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Zwei Gesichter in einer Person

Kurz fürchtet man einen klischeehaften Arztroman – wird aber schnell eines Besseren belehrt: Anna Enquists Roman über ein Geschwisterpaar im Krankenhausbetrieb gibt einen bewegenden Einblick in die Seelen trauernder Menschen.

Von Martin Grzimek | 29.03.2013
    Der Piepser. ‚Schockraum, in fünf Minuten. Bauchtrauma.’ Ich gehe kurz hin, denkt Suzan (...). Sie spürt ihre Beine nach einem Tag Stehen und Rennen. Unten steht das Team bereit, mindestens zwölf Leute drängen sich um den leeren Tisch. Die Sirene des Krankenwagens wird immer lauter. Dann kommen die Sanitäter hereingerannt (...) Einer von ihnen (...) teilt allen Anwesenden laut die Fakten mit. ‚Junge Frau, Radfahrerin, (...) über den Lenker gestürzt, Lenkerende in Bauchhöhle gedrungen, große Wunde in Symphyse, Infusion angelegt, bei Bewusstsein, starke Schmerzen.’ Suzan nimmt ihre Position am Kopfende des Tisches ein. Sevofluran, denkt sie, ich muss sie so schnell wie möglich narkotisieren.

    Diese Szene aus der Unfallchirurgie eines Krankenhauses könnte aus einer der vielen Serien stammen, die tagtäglich im Fernsehen laufen. Ob "Emergency room", "Grey’s Anatomy", "Dr. House" oder auch die etwas gemütlichere deutsche Version "In aller Freundschaft" rund um das Ärzteteam der fiktiven Leipziger "Sachsenklinik" – sie alle haben gemein, dass ihnen die dramatische Handlung, Schock, Angst und der Kampf ums Leben gewissermaßen ins Haus geliefert wird. Notoperationen, Wiederbelebung, offene Wunden und jede Menge medizinischer Traumata, die alle in 45 Fernsehminuten behandelt und gelöst werden wollen. Neben den Patienten stehen im Zentrum der Folgen die Ärzte und ihr Hilfspersonal mit all ihren kleinen Machtkämpfen, den Eifersüchteleien, Geldsorgen oder Problemen mit der Familie. Den Klinikserien mit ihren stereotypen Variationen immer gleicher Grundkonflikte einen ernst zunehmenden Roman entgegen zu stellen, der nicht abgegriffene Klischees bedient, würde einer wahren Heldentat gleichen.

    Die niederländische Autorin Anna Enquist, 1945 in Amsterdam geboren, hat mit Büchern wie "Kontrapunkt" oder "Letzte Reise" bisher eine hohe erzählerische Qualität bewiesen. Nun spielt ihr neuester Roman "Die Betäubung" genau in diesem Emergency-Room-Milieu, und man kann nur staunen, mit welcher Intensität und Sensibilität sie sich wieder einmal einem Thema nähert, das ihr gesamtes Werk durchzieht: der Bruchstelle zwischen Leben und Tod, zwischen dem unüberwindlich scheinenden Verlust eines geliebten Menschen und dem sich gegen die Hoffnungslosigkeit aufbäumenden Lebenswillen. In dem autobiografisch gefärbten Roman "Kontrapunkt" etwa ging es um die Trauerarbeit einer Mutter, die plötzlich durch einen tödlichen Unfall ihre 27jährige Tochter verlor. In "Die Reise" stoßen wir auf eine ähnliche Grundkonstellation, verlagert in die Welt des legendären Captain James Cook des 18. Jahrhunderts.

    Und nun, in "Die Betäubung", begegnen wir Suzan, einer Anästhesistin in einem Amsterdamer Krankenhaus. Ihr Leben ist überschattet vom Tod ihrer besten Freundin, der Frau ihres Bruders Drik, einem Psychotherapeuten. Suzan hat ihre Schwägerin Hanna geliebt und verehrt, genauso wie Drik seine Ehefrau. Ihn hat das unerwartet plötzliche Ableben Hannas in eine tiefe Krise gestürzt. Seinen Beruf kann er nicht mehr ausüben, kann nicht Menschen helfen, ihre Probleme zu überwinden, während er selbst mit Depressionen kämpft. Suzan hat es da ein wenig leichter. Sie muss den Menschen nicht ihre inneren Schmerzen zu Bewusstsein bringen, sondern hilft ihnen durch die Narkose, Leiden erst gar nicht zu empfinden und Eingriffe in ihren Körper regelrecht zu verschlafen.

    Als nun auch Drik wieder anfangen will, in sein Berufsleben zurückzukehren, gerät er an einen Patienten, der zum einen versucht, die Loslösung von seinem verstorbenen Vater zu verarbeiten, zum anderen aber mit seiner Ausbildung zum Psychiater hadert. Schocktherapien, die er mit ansehen muss, entsetzen ihn als Behandlungsmethoden psychisch kranker Menschen. Während Suzan verantwortungsvoll im Krankenhaus arbeitet, zweifelt Drik, ob er seinem Patienten wirklich wird helfen können.

    Diese verschiedenen Lebenswelten schildert Anna Enquist in sich abwechselnden Episoden, und man merkt gleich, dass hier nicht fabuliert wird, sondern der Einblick in zwei gegenteilige Berufsbilder auf Erfahrungen basiert. Denn die Autorin arbeitete, bevor sie sich als Vierzigjährige fürs Schreiben und Dichten entschied, nicht nur als Pianistin, sondern auch als Psychotherapeutin. 2010 nahm sie dann an einem Projekt des Klinikums an der Freien Universität Amsterdam "Literatur und Heilkunde" teil und verbrachte Tage und Wochen an der Seite von Anästhesisten in den Operationssälen des Klinikums. Vor allem die erste Hälfte des Romans wird daher von genauen Schilderungen des Arbeitsalltags der beiden Hauptfiguren bestimmt. Rein stilistisch erzeugt das Ineinanderfließen von Ich- und Er-Erzählung, vom Miterleben und Berichten zweier uns fremder Welten eine interessierte Neugier.

    Doch irgendwann fragt man sich, ob diese Schilderungen denn genug seien für einen Roman. Und genau an diesem Punkt, als man sich schon am Rande einer der TV-Serien zu wähnen beginnt, kommt es zu einem dramatischen Wendepunkt. Driks Patient wechselt von der Psychiatrie zur Anästhesie, wird Suzan als Auszubildender an die Seite gestellt, und es kommt zwischen beiden zu einem erotischen Verhältnis, ohne dass Suzan von der Verbindung zu Drik weiß, und ohne dass der junge Mann Kenntnis davon hat, dass Suzan die Schwester seines Therapeuten ist. Was geheim war, muss von nun an geheim gehalten werden. Suzans Ehe steht auf dem Spiel, Drik weiß, dass er als Therapeut versagt hat. Das enge geschwisterliche Verhältnis, die Rettung nach dem Tod von Driks Frau, gerät ins Wanken.

    Ich kann sie nicht trösten, denkt er. Weil es mir früher selbst schlecht ging und ich nicht daran erinnert werden mag? Ich hätte ihr ein besserer Bruder sein müssen. Ach wie ich diese Grübeleien hasse! Womöglich bin ich neidisch auf Suzan. In ihrem Beruf herrscht Eindeutigkeit: Wenn der Blutdruck steigt, gibt man Nitroglyzerin, wenn man er sinkt, ist man mit Epinephrin zur Stelle: In meinem Beruf muss man sich durch einen Sumpf von Unklarheiten manövrieren, und das allein anhand seiner Intuition. Es gelingt mir nicht mehr. Ich kann nicht mal meine eigene Schwester verstehen. Er greift zur Whiskyflasche.

    Der "Sumpf aus Unklarheiten", der bei Menschen, die durch einen Schicksalsschlag, durch einen harmlos erscheinenden Seitensprung plötzlich aus ihrer Bahn geschleudert werden, ist das Thema dieses Romans, der unterhaltsam beginnt wie ein Samstagabendfernsehfilm für die ganze Familie und dann immer mehr in die tragischen Hilflosigkeiten ungewollten Handelns hineingerät: ein tiefer, bewegender Einblick in die Seele trauernder Menschen, unsentimental und einfühlsam geschildert in den beiden Protagonisten Drik und Suzan, die einem am Ende wie die zwei Gesichter einer einzigen Person erscheinen – in einem stilistisch und inhaltlich überzeugenden Roman.

    Anna Enquist: "Die Betäubung"
    Roman. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers.
    Luchterhandverlag, 319 Seiten,19,99 € .