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Zwei Bücher über die Wurzeln des Arabischen Frühlings

Die ersten Menschen gingen im Jemen und in Syrien auf die Straße, um für die Demokratie zu kämpfen. Die Machthaber wie auch der Westen haben die Revolten nicht kommen sehen. Wie war diese Entwicklung möglich? Dieser Frage sind der Historiker Emmanuel Todd und ARD-Korrespondent Jörg Armbruster auf unterschiedliche Weise nachgegangen.

Von Cornelius Wüllenkemper | 22.08.2011
    Der erste Rausch der Revolution ist verflogen, und während es in Staaten wie Tunesien und Ägypten nun um die Stabilisierung der Demokratiebewegung geht, fordern Bürgerkriege zwischen Freiheitskämpfern und regimetreuen Truppen in Syrien und Libyen täglich neue Opfer. Wohin entwickeln sich die arabischen Staaten? Diese Frage kann derzeit wohl niemand beantworten, nicht zuletzt weil die Situation im Jemen nicht mit der in Ägypten vergleichbar ist, die in Syrien nicht mit der in Tunesien. Mittlerweile haben die ersten Analysen der Ereignisse den Buchmarkt erreicht: während der Nah-Ost Korrespondent der ARD, Jörg Armbruster, in seinem Buch "Der arabische Frühling" die Rolle der jungen Generation für die Umwälzungen in der Region untersucht, geht der französische Wissenschaftler Emmanuel Todd in seinem kurzen Band "Frei!" der Bedeutung der Revolten für die Modernisierung der arabischen Welt nach. Jörg Armbruster war dabei, als nur zehn Tage nach dem Rücktritt des tunesischen Machthabers Ben Ali, am 25. Januar, auch in Kairos Straßen Hunderttausende gegen die Unterdrückung durch das Regime Mubarak demonstrierten und sich später im Internet zur Besetzung des Tahrir-Platzes organisierten. Armbruster berichtet von seinen Begegnungen mitten aus der Protestbewegung:

    Ich tue dies, damit meine Kinder es einmal besser haben…

    erzählt uns der Besitzer eines gut gehenden Reisebüros. Lehrer schließen sich an, weil sie gegen ihre überfüllten Klassen protestieren wollen. Bis zu fünfzig Kinder muss ein einziger Lehrer an manchen Schulen unterrichten. Der 25. Januar, das ist der Protesttag der zornigen Jugend, der verzweifelten Armen, der resignierten Staatsbeamten und des desillusionierten Bürgertums. Sie alle haben ein Ziel Mubarak und sein System müssen weg. Sonst kann es nicht besser werden.

    Jörg Armbruster erzählt eindrücklich von seiner Arbeit als Reporter, wie er die Menschen, ob Gewinner oder Opfer der autoritären Regime, vor Ort erlebt. Er beschreibt das Elend der Massen, den Analphabetismus, die Arbeitslosigkeit und vor allem die brutale Verfolgung Andersdenkender durch die Geheimpolizei in Ägypten und Tunesien und noch drastischer in Syrien und Libyen. Den Flächenbrand in vielen arabischen Staaten von Ägypten bis zum Jemen führt Armbruster auf einen Nenner zurück:

    Die Demonstranten werden Demokratie und Reformen fordern und ihre Regierungen anklagen. Die arabischen Völker könnten ihre Anklageschriften untereinander austauschen. Sie lesen sich fast immer gleich: Korruption, Unterdrückung, Willkür, Günstlingswirtschaft, keine Perspektive für die Jugend, Arbeitslosigkeit, Teuerung.

    Für Armbruster steht am Anfang der arabischen Revolutionsbewegung der Obst- und Gemüsehändler Mohammed Bouazizi, der sich aus Protest gegen die grundlose Schikanierung und Erniedrigung durch die tunesische Polizei am 17. Dezember 2010 in der Kleinstadt Sidi Bouzik selbst verbrannte. Wo Armbruster mit lebensnahen Berichten über seine Erlebnisse als Reporter empirische, oft resümierende, aber keineswegs unplausible Erklärungen aufzeigt, greift der französische Historiker und Demograf Emmanuel Todd in seinem kurzen Bändchen "Frei! Der arabische Frühling und was er für die Welt bedeutet" auf das Arsenal der historisch-wissenschaftlichen Analysentechniken zurück. In früheren Studien hat der Franzose nicht nur den Untergang der UdSSR und die aktuelle Schwächung der Weltmacht USA überraschend exakt vorausgesagt. Bereits vor drei Jahren sah er in seinem Buch über die "Unaufhaltsame Revolution" auch die arabischen
    Revolutionen kommen und das, was er "das Ende des Islamismus" nennt. Todd bedient sich für seine Analysen ausschließlich der Statistiken über die Geburtenraten, die demografische Entwicklung sowie das Bildungsniveau und die Alphabetisierung eines Volkes. Wirtschaftliches Elend und die Verfolgung durch diktatorische Regime spielen für ihn für die Revolutionen hingegen nur eine marginale Rolle.

    In einer Gesellschaft, die ihre Geburten kontrolliert, haben sich die Beziehungen zwischen Mann und Frau geändert. Noch
    dazu ereignet sich der Geburtenrückgang in einer Gesellschaft, in der die Jungen schreiben und lesen lernen, nicht aber ihre Väter lesen können. Diese führt zu einem Bruch in den Autoritätsbeziehungen, und zwar nicht nur auf familiärer Ebene, sondern implizit auf der Ebene der Gesamtgesellschaft. In den arabischen Gesellschaften, die patrilinear organisiert sind und in denen die Frauen den Männern im Status deutlich untergeordnet sind, ist dies natürlich eine entscheidende Variable.


    Todd leitet in seinem Gesprächsband, der ein früheres Kamera-Interview mit dem Team der unabhängigen französischen Website "@rrêt sur images" wiedergibt, die unterschiedlichen Erfolge und den Grad der Nachhaltigkeit der Demokratie-Bewegungen vom jeweiligen Modernisierungsniveau von Staaten wie Ägypten, Tunesien oder auch Bahrain ab. Allerdings bringt den Wissenschaftler diese Methodik auch zu überraschenden Einschätzungen, beispielsweise dass der Iran den anderen Ländern im Nahen Osten in Sachen Demokratisierung um mindestens 30 Jahre voraus sei. Emmanuel Todd versteht sich als Provokateur, der sich explizit von politischen oder gar medialen Einschätzungen zur arabischen Welt absetzt.

    Die Medienlandschaft bringt minütlich Interpretationen zu den Ereignissen hervor. Ich halte mich stur an mein Modell und nicht an die unmittelbaren Ereignisse. Ich habe meine Parameter, ordne die Dinge ein und komm dabei tatsächlich auf überraschende Ergebnisse. Ich sehe einfach andere Dinge als beispielsweise die Journalisten.

    Jörg Armbruster und Emmanuel Todd, so unterschiedlich ihr Blick auf die Ereignisse auch sein mag, kommen letztlich zum gleichen Ergebnis: die arabischen Revolutionen sind längst
    nicht vollendet, aber ihr Impuls ist nicht mehr aufzuhalten. Für Armbruster hängt die arabische Zukunft an der Frage, inwiefern die jungen Revolutionäre sich aus der "Facebook-Falle" zu befreien wissen und ihre im Internet organisierte Bewegung auch in den realen politischen Machtkämpfen durchsetzen können. Die arabischen Völker haben sich, so der Reporter, von Bevormundung, Angst und Unterdrückung befreit und ihre Würde wiedererlangt. Den westlichen Staaten, allen voran Frankreich und Deutschland, falle jetzt die Aufgabe zu, ihre eigenen geldwerten Interessen in den arabischen Staaten hinter einer neutralen Unterstützung der Modernisierung zurückzustellen. Nicht zuletzt hänge es jetzt aber auch am Verhalten der undurchsichtig agierenden Militärs der Revolutionsstaaten, wie schnell stabile Demokratieformen arabischer Art entstehen können. Die Furcht vor der Islamisierung ob im Nahen Osten oder auch in der westlichen Welt bezeichnet Emmanuel Todd als fiktives, "psychatrisches" Problem unserer "kranken Gesellschaft": gehe die Modernisierung von Staaten doch stets mit einem Rückgang der Religiosität einher. Dabei erinnert Todd auch daran, dass selbst Frankreich annähernd 100 Jahre brauchte, um aus der großen Revolution eine stabile Demokratie entstehen zu lassen. Wo Emmanuel Todd die spektakulären Ereignisse in den arabischen Staaten schematisch in die Weltgeschichte einordnet, überwiegt bei Jörg Armbruster der unmittelbare, konkrete Eindruck von den Straßen und Plätzen der Revolutionsstaaten und den Hinterzimmern des Aufstands. Zwei Bücher also, die durchaus lesenswert sind, und sich vor allem ideal ergänzen.

    Emmanuel Todd: Frei! "Der arabische Frühling und was er für die Welt bedeutet." Piper Verlag, 96 Seiten, 3,99 Euro
    ISBN: 978-3-492-27444-9

    Jörg Armbruster: Der arabische Frühling. Als die islamische Jugend begann, die Welt zu verändern. Westend Verlag, 239 Seiten, 16,99 Euro
    ISBN: 978-3-938-06044-5