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Zuwanderung vor 25 Jahren
"Aufgeputschte Stimmung" in den Auffanglagern

Gedränge in Auffangquartieren, auf alten Schiffen, in Turnhallen, Kasernen und Zelten. Das gab es Deutschland schon einmal, als vor 25 Jahren DDR-Übersiedler und Flüchtlinge vom Balkan nach Westdeutschland kamen. Die Situation sei heute ähnlich – und doch habe sich etwas geändert, sagen einige, die damals dabei waren.

Von Moritz Küpper | 12.11.2015
    Blick in die im November 1989 zum Schlafsaal umfunktionierte Turnhalle in der Bundesgrenzschutz-Kaserne Schwarzenbek in Schleswig-Holstein.
    Blick in die im November 1989 zum Schlafsaal umfunktionierte Turnhalle in der Bundesgrenzschutz-Kaserne Schwarzenbek in Schleswig-Holstein. (picture alliance / dpa / Carsten Rehder)
    Ein modernes Neubaugebiet in der Essener Innenstadt. "Das ist ein Neubau von 2013." Seit drei Monaten wohnt Günter Herber hier. Er bittet in die offene Wohnung. Alles ist neu, wie das gesamte Viertel. Doch draußen, in der Stadt und rund um Essen, da wiederholt sich scheinbar die Geschichte. Herber, weiße Haare, Brille und heute 81 Jahre alt, war 13 Jahre lang Sozialdezernent der Stadt. Von 1986 bis 1999.
    "Ich erinnere mich daran, dass wir unter großem Stress gestanden haben, weil wir oft monatlich bis zu 500 Flüchtlinge bekommen haben, weil wir Quartier schaffen mussten. Oft von jetzt auf gleich. Weil wir gebaut haben. Weil wir Turnhallen belegt haben, weil wir Zelte aufgestellt haben. Das war durchaus parallel zur heutigen Situation."
    Und ist doch 25 Jahre her.
    "Alles was sie machten, hatte natürlich Protest in der Bevölkerung. Und zwar der Protest einfach gegen die Unterkünfte in der Nähe, weil die Leute Angst hatten vor den Fremden, gegen den Lärm, der von solchen Unterkünften ausging. Die Menschen hatten eine andere Lebensgewohnheit: Sie blieben abends länger auf und blieben länger draußen, als die Nachbarn. Natürlich Ärger mit den Schulen, die auf ihre Turnhallen verzichten mussten, Ärger mit den Plätzen, der Einwohner an den Plätzen, wo Zelte aufgebaut wurden. Diesen Ärger gab es an allen Ecken."
    "Der Spiegel" beschrieb es damals so: "Die Situation in den Heimen und Lagern spitzt sich immer mehr zu, Meldungen über Saufereien und Raufereien häufen sich. In einigen Einrichtungen herrsche eine derart 'aufgeputschte Stimmung', berichtet der Essener Sozialdezernent Günter Herber, dass er es nicht mehr wage, 'da einen Sozialarbeiter hinzuschicken, das ist schon beinahe lebensgefährlich'."
    Eine Aussage, an die sich Herber im Detail heute nicht mehr erinnern kann. Sowieso lag für ihn die Problematik nicht allein bei den DDR-Übersiedlern: "Für mich war die Flüchtlingsfrage vor allem im Rahmen des Balkan-Krieges von enormer Wichtigkeit. An die DDR-Aussiedler, Übersiedler muss man besser sagen, die da gekommen sind: Das ist nicht mehr so in meiner Erinnerung. Das war auch kein so großes Problem."
    Ähnliche Dimensionen, eine andere Stimmung
    Wer heute bei der Stadt Essen nachfragt, kommt auch nicht viel weiter: "Wir hatten in den Spitzenzeiten der 90er-Jahre über 40 Einrichtungen für circa 6.000 Personen in Essen", heißt es da. Eine weitere Differenzierung sei nicht möglich. Aber der Vergleich zu heute: Bis Anfang November waren 3.200 Asylbewerber neu in der Stadt, Ende des Jahres werden es voraussichtlich 5.100 sein, teilt das Presseamt mit. Die Dimension ist wohl ähnlich. Dennoch, die Stimmung ist für Herber, vor seiner Zeit als Sozialdezernent Leiter des diakonischen Werkes in Essen, heute eine andere: "Ich finde, sie ist bereiter als vor 20 Jahren. Vor 20 Jahren hatten wir auch Helfer-Gruppen in jeder unserer Unterkünfte, aber keineswegs in dieser Breite, wie wir es heute haben. Das ist ein wesentlicher Fortschritt, der mich sehr zuversichtlich stimmt, und ich denke, die Ängste, die ich in Bürgerversammlungen erlebt habe, sind nicht so gravierend, wie wir sie, wie ich sie damals erlebt habe."
    Denn Herber lebte wochenlang unter Polizeischutz, bekam Morddrohungen: "Das hat sich geäußert in Briefen, die ich bekommen habe, in Telefonanrufen, die ich bekommen habe, in heftigen Vorwürfen, mit Eier-Würfen und Tomaten-Würfen auf Bürgerversammlungen."
    Als vor einem Monat ein Attentat auf die ehemalige Kölner Sozial-Dezernentin und heutige Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker verübt wurde, waren Herbers Gedanken sofort in der Vergangenheit, er kannte Reker gut, sie hatten gemeinsam in Gelsenkirchen gelebt: "Was mir zuerst einfiel, war meine Zeit. Als ich das gehört habe, was ihr passiert ist. Ich war damals sehr dankbar, dass mir das nicht passiert ist, und ich finde schon, die Gefahr ist, wenn man sich in diesen Job hineinbegibt - im Augenblick ist die Gefahr groß."
    Den Zuwanderungsprozess wissenschaftlich begleiten
    Was, so Herber, auch an der aufgeheizten Stimmung liegen mag. "Also, ich finde schon, dass dieser Artikel überzeichnet. Nun war man damals mittendrin im Geschehen, und das ging natürlich auch turbulent zu", sagt Sabine Meck. Auch sie hat sich damals mit der Situation beschäftigt, auch sie wird in dem 25 Jahre alten "Spiegel"-Artikel zitiert. Sie war damals Mitarbeiterin der Forschungsgruppe Übersiedler an der Universität Bochum. Im "Spiegel" stand dazu: "Eine 'unglaubliche Naivität' hat Sabine Meck von der Bochumer Forschungsgruppe unter den Neuzuzüglern ausgemacht."
    "Ja, damals war ich noch sehr jung, heute würde ich es weniger drastisch ausdrücken. Naiv würde ich es heute halt nicht mehr nennen, sondern einfach verklärt. Eine verklärte Vorstellung", von dem, was die Bundesrepublik bieten könnte, meinte sie. Meck ist psychotherapeutische Beraterin, hat heute ein eigenes Institut für Persönlichkeitsforschung in Berlin. Damals hat sie sich vor allem mit den DDR-Übersiedlern beschäftigt, kann davon erzählen, wie die Arbeitgeber Schlange standen, wie es aber doch - trotz gemeinsamer Sprache - auch Schwierigkeiten gab. Dennoch: Meck bringt aus diesen Erfahrungen Zuversicht mit. Und bei allen Unterschieden plädiert sie dafür, den heutigen Zuwanderungs- und Integrationsprozess wissenschaftlich begleiten zu lassen: "Und ich denke, das ist gerade in einer solchen Zeit, wo die Emotionen so stark überborden an allen Ecken und Enden, ist es total wichtig, so einen objektiven, möglichst objektiven Gradmesser auch zu haben. An dem man sich orientieren kann. Der ernüchtert auch."