Samstag, 18. Mai 2024

Archiv


Zuwachs von unten

Polarforschung. - Die geophysikalische Vermessung der Gamburtsev-Berge unter dem ostantarktischen Eisschild war eines der Paradeprojekte des Internationalen Polarjahrs. Jetzt berichtet das Forscherteam in "Science ", dass in den Tälern dieser Bergkette der Eispanzer von unten anwächst. Wasser aus dort liegenden Seen oder gar Flüssen sorgt für Eisnachschub.

Von Volker Mrasek | 04.03.2011
    Das Untersuchungsgebiet in der Ost-Antarktis war so groß wie der US-Bundesstaat Kalifornien. Die Gegend mit den höchsten Gipfeln auf dem Süd-Kontinent nennt sich Dom A. Der Eispanzer hier ist bis zu 3.000 Meter dick und liegt einem verborgenen Gebirge auf. Wochenlang überflogen die Forscher diese Eiswüste mit einer Propellermaschine. Das Flugzeug hatte geophysikalische Messgeräte an Bord. Darunter ein Radar, das den Eispanzer bis auf den Grund durchleuchtete.

    "Mit dem Radar können wir nicht nur sehen, wie dick das Eis ist, sondern auch, ob sich Wasser darunter befindet. Denn es reflektiert das Radarsignal sehr stark. Ergänzende Magnetfeld- und Gravitationsmessungen liefern uns zusätzliche geologische Informationen über das Gebirge unter dem Eisschild. "

    Fausto Ferraccioli gehörte zum Team der Projektleiter. Der italienische Geophysiker ist schon lange beim Britischen Antarktisdienst. Auch er war von den Messergebnissen aus der Region des sogenannten Gamburtsev-Gebirges ziemlich überrascht. Offenbar wächst der Eisschild der Ost-Antarktis nicht allein durch Schnee, der auf seine Oberfläche fällt ...

    "Was im Gamburtsev-Gebirge geschieht, ist sehr interessant. Wir sind dort auf ungewöhnlich strukturierte Eisschichten in der Tiefe gestoßen, die man so normalerweise nicht in der Antarktis antrifft. Sie befinden sich direkt über Wasserkörpern in den Tälern und teilweise auch an den Hängen dieses hohen Gebirges. Wir glauben, daß die basalen Eisschichten durch ein Gefrieren des Wassers darunter entstanden sind. "

    Auf einer Fläche von über 25.000 Quadratkilometern wollen die Forscher auf diese Sorte Tiefeneis gestoßen sein. Fast ein Viertel der basalen Eisschichten im Untersuchungsgebiet bestehe daraus. Die Schichten seien bis zu 1100 Meter dick. Stellenweise wächst der größte Eisschild der Erde demnach von unten, wie Fausto Ferraccioli und seine Kollegen glauben:

    "Wir interpretieren die Daten so, daß wir es hier mit einem weit verbreiteten und schon lange andauernden Prozess zu tun haben. Er spielt sich dort ab, wo es tiefe Gebirgstäler gibt. Ich möchte auch sagen, daß das Gefrieren von subglazialem Wasser zu Eis schon einmal beobachtet worden ist. Und zwar am berühmten Wostok-See nahe der russischen Antarktis-Station. Forscher haben Bohrungen in den Eispanzer über dem See getrieben und fanden dort direkte Belege für Eiszuwächse von unten. "

    Auf dem Eis in der Tiefe lastet ein immenser Druck, während aus dem Erdinneren geothermale Wärme nach oben strömt. So erklären sich die Forscher die Existenz der subglazialen Seen in der Antarktis. Nach ihrer Vorstellung ist es schon seit Zehntausenden von Jahren so, daß das Seewasser wieder gefriert, den Eisschild von unten nährt und ihn so nach und nach aufwölbt – zumindest stellenweise. Doch was ist mit dem Gewicht des Eispanzers? Ist er nicht viel zu massiv, um von unten angehoben zu werden? Und woher stammt das ganze Tiefenwasser? Wenn es schon seit Äonen das darüberliegende Eis speist, müsste es ständig nachgeliefert werden. Geophysiker Ferraccioli ist sich dieser Fragen bewusst. Er versteht die neue Studie als Anstoß für weitere Forschungsaktivitäten in den Kühlkammern der Polarregionen:

    "Man kann sagen: Die Suche ist hiermit eröffnet! Wir sollten uns bemühen, weitere Regionen zu finden, in denen diese Prozesse ablaufen könnten. Dafür kommen auch einige Randgebiete der West-Antarktis und Grönland in Frage. Genaue Messdaten aus diesen Regionen fehlen uns noch. "

    Wenn die Forscher Recht behalten, wartet Arbeit auf die Entwickler und Betreiber von Computermodellen der Eisdynamik: Sie müssten dann ihre Simulationen um den Frost aus der Tiefe ergänzen.