Vor genau vier Wochen ist ein geheimes Tonband an die Öffentlichkeit gekommen, auf dem Ministerpräsident Ferenc Gyurcsany zugibt, seine Wähler bewusst belogen zu haben. Eine Welle der Empörung überrollte ihn daraufhin regelrecht, in den ersten Nächten kam es in Budapest zu gewalttätigen Randalen.
Inzwischen ist der Protest friedlich geworden. Für viele Demonstranten ist der tägliche Gang vors Parlament schon fast zur Tradition geworden: Immer um 17 Uhr stehen sie hier und fordern den Rücktritt der sozialistischen Regierung. Die zeigt sich bis jetzt standhaft - die Proteste aber sollen so lange weitergehen, bis es einen neuen Staatschef gibt. Zurücktreten wird Ferenc Gyurcsany auf jeden Fall, davon sind sie fest überzeugt, sagt einer der Demonstranten.
"Er muss. Wir fühlen das."
Nicht nur in Ungarn ist die politische Lage derzeit angespannt. In der ganzen mittelosteuropäischen Region sind innerhalb weniger Wochen sämtliche jungen Demokratien ins Chaos gestürzt. In Polen wackelt die Koalition um den ultrakonservativen Regierungschef Jaroslaw Kaczynski, gegen dessen Partei Bestechungsvorwürfe erhoben werden. In Tschechien ist gerade die konservative Minderheitsregierung zurückgetreten, nachdem sie gerade einmal einen Monat im Amt war. Das Abgeordnetenhaus versagte ihr bei einer Vertrauensabstimmung die Gefolgschaft, ein Nachfolge-Bündnis ist nicht in Sicht. Die slowakische Regierung aus Linkspopulisten und Rechtsextremen hat zwar eine parlamentarische Mehrheit, treibt dafür aber mit ausländerfeindlichen Äußerungen das ganze Land in die internationale Isolation.
Ist es ein reiner Zufall, dass die politische Szene in den vier Ländern gleichzeitig ins Rutschen gerät, gerade einmal zweieinhalb Jahre nach dem Beitritt zur EU? Wissenschaftler sind davon überzeugt, dass mehr dahinter steckt. Von einem Integrations-Schock spricht etwa der Politologe Grigorij Meseznikov, der in Bratislava - der alten Stadt Pressburg - das renommierte Institut für öffentliche Fragen leitet.
"Der Prozess zum EU-Beitritt war dadurch gekennzeichnet, dass wir versucht haben, die politischen Kriterien zu erfüllen. Das hat einige Parteien von fragwürdigen Koalitionen abgehalten. Jetzt nach dem Beitritt glauben viele Politiker, dass sie sich mehr erlauben können. Die Beschränkungen durch den politischen Druck der EU gibt es schließlich nicht mehr."
Die Verwerfungen in der Regierungspolitik, die derzeit für Schlagzeilen sorgen, sind allerdings nur ein Teil des Problems, gewissermaßen die sichtbaren Symptome. Die tatsächlichen Ursachen für die politische Krise in Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei liegen tiefer. Ein Indiz dafür ist allein schon die niedrige Wahlbeteiligung, die je nach Land bei den zurückliegenden Parlamentswahlen zwischen 41 Prozent in Polen und 68 Prozent in Ungarn lag - ein historischer Tiefstand. Das Image der Politiker ist denkbar miserabel, die Verbitterung vieler Menschen über die Staatsführung beinahe mit den Händen zu greifen. Der langjährige Reformprozess in den postkommunistischen Staaten, urteilt der Soziologe Pavel Haulik aus Bratislava, dem früheren Pressburg, ist ins Stocken geraten.
"Im Großen und Ganzen sind alle Institutionen einer funktionierenden Demokratie aufgebaut, in den vergangenen 16 Jahren haben wir hier alle Einrichtungen für eine Marktwirtschaft und für einen liberalen, demokratischen Staat geschaffen. Das Problem liegt jetzt darin, dass die soziale Struktur dem noch nicht entspricht. Sie muss sich jetzt rasch an den Westen angleichen. Das ist es, worum es in den mitteleuropäischen Ländern derzeit geht."
Hinter dem Begriff der sozialen Struktur verbirgt sich letztlich eine der heikelsten Fragen in den neuen EU-Ländern: Welches Niveau hat der Wohlstand erreicht, anderthalb Jahrzehnte nach der politischen Wende? Die Antwort darauf mag vielen Bürgern in den betroffenen Ländern nicht gefallen - noch immer schauen sie mit Neid auf die westlichen Länder und die vermeintlich bessere Situation dort.
In großer Aufmachung veröffentlichen die Boulevard-Zeitungen regelmäßig einen europaweiten Vergleich der Durchschnitts-Einkommen. Regelmäßig folgt darauf ein kollektiver Aufschrei von Bürgern, die sich schlecht bezahlt fühlen. An diesem Reflex haben weder der Kapitalismus noch die Europäische Union etwas ändern können. Tatsächlich leben in Mittelosteuropa viele Menschen mit einem minimalen Haushaltseinkommen.
Eine vierspurige Ausfallstraße in Prag. Sie verbindet das Stadtzentrum mit dem Flughafen. Der Straßenrand ist gesäumt von tristen Mietshäusern. Die Fassaden sind von den Autoabgasen schwarz gefärbt, und die kleinen Vorgärten wuchern allmählich zu.
Hier wohnt Zuzanna Nielsenova. Etwas mehr als 50 Jahre ist sie alt, vor wenigen Monaten hat sie ihre Arbeit verloren. Eine neue Stelle sei schwer zu finden, klagt sie, vor allem in ihrem Alter. Das Geld, das sie vom Staat bekommt, genügt kaum zum Leben. Ohne die Hilfe ihres erwachsenen Sohnes, der mit ihr die Wohnung teilt, würde es nicht einmal für die Miete reichen.
"Mit allen Nebenkosten bezahlen wir hier monatlich 5700 Kronen. Das sind alles in allem gut 200 Euro, wenn wir auch noch die Kosten für Strom und Gas mit reinrechnen."
Ihr persönliches Budget ist knapp, jede Mahlzeit muss sie genau kalkulieren. Zuzanna Nielsenova ist indes kein Einzelfall. Arbeitslose wie sie und Rentner, die sich an manchen Tagen nicht einmal eine warme Mahlzeit leisten können, gibt es zu Tausenden in den östlichen EU-Ländern.
Im Staatshaushalt der mittelosteuropäischen Länder findet sich für sie bis heute kaum ein Cent angesichts der allenthalben notwendigen Investitionen. Der Soziologe Pavel Haulik hat untersucht, was in den sozialen Verlierern der Wende vor sich geht.
"Viele Bürger haben das Gefühl, dass sie in den vergangenen 16 Jahre nur Opfer gebracht haben und weniger zu ihnen zurückgekommen ist, als sie ursprünglich erwartet hatten. Irgendwann kommen sie dann an den Punkt, wo sie aufhören daran zu glauben, dass die Entwicklung ihnen in einem absehbaren zeitlichen Horizont ein vernünftiges Ergebnis bringt."
Auf die politische Einstellung vieler Menschen habe das eine unmittelbare Auswirkung: Sie fühlen sich schlecht behandelt und verlieren schließlich das Vertrauen in die Politik. Wie weit das führen kann, hat Hans Kaiser erlebt, der Büroleiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Budapest.
"Viele Maßnahmen, die gemacht werden, basieren darauf, dass der Bürger darauf vertraut, das tut mir jetzt zwar weh, was da gemacht wird, aber es wird mir künftig helfen, weil unsere staatlichen Finanzen wieder auf einen gesunden Weg gebracht werden. Und da habe ich ein bisschen Sorge, denn es wäre natürlich schlimm, wenn sich das weiterentwickeln würde und die Leute sagen: Mein Gott, früher war das schlimm, heute ist es auch schlimm, wo bitte ist da der Unterschied?"
Zumindest in der offiziellen Statistik ist der Unterschied sehr deutlich - allerdings nehmen die arbeitslose Tschechin Zuzanna Nielsenova und ihre Leidensgenossen an der eigentlich viel versprechenden Entwicklung nur am Rande teil:
Überall in den neuen EU-Ländern entstehen neue Fabriken, die Wirtschaft legt um bis zu sechs Prozent pro Jahr zu. Langsam hebt sich der Lebensstandard in den Gesellschaften - von dem Boom allerdings profitieren die Menschen in unterschiedlichem Maße. Die soziale Ungleichheit, konstatiert Soziologe Pavel Haulik, ist in den neuen EU-Ländern wesentlich ausgeprägter als im alten Westen.
"Der Übergang vom strikt staatlich-dirigistischen System zu einem freien Markt lässt sich nur mit radikalen und schnellen Änderungen herstellen. Dabei kommt es zu einer Polarisierung, der Wechsel von einer Seite zur anderen ist schließlich keine fließende oder harmonische Entwicklung. Es gab einige Gruppen, die bei diesen Änderungen einen guten Gewinn gemacht haben und andere, die schlecht dabei wegkamen. Das hat beide Ränder der Gesellschaft gestärkt. Die Mitte ist einfach leer geblieben."
Wer jung ist und gut ausgebildet, der verdient in Führungspositionen heute schon beinahe West-Gehälter. Sprachkurse gelten als Schlüssel zu dieser Entwicklung, mit Englisch- und Deutschkenntnissen vergrößern sich die Chancen auf eine der vielen gut bezahlten Stellen. Andere haben ihr Vermögen als Unternehmer verdient, teilweise mit umstrittenen Privatisierungs-Geschäften gleich nach der Wende, teilweise mit lukrativen Immobilien, deren Marktwert in den vergangenen Jahren beinahe überall sprunghaft gestiegen ist.
Einer, der es geschafft hat, ist Peter Banas. Er ist Geschäftsführer des einzigen BMW-Autohauses in der slowakischen Hauptstadt Bratislava und residiert in einer abgeschotteten Welt des Luxus'.
Mit dem Gesäusel von Pop-Musik werden die Kunden empfangen, die seine Niederlassung am Stadtrand besuchen. Im Ausstellungsraum mit Böden aus glänzendem Granit werfen Halogen-Lampen ein gleißendes Licht auf die deutschen Autos, die Flachbildschirme an den Wänden zeigen eine Autofahrer-Idylle aus kurvigen Straßen und weiten Horizonten. Stolz präsentiert Peter Banas die Neuheiten von der Automesse.
"Dieser Wagen hier ist lange erwartet worden, er steckt voller technischer Feinheiten. Da ist zum Beispiel der Drei-Liter-BiTurbo-Motor mit 306 PS. Das Modell ist erst seit zwei Wochen auf dem Markt. So, wie es hier steht, kostet es eine Million sechshundertfünfzigtausend Kronen."
Ein normaler Angestellter müsste für dieses Auto acht Jahre lang arbeiten. Der Durchschnittslohn in der Slowakei liegt bei 17.300 Kronen pro Monat, umgerechnet sind das 470 Euro. Trotzdem findet Peter Banas ausreichend finanzkräftige Kunden für seine Autos.
Die Trennlinie zwischen den Gewinnern und den Verlierern der Wende verläuft scharf. Das schlägt sich direkt auf die Politik nieder - das müssen derzeit vor allem die Tschechen erfahren. Die beiden größten Parteien in Prag werben mit völlig gegensätzlichen Programmen.
Die Sozialdemokraten zielen mit ihrer Forderung nach Subventionen und staatlichem Protektionismus auf die sozial schwachen Wähler, die bürgerlich-demokratische Partei ODS setzt auf radikale Wirtschafts- und Sozialreformen, mit denen sie das Land zu einem neoliberalen Musterstaat machen möchte. Zwischen diesen beiden politischen Extremen gibt es kaum eine Alternative. Bei den Wahlen vor fünf Monaten errangen die beiden Lager jeweils die Hälfte der Mandate.
Im tschechischen Abgeordnetenhaus, gelegen auf der malerischen Kleinseite in Prag, wirbt der bürgerliche Premierminister Mirek Topolanek eindringlich um das Vertrauen für seine Minderheitsregierung. Eine große Koalition ist vor allem wegen der starren Haltung der Sozialdemokraten nicht zustande gekommen.
"Obwohl es sich um eine Minderheitsregierung handelt, war es meine Ambition, ein Kabinett mit mehrheitsfähigem Programm aufzustellen. Die ganze politische Szene sieht doch die Probleme unserer Bürger sehr ähnlich, wenn wir einmal ideologische Differenzen beiseite lassen. Wir unterscheiden uns also höchstens in den Mitteln der Politik, aber doch keinesfalls in unseren Zielen."
Viel helfen solche versöhnlichen Worte nicht, die Sozialdemokraten lassen Premierminister Mirek Topolanek eiskalt abblitzen - auch um den Preis einer tiefen Krise, die nicht nur die regierende Partei betrifft, sondern das gesamte demokratische System.
Vier Monate nach der Wahl nämlich verlieren die tschechischen Bürger allmählich die Geduld und schimpfen zunehmend heftig auf die Abgeordneten. Parteipolitische Taktierereien sind trotz des offenkundigen Unmutes gang und gäbe. Zu finden sind sie in allen Ländern Mittelosteuropas. Hans Kaiser, Büroleiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Budapest, macht persönliche Animositäten zwischen den Spitzenpolitikern für die eingefahrene Situation verantwortlich.
"Man gönnt der jeweils anderen Seite keinen politischen Stich. Es geht da aus meiner Sicht viel zu wenig um die Sache, viel zu wenig um das zu lösende Problem. Ich weiß, dass es in Deutschland bei vielen großen Reformvorhaben in der Vergangenheit so gelaufen ist, dass man zum Telefon geht und sagt, hör mal, wir haben zwar eine Mehrheit, aber dieses Projekt ist so wichtig, es wäre schon sinnvoll, wenn wir da eine größere Mehrheit auf die Waage bringen würden. Was müssten wir tun, damit ihr da zustimmen könnt? Hier erscheint es mir so zu sein, dass diese Mechanismen, die auf Konsens und Kompromiss ausgerichtet sind, noch sehr unterbelichtet sind."
An die Stelle einer sachlichen Debatte tritt häufig eine persönliche Feindschaft zwischen den Politikern. Immer wieder kommt es auf offener Bühne zu deftigen Beleidigungen, der Vorwurf der Geisteskrankheit etwa gehört noch zu den harmloseren Ausfällen. Sogar Handgreiflichkeiten gehören zum Repertoire der Auseinandersetzung:
Ein tschechischer Minister etwa ging im Wahlkampf zu Boden, nachdem ihm ein hochrangiger Oppositionspolitiker am Rednerpult eine gesalzene Ohrfeige verpasst hatte. Für die politische Kultur haben solche Szenen eine schwerwiegende Folge: Bei den Wählern entsteht ein Bild von Demokratie, das wenig mit dem Bemühen um Ausgleich und einen offenen Diskurs zu tun hat. Viele Verbitterte gehen dann gar nicht erst zur Wahl, fürchtet Grigorij Meseznikov vom Institut für öffentliche Fragen in Bratislava.
"Es kann ein Teufelskreis entstehen aus niedriger Wahlbeteiligung, einem politischen Pessimismus und dem Wahlsieg von populistischen oder extremistischen Parteien. In den Parteien selbst herrschen nicht die besten Bedingungen für den Aufstieg der nächsten Generation. Hier in der Slowakei etwa ist es seit der Wende nicht zu einem grundlegenden Wechsel des Personals gekommen, immer noch sind die alten Leute an der Spitze."
Das könne zu einer Entfremdung zwischen Politik und Gesellschaft führen. Dieser Gefahr werden sich die neuen EU-Länder allmählich bewusst. Jenseits der täglichen politischen Auseinandersetzung, die weiter in gewohnter Härte geführt wird, werben sie um ein gutes Image der Demokratie.
In Budapest etwa steht dabei das Parlamentsgebäude im Mittelpunkt, das dieser Tage an jedem Abend umzingelt ist von den Demonstranten. Das historische Gebäude ist ein optimaler Werbeträger für die ungarische Demokratie: Um sechs Meter ist es größer als das britische Parlament, erzählt man sich in Budapest stolz, und die Säle und Flure strahlen in ihrer verschwenderischen Pracht. Täglich werden Besuchergruppen aus aller Welt durch das Haus geführt.
"Ich begrüße Sie recht herzlich im ungarischen Parlament, mein Name ist Judith. Jetzt stehen wir noch im Erdgeschoss des Parlamentsgebäudes, wo der Haupteingang ist. Dieser Haupteingang wird nur selten geöffnet, wenn..."
Hinter einer der großen Türen arbeitet Kornel Almassy. Er ist Abgeordneter des konservativen Demokratischen Forums - und zählt mit seinen 30 Jahren zu den jüngsten Abgeordneten im Parlament.
Kornel Almassy gehört zu einer Gruppe von Parlamentariern, auf die sich in Mittelosteuropa derzeit die Hoffnungen richten. Das liegt vor allem an seinem Alter. Almassys politische Karriere begann erst weit nach der Wende, er hat als junger Mann den Westen Europas bereist und gesehen, wie dort die Demokratien funktionieren - fast ganz ohne persönliche Streitereien und ohne die verhärteten Fronten, die jenseits aller Sachfragen quer durch sein heimatliches Parlament in Ungarn verlaufen.
Junge Politik-Einsteiger wie ihn, die einen internationalen Lebenslauf haben und ihre Erfahrungen aus anderen Ländern zu Hause umsetzen, gibt es in jeder der neuen Demokratien. Vielen aus seiner Generation, erzählt Kornel Almassy, sei das alte Denken in politischen Blöcken völlig fremd.
"Die ungarischen Sozialisten sind die Nachfolger der kommunistischen Partei, das steht fest. Aber derzeit denken sie um, und es gibt eine Reihe von jungen Leuten, die keine ehemaligen Kommunisten sind. Stattdessen sind sie überzeugt von der sozialdemokratischen Ideologie. Ich habe unter ihnen eine Reihe von Freunden. Wir diskutieren viel im Parlament, und ab und zu verreisen wir zusammen. Ich denke, dass wir miteinander reden können. Dabei versuchen wir, gemeinsame Themen zu finden."
Es ist nur noch eine Frage der Zeit, sagen politische Beobachter, bis die Generation von Kornel Almassy und seinen Mitstreitern in den mittelosteuropäischen Ländern das Ruder übernimmt. Viele der momentanen Probleme würden sich spätestens dann von ganz alleine lösen.
Inzwischen ist der Protest friedlich geworden. Für viele Demonstranten ist der tägliche Gang vors Parlament schon fast zur Tradition geworden: Immer um 17 Uhr stehen sie hier und fordern den Rücktritt der sozialistischen Regierung. Die zeigt sich bis jetzt standhaft - die Proteste aber sollen so lange weitergehen, bis es einen neuen Staatschef gibt. Zurücktreten wird Ferenc Gyurcsany auf jeden Fall, davon sind sie fest überzeugt, sagt einer der Demonstranten.
"Er muss. Wir fühlen das."
Nicht nur in Ungarn ist die politische Lage derzeit angespannt. In der ganzen mittelosteuropäischen Region sind innerhalb weniger Wochen sämtliche jungen Demokratien ins Chaos gestürzt. In Polen wackelt die Koalition um den ultrakonservativen Regierungschef Jaroslaw Kaczynski, gegen dessen Partei Bestechungsvorwürfe erhoben werden. In Tschechien ist gerade die konservative Minderheitsregierung zurückgetreten, nachdem sie gerade einmal einen Monat im Amt war. Das Abgeordnetenhaus versagte ihr bei einer Vertrauensabstimmung die Gefolgschaft, ein Nachfolge-Bündnis ist nicht in Sicht. Die slowakische Regierung aus Linkspopulisten und Rechtsextremen hat zwar eine parlamentarische Mehrheit, treibt dafür aber mit ausländerfeindlichen Äußerungen das ganze Land in die internationale Isolation.
Ist es ein reiner Zufall, dass die politische Szene in den vier Ländern gleichzeitig ins Rutschen gerät, gerade einmal zweieinhalb Jahre nach dem Beitritt zur EU? Wissenschaftler sind davon überzeugt, dass mehr dahinter steckt. Von einem Integrations-Schock spricht etwa der Politologe Grigorij Meseznikov, der in Bratislava - der alten Stadt Pressburg - das renommierte Institut für öffentliche Fragen leitet.
"Der Prozess zum EU-Beitritt war dadurch gekennzeichnet, dass wir versucht haben, die politischen Kriterien zu erfüllen. Das hat einige Parteien von fragwürdigen Koalitionen abgehalten. Jetzt nach dem Beitritt glauben viele Politiker, dass sie sich mehr erlauben können. Die Beschränkungen durch den politischen Druck der EU gibt es schließlich nicht mehr."
Die Verwerfungen in der Regierungspolitik, die derzeit für Schlagzeilen sorgen, sind allerdings nur ein Teil des Problems, gewissermaßen die sichtbaren Symptome. Die tatsächlichen Ursachen für die politische Krise in Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei liegen tiefer. Ein Indiz dafür ist allein schon die niedrige Wahlbeteiligung, die je nach Land bei den zurückliegenden Parlamentswahlen zwischen 41 Prozent in Polen und 68 Prozent in Ungarn lag - ein historischer Tiefstand. Das Image der Politiker ist denkbar miserabel, die Verbitterung vieler Menschen über die Staatsführung beinahe mit den Händen zu greifen. Der langjährige Reformprozess in den postkommunistischen Staaten, urteilt der Soziologe Pavel Haulik aus Bratislava, dem früheren Pressburg, ist ins Stocken geraten.
"Im Großen und Ganzen sind alle Institutionen einer funktionierenden Demokratie aufgebaut, in den vergangenen 16 Jahren haben wir hier alle Einrichtungen für eine Marktwirtschaft und für einen liberalen, demokratischen Staat geschaffen. Das Problem liegt jetzt darin, dass die soziale Struktur dem noch nicht entspricht. Sie muss sich jetzt rasch an den Westen angleichen. Das ist es, worum es in den mitteleuropäischen Ländern derzeit geht."
Hinter dem Begriff der sozialen Struktur verbirgt sich letztlich eine der heikelsten Fragen in den neuen EU-Ländern: Welches Niveau hat der Wohlstand erreicht, anderthalb Jahrzehnte nach der politischen Wende? Die Antwort darauf mag vielen Bürgern in den betroffenen Ländern nicht gefallen - noch immer schauen sie mit Neid auf die westlichen Länder und die vermeintlich bessere Situation dort.
In großer Aufmachung veröffentlichen die Boulevard-Zeitungen regelmäßig einen europaweiten Vergleich der Durchschnitts-Einkommen. Regelmäßig folgt darauf ein kollektiver Aufschrei von Bürgern, die sich schlecht bezahlt fühlen. An diesem Reflex haben weder der Kapitalismus noch die Europäische Union etwas ändern können. Tatsächlich leben in Mittelosteuropa viele Menschen mit einem minimalen Haushaltseinkommen.
Eine vierspurige Ausfallstraße in Prag. Sie verbindet das Stadtzentrum mit dem Flughafen. Der Straßenrand ist gesäumt von tristen Mietshäusern. Die Fassaden sind von den Autoabgasen schwarz gefärbt, und die kleinen Vorgärten wuchern allmählich zu.
Hier wohnt Zuzanna Nielsenova. Etwas mehr als 50 Jahre ist sie alt, vor wenigen Monaten hat sie ihre Arbeit verloren. Eine neue Stelle sei schwer zu finden, klagt sie, vor allem in ihrem Alter. Das Geld, das sie vom Staat bekommt, genügt kaum zum Leben. Ohne die Hilfe ihres erwachsenen Sohnes, der mit ihr die Wohnung teilt, würde es nicht einmal für die Miete reichen.
"Mit allen Nebenkosten bezahlen wir hier monatlich 5700 Kronen. Das sind alles in allem gut 200 Euro, wenn wir auch noch die Kosten für Strom und Gas mit reinrechnen."
Ihr persönliches Budget ist knapp, jede Mahlzeit muss sie genau kalkulieren. Zuzanna Nielsenova ist indes kein Einzelfall. Arbeitslose wie sie und Rentner, die sich an manchen Tagen nicht einmal eine warme Mahlzeit leisten können, gibt es zu Tausenden in den östlichen EU-Ländern.
Im Staatshaushalt der mittelosteuropäischen Länder findet sich für sie bis heute kaum ein Cent angesichts der allenthalben notwendigen Investitionen. Der Soziologe Pavel Haulik hat untersucht, was in den sozialen Verlierern der Wende vor sich geht.
"Viele Bürger haben das Gefühl, dass sie in den vergangenen 16 Jahre nur Opfer gebracht haben und weniger zu ihnen zurückgekommen ist, als sie ursprünglich erwartet hatten. Irgendwann kommen sie dann an den Punkt, wo sie aufhören daran zu glauben, dass die Entwicklung ihnen in einem absehbaren zeitlichen Horizont ein vernünftiges Ergebnis bringt."
Auf die politische Einstellung vieler Menschen habe das eine unmittelbare Auswirkung: Sie fühlen sich schlecht behandelt und verlieren schließlich das Vertrauen in die Politik. Wie weit das führen kann, hat Hans Kaiser erlebt, der Büroleiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Budapest.
"Viele Maßnahmen, die gemacht werden, basieren darauf, dass der Bürger darauf vertraut, das tut mir jetzt zwar weh, was da gemacht wird, aber es wird mir künftig helfen, weil unsere staatlichen Finanzen wieder auf einen gesunden Weg gebracht werden. Und da habe ich ein bisschen Sorge, denn es wäre natürlich schlimm, wenn sich das weiterentwickeln würde und die Leute sagen: Mein Gott, früher war das schlimm, heute ist es auch schlimm, wo bitte ist da der Unterschied?"
Zumindest in der offiziellen Statistik ist der Unterschied sehr deutlich - allerdings nehmen die arbeitslose Tschechin Zuzanna Nielsenova und ihre Leidensgenossen an der eigentlich viel versprechenden Entwicklung nur am Rande teil:
Überall in den neuen EU-Ländern entstehen neue Fabriken, die Wirtschaft legt um bis zu sechs Prozent pro Jahr zu. Langsam hebt sich der Lebensstandard in den Gesellschaften - von dem Boom allerdings profitieren die Menschen in unterschiedlichem Maße. Die soziale Ungleichheit, konstatiert Soziologe Pavel Haulik, ist in den neuen EU-Ländern wesentlich ausgeprägter als im alten Westen.
"Der Übergang vom strikt staatlich-dirigistischen System zu einem freien Markt lässt sich nur mit radikalen und schnellen Änderungen herstellen. Dabei kommt es zu einer Polarisierung, der Wechsel von einer Seite zur anderen ist schließlich keine fließende oder harmonische Entwicklung. Es gab einige Gruppen, die bei diesen Änderungen einen guten Gewinn gemacht haben und andere, die schlecht dabei wegkamen. Das hat beide Ränder der Gesellschaft gestärkt. Die Mitte ist einfach leer geblieben."
Wer jung ist und gut ausgebildet, der verdient in Führungspositionen heute schon beinahe West-Gehälter. Sprachkurse gelten als Schlüssel zu dieser Entwicklung, mit Englisch- und Deutschkenntnissen vergrößern sich die Chancen auf eine der vielen gut bezahlten Stellen. Andere haben ihr Vermögen als Unternehmer verdient, teilweise mit umstrittenen Privatisierungs-Geschäften gleich nach der Wende, teilweise mit lukrativen Immobilien, deren Marktwert in den vergangenen Jahren beinahe überall sprunghaft gestiegen ist.
Einer, der es geschafft hat, ist Peter Banas. Er ist Geschäftsführer des einzigen BMW-Autohauses in der slowakischen Hauptstadt Bratislava und residiert in einer abgeschotteten Welt des Luxus'.
Mit dem Gesäusel von Pop-Musik werden die Kunden empfangen, die seine Niederlassung am Stadtrand besuchen. Im Ausstellungsraum mit Böden aus glänzendem Granit werfen Halogen-Lampen ein gleißendes Licht auf die deutschen Autos, die Flachbildschirme an den Wänden zeigen eine Autofahrer-Idylle aus kurvigen Straßen und weiten Horizonten. Stolz präsentiert Peter Banas die Neuheiten von der Automesse.
"Dieser Wagen hier ist lange erwartet worden, er steckt voller technischer Feinheiten. Da ist zum Beispiel der Drei-Liter-BiTurbo-Motor mit 306 PS. Das Modell ist erst seit zwei Wochen auf dem Markt. So, wie es hier steht, kostet es eine Million sechshundertfünfzigtausend Kronen."
Ein normaler Angestellter müsste für dieses Auto acht Jahre lang arbeiten. Der Durchschnittslohn in der Slowakei liegt bei 17.300 Kronen pro Monat, umgerechnet sind das 470 Euro. Trotzdem findet Peter Banas ausreichend finanzkräftige Kunden für seine Autos.
Die Trennlinie zwischen den Gewinnern und den Verlierern der Wende verläuft scharf. Das schlägt sich direkt auf die Politik nieder - das müssen derzeit vor allem die Tschechen erfahren. Die beiden größten Parteien in Prag werben mit völlig gegensätzlichen Programmen.
Die Sozialdemokraten zielen mit ihrer Forderung nach Subventionen und staatlichem Protektionismus auf die sozial schwachen Wähler, die bürgerlich-demokratische Partei ODS setzt auf radikale Wirtschafts- und Sozialreformen, mit denen sie das Land zu einem neoliberalen Musterstaat machen möchte. Zwischen diesen beiden politischen Extremen gibt es kaum eine Alternative. Bei den Wahlen vor fünf Monaten errangen die beiden Lager jeweils die Hälfte der Mandate.
Im tschechischen Abgeordnetenhaus, gelegen auf der malerischen Kleinseite in Prag, wirbt der bürgerliche Premierminister Mirek Topolanek eindringlich um das Vertrauen für seine Minderheitsregierung. Eine große Koalition ist vor allem wegen der starren Haltung der Sozialdemokraten nicht zustande gekommen.
"Obwohl es sich um eine Minderheitsregierung handelt, war es meine Ambition, ein Kabinett mit mehrheitsfähigem Programm aufzustellen. Die ganze politische Szene sieht doch die Probleme unserer Bürger sehr ähnlich, wenn wir einmal ideologische Differenzen beiseite lassen. Wir unterscheiden uns also höchstens in den Mitteln der Politik, aber doch keinesfalls in unseren Zielen."
Viel helfen solche versöhnlichen Worte nicht, die Sozialdemokraten lassen Premierminister Mirek Topolanek eiskalt abblitzen - auch um den Preis einer tiefen Krise, die nicht nur die regierende Partei betrifft, sondern das gesamte demokratische System.
Vier Monate nach der Wahl nämlich verlieren die tschechischen Bürger allmählich die Geduld und schimpfen zunehmend heftig auf die Abgeordneten. Parteipolitische Taktierereien sind trotz des offenkundigen Unmutes gang und gäbe. Zu finden sind sie in allen Ländern Mittelosteuropas. Hans Kaiser, Büroleiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Budapest, macht persönliche Animositäten zwischen den Spitzenpolitikern für die eingefahrene Situation verantwortlich.
"Man gönnt der jeweils anderen Seite keinen politischen Stich. Es geht da aus meiner Sicht viel zu wenig um die Sache, viel zu wenig um das zu lösende Problem. Ich weiß, dass es in Deutschland bei vielen großen Reformvorhaben in der Vergangenheit so gelaufen ist, dass man zum Telefon geht und sagt, hör mal, wir haben zwar eine Mehrheit, aber dieses Projekt ist so wichtig, es wäre schon sinnvoll, wenn wir da eine größere Mehrheit auf die Waage bringen würden. Was müssten wir tun, damit ihr da zustimmen könnt? Hier erscheint es mir so zu sein, dass diese Mechanismen, die auf Konsens und Kompromiss ausgerichtet sind, noch sehr unterbelichtet sind."
An die Stelle einer sachlichen Debatte tritt häufig eine persönliche Feindschaft zwischen den Politikern. Immer wieder kommt es auf offener Bühne zu deftigen Beleidigungen, der Vorwurf der Geisteskrankheit etwa gehört noch zu den harmloseren Ausfällen. Sogar Handgreiflichkeiten gehören zum Repertoire der Auseinandersetzung:
Ein tschechischer Minister etwa ging im Wahlkampf zu Boden, nachdem ihm ein hochrangiger Oppositionspolitiker am Rednerpult eine gesalzene Ohrfeige verpasst hatte. Für die politische Kultur haben solche Szenen eine schwerwiegende Folge: Bei den Wählern entsteht ein Bild von Demokratie, das wenig mit dem Bemühen um Ausgleich und einen offenen Diskurs zu tun hat. Viele Verbitterte gehen dann gar nicht erst zur Wahl, fürchtet Grigorij Meseznikov vom Institut für öffentliche Fragen in Bratislava.
"Es kann ein Teufelskreis entstehen aus niedriger Wahlbeteiligung, einem politischen Pessimismus und dem Wahlsieg von populistischen oder extremistischen Parteien. In den Parteien selbst herrschen nicht die besten Bedingungen für den Aufstieg der nächsten Generation. Hier in der Slowakei etwa ist es seit der Wende nicht zu einem grundlegenden Wechsel des Personals gekommen, immer noch sind die alten Leute an der Spitze."
Das könne zu einer Entfremdung zwischen Politik und Gesellschaft führen. Dieser Gefahr werden sich die neuen EU-Länder allmählich bewusst. Jenseits der täglichen politischen Auseinandersetzung, die weiter in gewohnter Härte geführt wird, werben sie um ein gutes Image der Demokratie.
In Budapest etwa steht dabei das Parlamentsgebäude im Mittelpunkt, das dieser Tage an jedem Abend umzingelt ist von den Demonstranten. Das historische Gebäude ist ein optimaler Werbeträger für die ungarische Demokratie: Um sechs Meter ist es größer als das britische Parlament, erzählt man sich in Budapest stolz, und die Säle und Flure strahlen in ihrer verschwenderischen Pracht. Täglich werden Besuchergruppen aus aller Welt durch das Haus geführt.
"Ich begrüße Sie recht herzlich im ungarischen Parlament, mein Name ist Judith. Jetzt stehen wir noch im Erdgeschoss des Parlamentsgebäudes, wo der Haupteingang ist. Dieser Haupteingang wird nur selten geöffnet, wenn..."
Hinter einer der großen Türen arbeitet Kornel Almassy. Er ist Abgeordneter des konservativen Demokratischen Forums - und zählt mit seinen 30 Jahren zu den jüngsten Abgeordneten im Parlament.
Kornel Almassy gehört zu einer Gruppe von Parlamentariern, auf die sich in Mittelosteuropa derzeit die Hoffnungen richten. Das liegt vor allem an seinem Alter. Almassys politische Karriere begann erst weit nach der Wende, er hat als junger Mann den Westen Europas bereist und gesehen, wie dort die Demokratien funktionieren - fast ganz ohne persönliche Streitereien und ohne die verhärteten Fronten, die jenseits aller Sachfragen quer durch sein heimatliches Parlament in Ungarn verlaufen.
Junge Politik-Einsteiger wie ihn, die einen internationalen Lebenslauf haben und ihre Erfahrungen aus anderen Ländern zu Hause umsetzen, gibt es in jeder der neuen Demokratien. Vielen aus seiner Generation, erzählt Kornel Almassy, sei das alte Denken in politischen Blöcken völlig fremd.
"Die ungarischen Sozialisten sind die Nachfolger der kommunistischen Partei, das steht fest. Aber derzeit denken sie um, und es gibt eine Reihe von jungen Leuten, die keine ehemaligen Kommunisten sind. Stattdessen sind sie überzeugt von der sozialdemokratischen Ideologie. Ich habe unter ihnen eine Reihe von Freunden. Wir diskutieren viel im Parlament, und ab und zu verreisen wir zusammen. Ich denke, dass wir miteinander reden können. Dabei versuchen wir, gemeinsame Themen zu finden."
Es ist nur noch eine Frage der Zeit, sagen politische Beobachter, bis die Generation von Kornel Almassy und seinen Mitstreitern in den mittelosteuropäischen Ländern das Ruder übernimmt. Viele der momentanen Probleme würden sich spätestens dann von ganz alleine lösen.