt worden, sagt Helmut Wiesenthal von der Berliner Humboldt-Universität. Im Gegensatz zu anderen Staaten:

    "Wir müssen einfach sehen, dass es in einer Vielzahl von Transformationsfällen bei den an die Macht gekommenen Eliten gar nicht in erster Linie darum ging, die Demokratisierung so durchzuführen, wie sie in Polen, der Tschechoslowakei und so durchgeführt wurde. Sondern gerade bei den Republiken der ehemaligen UdSSR war es in erster Linie ein Machtwechsel. Ein Machtwechsel, begünstigt durch die günstige Gelegenheit des Machtzerfalls in der Machtzentrale in Moskau und die Öffnung des Westens gegenüber diesen Prozessen. Und davon muss man wirklich trennen die sieben Länder der ersten Beitrittswelle, die 2004 Mitglieder der EU geworden sind, bei denen eher ein von der Bevölkerung getragener Transformationsprozess stattfand."
    Bei aller Konsequenz der Absetzung der alten Eliten und der damit vollzogenen Gerechtigkeit – ein Übel am deutschen Vereinigungsprozess, eine Ungerechtigkeit blieb, sagte Richard Schröder:

    "Wirtschaftliche Prozesse verlaufen leider nicht nach Gesichtspunkten der Gerechtigkeit. Und wir haben eine große Zahl von Leuten, die, obwohl sie nie Systemträger waren, ihre Lebenssituation nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch enorm verschlechtert gesehen haben. Ich bewundere all diejenigen, die den Mut zum zweiten, zum dritten – mein Nachbar ist, glaube ich - viermal arbeitslos geworden, weil der Betrieb wiederum pleite ging; und immer noch wohlgemut. Das ist eine sehr große Leistung, die man nicht von jedem verlangen kann."
    Aber müssen gleich so viele Menschen das ganze System mit seinen Hauptwerten Demokratie und Freiheit anzweifeln, gar ablehnen? Der Jenaer Soziologe Michael Behr benennt dafür die Wegnahme der Arbeit als Ursache, als Kollateralschaden der ostdeutschen Gesellschaft:

    "Ich würde sagen, dass die Menschen in den neuen Bundesländern Arbeit als zivilreligiöse Dimension verinnerlicht haben, ohne explizit religiöse Bezüge herzustellen. Es ist eine säkularisierte Gesellschaft, die ihr Vergemeinschaftungsherz in der Arbeit hat und dort die Menschen den Ort ihre Identitätsverankerung sehen. Deswegen sind Anerkennungsfragen, persönliche Integrität, Respekt, die subjektive Dimension so enorm wichtig gegenüber der rein instrumentellen, an der Lohnarbeit orientierten, sodass auch bei denen, die Beschäftigung haben, ein dauerhaft großes Gefühl der Traumatisierung ist, der Beschäftigungsunsicherheit unabhängig von Leistung. Das heißt, die Entkopplung der Sicherheit von der Leistungsentäußerung ist etwas, was psychisch in hohem Maße als belastend empfunden wird. Man kann sagen, die nicht intendierten Effekte der Wende haben tief ins Herz der ostdeutschen Arbeitsgesellschaft gewirkt; die ostdeutsche Arbeitsgesellschaft ist eine gekränkte Arbeitsgesellschaft."
    Ohne Lohnarbeit, so der Brite Robert Castle, befinde sich der Mensch in der postindustriellen Gesellschaft in einem Niemandsland, also jenem Gebiet, das nicht durch Arbeit als dem zentralen Organisator privater und öffentlicher Beziehungen strukturiert ist.

    Auch im Westen vollzog sich ein Prozess hin zur "Arbeitsreligion", stellte Heiner Meulemann von der Uni Köln fest, der die Veränderung der Werte im vereinten Deutschland untersucht hatte. Nur war hier ein Abschied von der wirklichen Religion die Ursache: Die Zahl der Kirchgänger sackte konstant ab, obwohl sie noch weit über dem Osten liegt.

    Der Wert "Leistung" bekam mit der Wiedervereinigung einen enormen Auftrieb, ging aber Mitte der 90er-Jahre zurück. Professor Meulemann:

    "Wenn auf einmal die Arbeitsplätze abgebaut werden und man nolens volens Opfer dieser Entwicklungen ist, dann sehnt man sich natürlich zurück nach Verhältnissen, wo Gleichheit und Risikofreiheit üblich waren. Und das ist der Effekt: Vorher war mein Leben demgegenüber durchaus offen (man wollte sich mit Leistung identifizieren), aber die Verhältnisse sind nicht so. Und zwar durch die Turbulenzen der Transformation. Nicht die, die dem neuen System per se zuzuschreiben sind. Aber wer soll das unterscheiden? Wenn ich betroffen bin und keinen Arbeitsplatz habe, ist mir das relativ gleichgültig – ich bin arbeitslos. Punkt."

    Selbst sozial gut abgesicherte Ost-Rentner waren und sind gekränkt, weil ihnen oft nachgesagt wird, sie seien gegenüber den West-Rentnern besser gestellt, wobei deren Kapitalanlagen außer acht gelassen werden. Ingmar Kumpmann vom Hallenser Institut für Wirtschaftsforschung hat die Rentenentwicklung verfolgt:

    "Ich bin zum Ergebnis gekommen, dass die Ost-Rentner auf keinen Fall besser gestellt sind als die West-Rentner. Man könnte sagen, sie sind relativ gut gestellt, wenn man sie vergleicht mit den Jüngeren im Osten – da schneiden sie relativ gut ab. Das liegt daran, dass sie von Rentenerhöhungen und Lohnsteigerungen voll profitieren, aber das Beschäftigungsrisiko, das die Jüngeren massiv haben angesichts hoher Arbeitslosigkeit, eben nicht haben."
    Die Jüngeren kommen nicht mehr auf die hohen Beschäftigungszeiten und damit auf das Rentenniveau.

    Allerdings tritt in der Rentenentwicklung ein Phänomen auf, das auf sehr vielen anderen Gebieten ähnlich scheint: Ab Mitte der 90er-Jahre setzt eine Parallelentwicklung von Ost und West ein. Bei den "reinen Renten" zum Beispiel ging es zeitweise abwärts, parallel in West wie Ost.

    Gut fünf Jahre nach der Wiedervereinigung kam der wirtschaftliche Aufholprozess zum Stocken. Seitdem haben sich die Pro-Kopf-Produktion-Ost auf etwa die Hälfte des Westniveaus und die Angleichung der materiellen Lebensverhältnisse auf ein Prozent jährlich eingepegelt, woraus die Hallenser Wirtschaftsforscher einen Aufholzeitraum von ca. 50 Jahren errechnet haben. Auch deshalb, weil im Osten meist Filialen von mittleren und Großunternehmen sowie Kleinbetriebe ohne ausreichend Wirtschaftskraft, Forschungs- und Entwicklungskapazitäten vorherrschen. Allerdings liegt im Osten die Rendite höher: Die Arbeitskosten sind hier um ein Drittel niedriger.

    Auch bei der Entwicklung der Werte gibt es Parallelen, wenngleich die Moralität im Osten nach wie vor höher ist. Was aber weniger am Konservatismus dort liege, sondern an der schnelleren Liberalisierung im Westen, sagt Heiner Meulemann. - Weitgehend angeglichen haben sich lokale Eliten, die Jens Aderhold von der Hallenser Uni untersucht hat; zum einen in Nordrhein-Westfalen, zum anderen in Sachsen-Anhalt. Unterschiede gebe es im Elitenbewusstsein:

    "Die administrativen Eliten sind sich wesentlich stärker ihrer Position und ihrer Orientierung gewisser, sehen sich viel eher als Elite, als es die politischen Positionsinhaber für sich selber charakterisieren. Wir haben – und das ist das Spannende an unserem Projekt – auch die Bürger zu den Eliten und den kommunalen Strukturen befragt, wie die Legitimationsverhältnisse sind. Und was wir sehen ist, dass die Vertrauenswerte schwinden, und zwar in breiter Front."
    Man kenne noch den Bürgermeister, aber politische Funktionsträger kaum noch.
    Parallelen und Unterschiede in Bezug auf die Eliten hat auch der Soziologe Rudi Schmidt von der Uni Jena festgestellt.

    "Die Unterschiede beispielsweise bei den Managern zum Beispiel sind, dass sie hier im Osten viel kooperativer mit den Betriebsräten zusammenarbeiten und die Betriebsräte umgekehrt auch weniger konfliktorientiert sind. Man hat eine gemeinsame Krisenverantwortungsmentalität entwickelt, und die ist bis heute maßgeblich. Andererseits hat sich das inzwischen auch im Westen so ähnlich entwickelt, weil die dauerhafte Strukturkrise im Westen unter dem Globalisierungsdruck auch zu stärkerer Anpassungsbereitschaft geführt hat."
    Ein Resümee und ein Ausblick werden notwendig. Das Resümee auf dem Kongress zur deutschen Einheit gab Professor Schmidt als Schlusswort ab. Rückblickend hätte er sich eher für die langsamere Gangart der Wiedervereinigung entschieden, "denn bis heute haben wir eine geringere Industrialisierung als in Westdeutschland, und die Wachstumsmotoren sind vor allen Dingen die gewerbliche Branche und die unternehmensnahen Dienstleistungen - die sind nur stark, wenn auch die Industrie stark ist. Insofern war das ein Geburtsmangel, der uns bis heute große Probleme bereitet."
    Dennoch betrachte er die Transformation als abgeschlossen:

    "Aber die Folgen der Transformation noch lange nicht. Das kann man allein daran sehen, dass wir immer noch einen großen negativen Bevölkerungssaldo haben. Es gehen immer noch mehr Menschen weg vom Osten, als umgekehrt, und wir verlieren immer mehr junge Menschen, die irgendwann mal dann fehlen werden, wenn die Industrie wachsen soll und wachsen will und dann keine entsprechenden Fachkräfte mehr hat. Und dann wird es ein ernstes Problem für den Osten, weil – wachsen kann man nur immer aus endogenem Potenzial heraus, aus sich selbst heraus. Also nicht von außen sozusagen "gepampert" und gefüttert, sondern aus eigener Kraft heraus wachsen – das ist das innewohnende Potenzial, was im Osten durch diese demografische Entwicklung gefährdet wird."
    Kurt Biedenkopf sprach bei der Einführung des Kongresses von der zunehmenden "Konkurrenz um junge Leute" und der Notwendigkeit, die Hochschulen im Osten so auszustatten, dass sie mehr westdeutsche Studenten aufnehmen könnten.

    Selbst unter der Voraussetzung, dass einige auch im Osten blieben, weil sie Arbeit fänden, befürchtet Michael Behr, "dass wir auch abgehängte Regionen haben und abgehängte Menschen. Wir haben auf der einen Seite eine Hochgeschwindigkeitsökonomie – es wächst der Anteil von Leistungsindividualisten, die mithalten können, die auf Bildung bauen und hohes Engagement, und wir haben solche, die auf die ICE-Züge der Hochgeschwindigkeitsökonomie nicht mehr aufspringen können. Ich fürchte, dass wir beides bekommen könnten: angehängtes Prekariat, verfestigte Dauerarbeitslosigkeit, Hartz 4 in der zweiten Generation, und auf der anderen Seite Leute, die so etwas wie einen neuen Mittelstand etablieren. Dann zerreißt nicht nur die ostdeutsche Arbeitsgesellschaft, dann zerreißt sie in ihrem Selbstverständnis, als relativ kohäsiv gegenüber Westdeutschland."
    Abgesehen vom womöglich endgültigen Verschwinden dieses gefühlten Zusammenhaltens sieht Behr auch Chancen durch den Bevölkerungsschwund, der in den letzten Jahren etwas zurückging. Es sind Chancen für das junge Prekariat, weil das einstige Reservoir für die Unternehmen erschöpft sei.

    "Die Unternehmer befanden sich im personalwirtschaftlichen Paradies – eine Sondersituation: Es gab noch nie solch intelligente Reservearmeen, wie in den Zeiten nach der Wende. Sie sind zu Rosinenpickern geworden, zu Warmstartern. Sie haben sich kaum auf Leute mit Umbrüchen einlassen müssen, und ich glaube, es wird eine Umorientierung stattfinden: Aus Rosinenpickern werden solche, die intelligente Strategien der Humankapitalerschließung benötigen. Und dann werden vielleicht auch jene geburtenstarken Jahrgänge in den Blick geraten, die nur schwierige Einmündungsmöglichkeiten seit Mitte der 90er-Jahre hatten, ob die nicht doch integrierbar sind. Und dann bekommen wir statt einer Kultur der Selektion, wie wir sie in den letzten 20 Jahren hatten, eine Kultur der Integration."