Samstag, 04. Mai 2024

Archiv


Zuviel ist zuviel

Medizin. - Zusätzliche Vitamine in Pillenform bringen nicht nur keinen Zusatznutzen, sondern scheinen sogar schädlich zu sein. Das haben jedenfalls zwei große Studien ergeben, die im amerikanischen Fachjournal JAMA veröffentlicht wurden.

Von Marieke Degen | 20.10.2011
    Eigentlich hatte Eric Klein von der Cleveland Clinic mit einem anderen Studienergebnis gerechnet. Eigentlich wollte der Urologe zeigen, dass Vitamin E Prostatakrebs verhindern kann. Darauf hatten ein paar kleinere Studien zumindest hingedeutet. Eric Klein und seine Kollegen wollten das im großen Stil überprüfen, in einer Studie mit 35.000 Teilnehmern. 9000 haben jeden Tag Vitamin E geschluckt, fünfeinhalb Jahre lang. Doch das Ergebnis der Studie ist vernichtend.

    "Die Männer, die Vitamin E geschluckt hatten, hatten ein deutlich höheres Risiko, an Prostatakrebs zu erkranken. Von 1000 Männern, die Vitamin E nahmen, erkranken 76 an Prostatakrebs. In der Kontrollgruppe ohne Vitamin E waren es nur 65, also elf weniger."

    Eric Klein geht davon aus, dass das an der extrem hohe Dosierung des Vitamins liegt. Die Tagesdosis war nämlich 20 Mal höher als empfohlen.

    "Vitamin E wirkt antioxidativ. Es schützt also die Zellen vor freien Radikalen und kann deshalb auch helfen, Krebs zu verhindern – haben wir gedacht. Inzwischen gibt es aber Hinweise, dass hohe Vitamin-E-Dosen genau das Gegenteil bewirken: Sie verschlimmern den oxidativen Stress, und das kann dazu führen, dass Gewebe geschädigt wird und Krankheiten wie Krebs entstehen."

    Dass eine Überdosis an Vitaminen auf lange Sicht eher schadet als nützt, darauf deutet auch eine große Studie aus den USA hin. Die Forscher hatten 40.000 ältere Frauen 20 Jahre lang begleitet und sie immer wieder nach ihren Essgewohnheiten gefragt. Dreiviertel aller Teilnehmerinnen haben regelmäßig Nahrungsergänzungsmittel geschluckt: darunter Multivitamin-Tabletten, Folsäure, Eisen und Magnesium. Und ausgerechnet diese Frauen starben häufiger an Krebs oder Herzkreislauferkrankungen. Christian Gluud von der Universität von Kopenhagen erforscht seit langem die schädlichen Effekte von Vitaminen. Er hat die Studie im Fachmagazin "Archives of Internal Medicine" kommentiert.

    "Die Studie ist eine reine Beobachtungsstudie. Das bedeutet, dass die Forscher zwar einen Zusammenhang zwischen den Nahrungsergänzungsmitteln und dem erhöhten Sterberisiko sehen, aber sich nicht wirklich sicher sein können, ob es nicht auch andere Ursachen dafür gibt."

    Christian Gluud nimmt die Ergebnisse trotzdem sehr ernst. Denn sie bestätigen die Ergebnisse von randomisierten klinischen Studien, also Studien, in denen ein Teil der Probanden die Vitamine bekommt und der andere Teil nicht.

    "Solche Studien sind wesentlich aussagekräftiger. Und auch die haben gezeigt, dass die Sterberate durch Nahrungsergänzungsmittel wie Beta-Carotin, Vitamin E und Vitamin A steigt. Vitamin D dagegen scheint das Sterberisiko zu senken."

    Offenbar, sagt der Ernährungswissenschaftler, könne nicht nur zu viel Vitamin E pro-oxidativ wirken und die Zellen schädigen. Sondern auch zu viel Vitamin A und Beta-Carotin. Gluud:

    "Normale Menschen, die sich ganz normal ernähren, nehmen genug Vitamine und Mineralstoffe zu sich. Wenn sie darüber hinaus noch Nahrungsergänzungsmittel schlucken, dann riskieren sie eine Überdosis."

    Wer keinen Nährstoffmangel hat, sollte deshalb auf Nahrungsergänzungsmittel verzichten. Die Realität sieht aber anders aus: In Industrienationen setzt jeder dritte auf Vitaminpillen und ist überzeugt davon, etwas für die Gesundheit zu tun. Gluud:

    "Wenn es stimmt, dass solche Stoffe die Sterberate erhöhen – ich sagen Ihnen, dann könnten die mehr Menschenleben fordern als der Zweite Weltkrieg."

    Christian Gluud fordert strengere Gesetze für die Hersteller: Sie müssten ihre Nahrungsergänzungsmittel testen, bevor sie auf den Markt kommen. Und nachweisen, dass sie mehr nutzen als schaden. Genau wie bei einem Medikament. Aber solche Tests sind für Nahrungsergänzungsmittel einfach nicht vorgeschrieben.