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Zwei Jahre nach Anschlag am Breitscheidplatz
Immer noch viel Arbeit für die Untersuchungsausschüsse

Am 19. Dezember 2016 starben zwölf Menschen beim Anschlag am Berliner Breitscheidplatz. Drei Untersuchungsausschüsse wollen klären, was genau falsch gelaufen ist und was die Sicherheitsbehörden in den Ländern und im Bund anders machen müssen, um einen solchen Anschlag künftig zu verhindern.

Von Claudia van Laak und Moritz Küpper | 18.12.2018
    Mahnmal für die Opfer des Anschlags vom 19. Dezember 2016 am Breitscheidplatz in Berlin | Foto: Simone Kuhlmey/Pacific Press | Verwendung weltweit, Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.
    Mahnmal für die Opfer des Anschlags am Breitscheidplatz: "Warum übernimmt keiner die Verantwortung?" (Simone Kuhlmey / Pacific Press / picture-alliance)
    Donnerstag, 12 Uhr, im Paul-Löbe-Haus des Bundestages. Andreas Schwartz steht wie fast jeden Donnerstag vor dem Europasaal mit der Nummer 4900. Er beißt in eine Bockwurst mit Senf, trinkt eine Tasse Kaffee. An der Gürtelschlaufe seiner Jeans baumelt ein kleines Schild, das ihn identifiziert: "Opfer vom Breitscheidplatzattentat 2016".
    "Ich war ganz nah dran. Ein halber Meter, und der LKW hätte mich erwischt. Für mich war es die Hölle auf Erden. Ich habe Tote gesehen, ich habe Schwerverletzte gesehen, und ich selber bin durch das Wegspringen auf ein Kantholz gekracht, am Rücken schwer verletzt worden, trotzdem bin ich als Ersthelfer da vor Ort geblieben und habe dann versucht, Leuten da zu helfen."
    Der Anschlag vor zwei Jahren hat den Berliner aus seinem bisherigen Leben herauskatapultiert. Andreas Schwartz kann nicht mehr als LKW-Fahrer arbeiten, er lebt von Hartz IV, wird therapeutisch betreut. Der 49-Jährige verarbeitet den Terror auf ganz besondere Art und Weise. Woche für Woche besucht er zwei Untersuchungsausschüsse: An Donnerstagen geht er in den Bundestag, an Freitagen ins Berliner Landesparlament, das Abgeordnetenhaus. Andreas Schwartz ist sich sicher:
    "Die Menschen, die da unschuldig sterben mussten, hätten nicht sterben brauchen. Wenn die Polizei, die Behörden richtig miteinander gearbeitet hätten. Warum übernimmt keiner die Verantwortung und sagt: Ja, wir haben einen Fehler gemacht, wir haben den Amri falsch eingeschätzt, uns ist der Amri aus dem Ruder gelaufen."
    Verfassungsschutz: "Wir haben nichts falsch gemacht"
    Am Donnerstag, dem 18. Oktober hat ein Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz Gelegenheit, vor dem Bundestags-Untersuchungsausschuss Verantwortung zu übernehmen. Der Jurist trägt den Decknamen "Thilo Bork", er koordiniert den Einsatz von V-Leuten im radikal-islamistischen Milieu. Bork hat für diese 25. Sitzung des Ausschusses ein handschriftliches Statement vorbereitet. Anis Amri sei einer von vielen islamistischen Gefährdern gewesen, rechtfertigt sich der Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes. Man habe sich fachlich nichts vorzuwerfen, man habe nicht wissen können, dass er einen Anschlag plante. Und dann sagt der Mann mit dem Decknamen Thilo Bork noch - Zitat - "Wir haben nichts falsch gemacht, es ist alles richtig gelaufen."
    Auf der Zuschauertribüne entsteht Unruhe, Opfer und Hinterbliebene des Anschlags rollen mit den Augen, zischeln. Sie sind empört.
    "Ja, der Schuster auch. Das sind Aussagen, die ich immer wieder höre, wenn ich an meine vier Untersuchungsausschüsse denke, da sitzt Du und traust Deinen Ohren nicht."
    Sagt der Ausschussvorsitzende, der erfahrene CDU-Innenpolitiker Armin Schuster. Und der SPD-Sprecher im Untersuchungsausschuss Fritz Felgentreu ergänzt:
    "Das Ergebnis zeigt ja schon, dass das schlicht nicht stimmen kann. Sich hinzustellen und zu sagen, wir haben alles richtig gemacht, finde ich inakzeptabel."
    Beim bislang schwersten islamistischen Anschlag auf deutschem Boden mussten 12 Menschen sterben, mehr als 70 wurden verletzt. Am 19. Dezember 2016 kaperte der Tunesier Anis Amri einen mit Stahl beladenen LKW, erschoss den polnischen Fahrer und steuerte anschließend den 40-Tonner in den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche.
    Verwüsteter Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz am Tag nach dem Anschlag
    Eine Schneise der Verwüstung ist am 20.12.2016, am Tag nach dem Anschlag mit einem Lastwagen, auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin zu sehen. (picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)
    "Guten Abend meine Damen und Herren, wir unterbrechen das ARD-Programm für diese Extra-Sendung der Tagesthemen. Denn in Berlin ist am Abend ein Lastwagen in einen Weihnachtsmarkt gerast."
    Anis Amri war bereits seit Juli 2015 in Deutschland. Mehr als 50 Behörden in mehreren Bundesländern hatten mit dem Tunesier vor dessen Terroranschlag Kontakt - vom Ausländeramt im nordrhein-westfälischen Kleve über das Berliner Landeskriminalamt bis hin zum Bundesamt für Verfassungsschutz – dort existierte eine Personenakte mit seinem Namen. Die Sicherheitsbehörden hatten ihn als islamistischen Gefährder eingestuft, elf Mal war Anis Amri Thema im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum von Bund und Ländern, dem GTAZ. Wie konnte er trotzdem unbemerkt und ungestört einen Anschlag planen und ausführen?
    Drei Untersuchungsausschüsse in Düsseldorf und Berlin wollen klären, was genau falsch gelaufen ist und was die Sicherheitsbehörden in den Ländern und im Bund anders machen müssen, um einen solchen Anschlag künftig zu verhindern.
    Fehler begannen schon bei Amris Einreise
    Für den Vorsitzenden des Bundestagsuntersuchungsausschusses, Armin Schuster, beginnen die Fehler schon bei der Einreise des IS-Terroristen. Er ließ sich mehrfach unter verschiedenen Namen registrieren, eine Sicherheitsüberprüfung fand nicht statt.
    "Manche finden das ziemlich langweilig, dass wir uns damit beschäftigen, ich nicht. Weil die Frage, wie konnte es dazu kommen, wie sah Überlastung aus. Angenommen, morgen droht uns wieder so eine Flüchtlingswelle, wie wäre Deutschland dann vorbereitet, das kannst Du am Fall Amri sehr gut spiegeln und das tun wir."
    Armin Schuster hat gerade seinen Mantel über den Stuhl in seinem Bundestagsbüro geworfen, entschuldigt sich für die kleine Verspätung. Es ist Freitagmorgen, 8 Uhr. Der Ausschuss am Tag zuvor – wieder mal eine Sitzung bis spät in die Nacht.
    "Ich hab mich rasend beeilt, weil wir ja heute Morgen verabredet waren, aber das war ja halb zwei."
    Die Augen müde, der Geist hellwach. Schnell kommt der 57-jährige, frühere Polizeidirektor auf Betriebstemperatur, teilt Seitenhiebe gegen die Opposition aus. Am Tag zuvor hatte der Ausschuss zehn Stunden lang eine Zeugin aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz vernommen.
    "Da habe ich als Ausschussvorsitzender ein schlechtes Gewissen. Aber es gibt Kolleginnen und Kollegen, die sich da eher in der Rolle sehen, mit geschickten Vernehmungsmethoden."
    Armin Schuster ist ein Mann des Sicherheitsapparats. Polizeihochschule Münster, Leiter des Bundespolizeiamtes in Weil am Rhein, Beamter im Bundesinnenministerium. Zuletzt wurde er als möglicher Nachfolger von Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen gehandelt. Das Bundesamt für Verfassungsschutz wolle den Untersuchungsausschuss hinters Licht führen, wie von der Linksopposition behauptet? Auf keinen Fall, sagt Schuster.
    "Nein, das sehe ich gar nicht so. Das gehört mit zum politischen Programm einer Partei, die den Verfassungsschutz abschaffen will, die muss natürlich auch medial vor der Pressetribüne genau diese Show bieten, ich nenne es bewusst Show."
    Armin Schuster (CDU, r.), beim Herbstempfang der Präsidenten der Sicherheitsbehörden BfV, BND, BKA und Bundespolizei. Foto: Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/dpa | Verwendung weltweit
    Ausschussvorsitzender Schuster: "Da sitzt Du und traust Deinen Ohren nicht" (Britta Pedersen / dpa-Zentralbild)
    Im NSU-Untersuchungsausschuss in der letzten Legislaturperiode zogen alle Abgeordneten an einem Strang - von CDU bis Linkspartei. Anders im Amri-Ausschuss. Die AfD verfolgt eine ganz eigene Agenda - sie interessiert sich nur für den Ausschuss, wenn es um die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung geht.
    Die anderen Oppositionsfraktionen haben sich vorgenommen, das Bundesamt für Verfassungsschutz der Lüge zu überführen. Hatte doch der frühere Präsident Hans-Georg Maaßen kurz nach dem Anschlag behauptet, Amri sei in erster Linie ein Polizeifall gewesen. Mittlerweile ist klar: auch Deutschlands oberste Verfassungsschützer hatten V-Leute in der Nähe des IS-Terroristen. Wie nah - darüber wird seit Wochen im Ausschuss gestritten. Martina Renner, Sprecherin der Linksfraktion im Untersuchungsausschuss:
    "Wichtig für uns war, dass wir zwei zentrale Erzählungen im Grunde durchbrochen haben. Zum einen die Erzählung des Bundesamtes für Verfassungsschutz, dass Anis Amri ein reiner Polizeifall war, und zum zweiten die Erzählung, dass Anis Amri ein Einzeltäter gewesen sein soll."
    So wurde jetzt ein Papier der italienischen Sicherheitsbehörden bekannt, Amri war ja vier Tage nach dem Attentat in der Nähe von Mailand erschossen worden, das von einer Terrorzelle in der inzwischen geschlossenen Berliner Fussilet-Moschee ausgeht, in der Amri ein und aus ging.
    Opposition klagt gegen Verfassungsschutz
    Die Auseinandersetzung zwischen Teilen der Opposition und dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) ist derweil eskaliert und hat zu einer gemeinsamen Klage von Linken, Grünen und FDP vor dem Bundesverfassungsgericht geführt. Bis zuletzt hatte sich der Geheimdienst geweigert, dem Ausschuss den V-Mann-Führer zu benennen, der verantwortlich war für den Spitzel, der Informationen aus dem dschihadistischen Milieu rund um die Berliner Fussilet-Moschee lieferte. Irene Mihalic, Obfrau der Grünen im Untersuchungsausschuss:
    "Wir nehmen den Grundsatz der Öffentlichkeit sehr, sehr ernst. Und diesen Anspruch wollen wir selbstverständlich einlösen, den wollen wir erfüllen. Und deswegen ist die Benennung solcher Zeugen für uns von größter Wichtigkeit und hat uns auch zu dieser Klage bewogen."
    Für Ärger sorgte auch, dass das Bundesinnenministerium eine Beamtin auf die Regierungsbank des Ausschusses schickte, die zuvor selber beim Verfassungsschutz im Bereich Islamismus gearbeitet hatte. Sie verfügt also über Insiderwissen und wäre selber als Zeugin infrage gekommen. Eine Doppelfunktion, die auch dem Ausschussvorsitzenden Armin Schuster nicht passte:
    "Ich halte es für einen Fehler und ich hätte es gut gefunden, wenn man den trocken und einfach eingeräumt hätte."
    "So. Wenn dann die allgemeine Aufmerksamkeit da ist, dann möchte ich Sie alle sehr herzlich begrüßen. Untersuchungsausschuss Terroranschlag Breitscheidplatz."
    Berliner LKA-Chef reicht Opfern die Hand
    Saal 113 im Berliner Abgeordnetenhaus, in der Nähe des Potsdamer Platzes. Keine steife Gerichtssaal-Atmosphäre wie im Bundestag, hier geht es familiär zu. Abgeordnete begrüßen vor Beginn der Sitzung die Zuschauerinnen und Zuschauer mit Handschlag - man kennt sich. Andreas Schwartz ist auch da, selbstverständlich. Im Abgeordnetenhaus muss er kein befremdliches Schild an seiner Gürtelschlaufe befestigen, das ihn als "Opfer vom Breitscheidplatzattentat" ausweist.
    Wichtiger Zeuge bei dieser 20.Sitzung am 9. November ist der Leiter des Berliner Landeskriminalamtes, Christian Steiof. Er gibt sich gleich zu Beginn demütig, wendet sich an die Hinterbliebenen. Viele Fehler seien passiert, viele Unzulänglichkeiten habe es gegeben, seine Aussagen würden die Opfer nicht befriedigen können. Andreas Schwartz erzählt später: Er hat mich sogar persönlich angesprochen.
    "Und hat mir die Hand gereicht und hat gesagt, dass ihm das alles sehr leid täte, und hat sein Mitgefühl ausgesprochen. Und er sagte, ihm hat's auch das Herz zerrissen, dass so zu sehen. Und er findet es sehr gut, dass Vertreter von den Opfern und Angehörigen hier vor Ort sind."
    Sie arbeiten höchst unterschiedlich, die beiden Untersuchungsausschüsse in Berlin. Da ist der im Bundestag: gewiefte Abgeordnete, die die Zeugen in die Ecke drängen, scharf befragen und die Sicherheitsbehörden so in die Bredouille bringen.
    Aber wo ist die Empathie für die Hinterbliebenen, die Opfer des Anschlags? Andreas Schwartz musste den Ausschussvorsitzenden Armin Schuster vor der letzten Sitzung direkt ansprechen und um eine Schweigeminute anlässlich des zweiten Jahrestags des Anschlags bitten – die letztendlich auch gewährt wurde.
    Und da ist der Untersuchungsausschuss im Berliner Abgeordnetenhaus, der die Fehler der Landesbehörden unter die Lupe nimmt. Die Sitzungen ufern oft aus, sind wenig stringent, alle fragen alles, und das nicht nur einmal. Insgesamt wirken die Aufklärer im Berliner Landesparlament weniger professionell als die im Bundestag - aber die Anliegen der Opfer und Hinterbliebenen sind Abgeordneten und Zeugen hier ganz wichtig, sie sind ihnen Antrieb für ihre Arbeit.
    Hans-Georg Maaßen.
    Ex-Verfassungsschutzchef Maaßen: "Reden, aber nichts sagen." (imago)
    Und der dritte Untersuchungsausschuss in Düsseldorf - er arbeitet wenig motiviert vor sich hin. Einziger Höhepunkt in den letzten Monaten: die Vernehmung von Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen.
    "Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich darf Sie begrüßen, und dann können wir so langsam loslegen."
    Hans-Georg Maaßen, das wird in den kommenden Minuten deutlich, ist an den Rhein gekommen, um zu reden - aber nichts zu sagen, wie es eine Zeitung anschließend in einem Satz zusammenfasst. Doch es ist dieser Besuch von eben Maaßen, an dem sich die Situation des "Untersuchungsausschuss I (Fall Amri)", so der offizielle Titel, sehr plastisch schildern lässt - und zwar auf verschiedenen Ebenen. Da wäre zum einen, dass, anders als an diesem Montag …
    "… die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit natürlich nachgelassen hat, abgesehen von wenigen Fällen, wenn das Thema eben in der Öffentlichkeit zum Beispiel zum Jahrestag wieder aufgegriffen wird."
    Sagt Lisa Kapteinat. Die erst 29-jährige SPD-Politikerin ist stellvertretende Ausschussvorsitzende und weiß natürlich, warum die Öffentlichkeit bei einzelnen Personen, wie eben dem damaligen Verfassungsschutzpräsidenten Maaßen, nochmals besonders interessiert ist. Dessen Aussage war ohnehin viel früher eingeplant gewesen, doch sechs Tage vor dem ursprünglich geplanten Termin ließ Maaßen per Fax wissen, er sei auf einer privaten Reise unterwegs. Die Einladung habe ihn leider nie erreicht. Als eine Art Ausschuss zweiter Klasse - hinter den beiden Berliner Aufklärungseinrichtungen - fühlt sich Kapteinat zwar nicht, der Weg mancher Akten an den Rhein sei aber doch sehr lang:
    "Ja, zumindest ist das die Vermutung dahinter, da vor knapp zwei Jahren ja doch von allen Behörden und von allen entscheidenden Politikern das ganz klare Signal hervorgegangen ist, wir tun alles um aufzuklären. Und es dann nicht verständlich ist, warum ein Untersuchungsausschuss aus Nordrhein-Westfalen wiederholt anfragen muss, bis es Akten bekommt oder auch nochmal explizit auf die Dramatik der Situation aufmerksam machen muss."
    Der Vorsitzende des NRW-Ausschusses, Jörg Geerlings von der CDU, formuliert es dagegen etwas diplomatischer:
    "Also von den Behörden fühle ich mich da nicht vernachlässigt. Richtig ist aber auch, dass man gelegentlich nachhaken muss. Das machen wir zentral hier und da gibt es auch mal einen unfreundlichen Brief."
    Parteipolitisches Gerangel um Düsseldorfer Ausschuss
    Anders als in Berlin nehmen an den Düsseldorfer Sitzungen keine Opfervertreter teil, das mediale Interesse ziehen mittlerweile zwei neue, Untersuchungsausschüsse zu anderen Themen auf sich und auch die Erkenntnisse - auch und gerade hinsichtlich Nordrhein-Westfalens - sind bisher überschaubar. Ein trostloser Zustand, dabei war der Düsseldorfer Ausschuss bei seiner Einsetzung im Februar 2017 das erste Gremium zur politischen Aufarbeitung des Attentats vom Berliner Breitscheidplatz in Deutschland. Die Umstände damals waren jedoch grundlegend andere, erinnert sich Kapteinat:
    "Dass wir uns im Wahlkampfmodus befunden haben, dass ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss oder auch die Androhung eines solchen immer auch als Kampfinstrument genutzt werden kann, dass dazu führte, das eigene Sachen sicherlich nicht ganz klar recherchiert worden sind, sondern, sage ich mal, einem gewissen Bauchgefühl entsprungen sind."
    Als der Anschlag passierte, gab es in Nordrhein-Westfalen eine rot-grüne Landesregierung, wurde das Innenministerium von Kapteinats Parteikollegen Ralf Jäger geführt - der ohnehin politisch angeschlagen war. Die damaligen Oppositionsparteien von CDU, FDP und den Piraten setzten Mitte Februar 2017, also rund drei Monate vor der Landtagswahl, einen Untersuchungsausschuss ein. In 19 Sitzungen wurden 44 Zeugen vernommen, doch für einen Abschlussbericht reichte es nicht.
    Ein Ergebnis gab es jedoch: Rot-Grün wurde abgewählt - auch und gerade wegen Kritik an der Sicherheitslage im Land. Doch nach dem Wahltag erlosch das politische und mediale Interesse an der Aufklärungsarbeit rapide, auch wenn CDU-Mann Geerlings dementiert:
    "Naja, CDU und FDP haben vor der Wahl gesagt: Wir machen in jedem Fall den Untersuchungsausschuss weiter. Der erste Untersuchungsausschuss in der alten Wahlperiode ist aufgrund des Endes des Parlaments, das nennt man Diskontinuität, nicht mehr aktiv gewesen, es musste neu eingerichtet werden."
    Weiter Warten auf Abschlussberichte
    Sprich: In NRW hat man nochmal neu begonnen. Zwar betonen alle Seiten die Bedeutung der Aufarbeitung, doch nun wirkt diese eher formal. In der Schuldfrage jedoch zeigt immer mal wieder auch ein Finger zum Land Berlin. SPD-Politikerin Kapteinat:
    "Mindestens ist es so, dass in Berlin in den letzten Monaten, aber auch Wochen deutlich mehr Fragen aufgetreten sind, als bisher und es Aufgabe der Berliner Behörden ist, jetzt zu zeigen, dass es ihnen mit der Aufklärung wirklich ernst ist."
    In der Tat hat das Berliner Landeskriminalamt in Punkto Amri einen Kardinalfehler begangen. Die Ermittler änderten ein halbes Jahr vor dem Anschlag ihre Einschätzung, hielten den IS-Terroristen für nicht mehr gefährlich. Die Bundestagsabgeordnete Martina Renner, Obfrau der Linken im Untersuchungsausschuss:
    "Ich glaube, der zentrale Fehler bei Anis Amri ist, dass man sagt, von dieser Person geht keine konkrete Gefahr mehr aus, weil er Drogen konsumiert, dealt, sich nicht an die religiösen Vorschriften hält, und dann kann er kein ernsthaftes Anschlagsvorhaben im Kopf haben im Sinne der dschihadistischen Ideologie. Und das ist in Erkenntnis der Täterbiographien aus anderen europäischen Ländern, sowohl Brüssel als auch Paris und Madrid, das ist kontrafaktisch."
    Die drei Untersuchungsausschüsse sind mit ihrer Arbeit noch lange nicht am Ende. In Düsseldorf will man Ende nächsten Jahres einen Abschlussbericht vorlegen, die beiden Berliner Ausschüsse werden wohl erst in zweieinhalb Jahren fertig sein. Andreas Schwartz, der am 19. Dezember 2016 nur knapp dem Tod entronnen ist, will dabeibleiben. Donnerstags in den Bundestag, freitags ins Abgeordnetenhaus. Eine lebendige Mahnung für alle Abgeordneten und Zeugen.
    "Angenommen, hier würde gar keiner sein, von den Angehörigen oder von den Opfern, dann würde die Sache hier einschlafen. Und das wollen wir nicht."