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Zwei Messies als Kuratoren der amerikanischen Zivilisation

"Homer und Langley" ist ein widerspenstiges und an Stimmungen reiches Alterswerk. Und wenn es auch nicht aus einem Guss ist, so teilt es doch ungeheuer viel darüber mit, was der große amerikanische Schriftsteller E. L. Doctorow von der Höhe seiner Jahre über das 20. Jahrhundert denken mag und zu sagen hat.

Von Dr. Eberhard Falcke | 06.03.2011
    Eines Tages im März 1947 schnappte im Haus an der New Yorker Fifth Avenue die Falle zu. Niemand kennt das genaue Datum und keiner weiß, zu welcher Tageszeit es geschah, vermutlich bemerkten nicht einmal die beiden Bewohner, ob es draußen hell oder dunkel war. Sie hielten die Fensterläden ständig verschlossen und ohnehin waren alle Räume durch Zeitungsstapel und andere gehortete Gegenstände verstellt. Ein Unbekannter hatte die Polizei angerufen und behauptet, es liege ein Toter in diesem Haus. Nachdem sich die Beamten mühsam Zugang verschafft hatten, fanden sie tatsächlich Homer Collyer inmitten des labyrinthischen Chaos. Er war tot, verhungert und verdurstet. Nach seinem Bruder Langley wurde daraufhin wochenlang gefahndet. Zum Vorschein kam er schließlich, als die Massen von Papier und Krempel, die sich im Haus stapelten, allmählich ausgeräumt wurden. Sein Leichnam fand sich im selben Zimmer wie Homer, nur ein paar Meter entfernt. Langley war von einer der zahlreichen Vorrichtungen erschlagen worden, die er selbst als Abwehr gegen Einbrecher konstruiert hatte. Das war das Ende der Gebrüder Collyer, die als legendäre Sonderlinge in die Geschichte New Yorks eingegangen sind.
    Bei Edgar Lawrence Doctorow wird dieses Ende in nur wenigen Zeilen angedeutet:

    Jacqueline, wie viele Tage bin ich jetzt ohne Nahrung. Es gab einen dumpfen Krach, das ganze Haus bebte. Wo ist Langley? Wo ist mein Bruder?

    Über das unzertrennliche Brüderpaar ist schon manches geschrieben worden und E.L. Doctorow hat ihre Geschichte mit seinem Roman "Homer & Langley" nun ein weiteres Mal zum Thema gemacht. Wobei dieser Stoff zweifellos schon von sich aus ein fast gefährliches Übermaß an romanhaften Qualitäten besitzt. Ihr Ruhm als größte Messies der Weltmetropole, ihr Einsiedlerleben in der Millionenstadt, haben etwas Spektakuläres und Superlativisches. Die Gewichtsklasse ihrer angesammelten Besitztümer wird mal mit 130, mal mit 180 Tonnen angegeben. Ihr großbürgerliches Haus an der Fifth Avenue war bei ihrem Tod so heruntergekommen, dass es nur abgerissen werden konnte. Da dieser Familiensitz in Harlem lag, erfuhr er einst den schroffen sozialen Wandel vom vornehmen Vorort des aufstrebenden weißen Bürgertums zum Zentrum afroamerikanischer Großstadtkultur. Doctorow jedoch rückt diese spektakulären Aspekte in den Hintergrund, indem er den staunenden Blick von außen ausschließt und ganz auf die Innenperspektive setzt.

    Ich bin Homer, der blinde Bruder. Ich habe mein Augenlicht nicht auf einmal verloren, es war, wie im Kino, ein langsames Ausblenden. Als man mir sagte, was da vor sich ging, wollte ich es messen, ich war damals noch keine zwanzig und voller Wissensdrang. Traurig war ich natürlich auch, aber zum Glück war ich damals noch ganz jung und kam mir überhaupt nicht behindert vor. Unser Haus war mir natürlich vertraut, alle vier Stockwerke, da ich aus dem Gedächtnis wusste, wo alles war. Ich kannte den Salon, das Studierzimmer unseres Vaters, das Boudoir unserer Mutter, das Speisezimmer mit seinen achtzehn Stühlen und dem langen Walnusstisch, die Küchen, das Empfangszimmer, die Schlafzimmer ...

    Homer kann sich nicht nur im Haus orientieren, weil er sein Gehör hervorragend geschult hat, er spielt außerdem Klavier und benutzt zur Niederschrift seiner Lebensbeschreibung mehrere Schreibmaschinen mit Tastaturen für Blinde. Homer und Langley stammten aus einer alten New Yorker Familie, ihr Vater war Gynäkologe, die Mutter Opernsängerin, sie selbst erhielten eine Universitätsausbildung. Vergleicht man ihre Anfänge mit ihrem Ende, dann tritt die markanteste Eigenheit ihres Lebensweges drastisch hervor: Es handelt sich um einen steilen Abstieg, den Verfall einer Familie, eine Verwahrlosung und schließlich Verelendung. Zugleich vollzog sich dieser bürgerliche und persönliche Niedergang aber auch als Verwandlung und Transformation. Denn sowohl die realen Vorbilder als auch die Helden des Romans betrieben das, was sie in ihrem Leben veranstalteten, mit Überzeugung und Leidenschaft als anti-bürgerliche, gezielt non-konformistische Selbstverwirklichung. Als Initialzündung für diese Entwicklung hebt Doctorow einige einschneidende Erfahrungen hervor, die mit den Schlüsseldaten der Epoche in direktem Zusammenhang stehen. So wird Langley als Soldat in den Ersten Weltkrieg nach Europa geschickt, wo er bei Grabenkämpfen und Giftgasangriffen die Entwürdigung des Menschen erlebt.

    Fast wäre Langley vors Kriegsgericht gekommen, weil er angeblich einen Offizier bedroht hatte. Er hatte gesagt, Warum bringe ich hier Männer um, die ich gar nicht kenne? Wegen dieser geistreichen Bemerkung wurde er Nacht für Nacht auf Patrouille geschickt, musste über eine zerfurchte, zerschossene Ebene voller Schlamm und Stacheldraht kriechen und sich an den Boden drücken, wenn die Leuchtpatronen den Himmel erhellten. Und dann kam der Morgen mit diesem gelben Nebel, der scheinbar nichts zu bedeuten hatte.

    Auch Homer bleibt von den Grausamkeiten der Zeit nicht verschont. Er muss erleben, wie die Eltern an der Spanischen Grippe sterben, die von 1918 bis 1920 weltweit zwischen zwanzig und fünfzig Millionen Todesopfer forderte.

    Ich sehe sie vor mir wenn ich daran denke, wie sie plötzlich und qualvoll starben, innerhalb weniger Stunden erstickten, denn so brachte die Spanische Grippe die Menschen um. Jetzt verließen sie mich endgültig, gingen auf eine Reise, von der sie nie wieder zurückkehren würden, und ich war zutiefst erschüttert.

    So werden im Roman die beiden Brüder von den ersten großen Katastrophen des Zwanzigsten Jahrhunderts in Mitleidenschaft gezogen, von Krieg, Barbarei und massenhaftem Tod. Die Akzente, die Doctorow in seiner Gestaltung des Stoffes setzt, zeigen sich an solchen Abweichungen von den realen Vorbildern am deutlichsten. Denn tatsächlich starb das Ehepaar Collyer auf andere Weise, der wirkliche Langley war nicht im Krieg und die beiden Brüder kamen 1947 in ihrem vermüllten Haus zu Tode. Doctorow hingegen lässt sie noch den Vietnamkrieg, Watergate und die Siebziger Jahre erleben. Auf diese Weise macht er sie zu Zeitzeugen des Jahrhunderts und er verleiht ihrer Sammelwut, bei der Langley die treibende Kraft ist, eine zeithistorische Motivation.

    An dem Tag, als Langley allein auf den Woodlawn Cemetery ging, um die Gräber unserer Eltern zu besuchen, legte ich sein Springfield-Gewehr auf den Kaminsims im Salon, und dort ist es dann geblieben, wohl das erste Stück in der Sammlung von Artefakten aus unserem amerikanischen Leben.

    "Unser amerikanisches Leben" - das ist ein großes Wort für die sonderbare Existenz dieser beiden Außenseiter. Doch offensichtlich zielt der Roman darauf, sie aus dem Kuriositätenkabinett der Verschrobenheit auf die Bühne repräsentativer Zeitfiguren zu befördern. Tatsächlich hat Doctorow ja in seinen "non-fiction novels", seiner für ihn charakteristischen Erzählkunst auf Tatsachenbasis, schon vielfach entscheidende historische Phasen des amerikanischen Lebens am Beispiel markanter Figuren aufgerollt. Seine Romane handelten von Unrecht und Recht im Wilden Westen, von der Kommunistenjagd der McCarthy-Ära, von den Gründerjahren der Großstadtmoderne, der wirtschaftlichen Depression der Dreißiger Jahre, den Gangsterkriegen während der Prohibitionszeit oder, wie zuletzt sein Roman "Der Marsch", vom Bürgerkrieg. Doch in all diesen Fällen ging es immer um eine einzelne Epoche.
    Die Geschichte der Gebrüder Collyer, so wie Doctorow sie ausmalt, erstreckt sich dagegen fast über ein gesamtes Jahrhundert mit seinen verschiedenen Stationen. Dadurch wächst der Roman unvermeidlich in die Kategorie einer großen Zeitdeutung, wenn nicht gar einer Bilanz. Nur stellt sich damit natürlich sofort die Frage: Wie kann das angehen? Sollen und können wir tatsächlich diese beiden Sonderlinge Homer und Langley mit ihrem Schicksal des Verfalls, des Scheiterns und der Vermüllung als repräsentative Figuren für das "amerikanische Leben" des Zwanzigsten Jahrhunderts begreifen? Die Frage, wie dieser gewagte Anspruch eingelöst werden kann, lässt die Spannung bei der Lektüre nicht unerheblich ansteigen.
    Immerhin steht das Leben von Homer und Langley, trotz der frühen Erschütterungen, zunächst keineswegs allein unter dem Zeichen des Verfalls. Es ist zunächst erfüllt von Bewegung, Lebenslust, Experimentierfreude und vitalem Tatendrang. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Tod der Eltern sind für die beiden Brüder, wie für alle anderen auch, die alte Welt und die einstige Ordnung zerbrochen. Der bürgerliche Haushalt wird mehr von den Dienstboten aufrecht erhalten als von den jungen Herren. Die schwarze Köchin Mrs. Robileaux sorgt für das leibliche Wohl und fordert murrend die Beachtung von Anstand und Moral. Das irische Hausmädchen nimmt sich Homers sexueller Bedürfnisse an. Langley hingegen versucht sein Glück bei standesgemäßen Damen, die ihm jedoch, nachdem sie tieferen Einblick in den Junggesellenwirtschaft genommen haben, empört die kalte Schulter zeigen. Homer notiert:

    Da ich nicht die geringste Ahnung hatte, wie ich mit diesem ganzen emotionalen Chaos umgehen sollte, legte ich mir eine gedankliche Unterscheidung zwischen Anarchie und evolutionärem Wandel zurecht. Jene hieß, dass die Welt in Stücke ging, während dieser nur das unvermeidliche Dahinkriechen der Zeit bedeutete, und das hatten wir nun in unserem Haus, meinte ich, das Verstreichen der Sekunden und Minuten des Lebens, um es in immer neuer Gestalt zu zeigen.

    Gegen das Drunterunddrüber der neuen Zeit gibt es im Haus der Collyer-Brüder keine Schranken. Das ist es, was sie als Romanfiguren so interessant macht. Sie öffnen den neuen Gestalten der Zeit Tür und Tor und diese kehren mit Freuden bei ihnen ein. Der Neffe der Köchin kommt aus New Orleans, er spielt Kornett und erfüllt das Haus mit den Synkopen des "Negerjazz". Während der Depression werden Tanztees zu Schallplattenmusik veranstaltet, um die Gäste vom Elend auf den Straßen abzulenken. Eines Tages bricht ein Gangsterboss mit seinen Kumpanen herein, um auf dem langen Küchentisch eine Schussverletzung auszuheilen. Nachdem die Japaner Pearl Harbour bombardiert haben, gewähren die Brüder dem japanische Haushälter-Ehepaar Zuflucht und können dann doch nur zornig zusehen, wie die beiden von FBI-Beamten zur Zwangsinternierung abgeführt werden. Ein jüdischer Englischlehrer berichtet erschreckende Dinge über die Ermordung der europäischen Juden, von denen die amerikanische Öffentlichkeit und Politik zunächst nichts wissen wollen. Und als der Zweite Weltkrieg vorbei ist, muss Langley alle paar Jahre empört konstatieren, dass schon wieder ein neuer Krieg geführt wird.
    Ganz ähnlich wie ihr Autor sind Homer und Langley Amerikaner von der liberalen und freisinnigen Art, denen die Verfassung, die Bürgerrechte und die freie Entfaltung der Einwanderer besonders am Herzen liegen. Darüber hinaus stehen sie aber auch in jener Tradition, derzufolge es zwischen Mensch und Welt möglichst wenig Staat geben sollte. Gegenüber Behörden, der Polizei, Telefon- oder Elektrizitätsgesellschaften wahren sie sogar im Notfall größtes Mißtrauen und Distanz.

    Wir überlegten, ob wir zur Polizei gehen sollten, aber das würden wir natürlich nie tun. Vertraue dir selbst, zitierte Langley den großen amerikanischen Philosophen Ralph Waldo Emerson. Wir brauchen von niemandem Hilfe. Wir bleiben schön für uns. Und verteidigen uns selbst. Wir müssen der Welt die Stirn bieten - wir sind nicht wirklich frei, wenn wir dazu auf andere angewiesen sind.

    Doctorow will seine Helden Homer und Langley also keineswegs nur als zwei kuriose Narren darstellen, die ihr Haus mit soviel Krempel vollstopfen, dass sie daran zugrunde gehen. "Ich habe sie mir als Kuratoren der amerikanischen Zivilisation vorgestellt, nicht als Lumpensammler", hat der Autor in einem Interview bekannt. Gerade das aber funktioniert schlecht, weil sich die verrückte Eigendynamik der Figuren dieser Vorstellung nicht im Mindesten fügt. Am stärksten wirkt das zum Labyrinth verschlungene, erstickend überfüllte Reich von Homer und Langley doch als großes beklemmendes Bild für das Scheitern von Hoffnungen, Ambitionen und Projekten. Langleys Idee zum Beispiel, aus allen Zeitungen, derer er habhaft werden kann, die eine, einzige und ewig aktuelle Zeitung zu destillieren, in der alle Wechselfälle des Weltgeschehens immergültig verzeichnet sind.

    Für fünf Cent, sagte Langley, bekommt der Leser ein gedrucktes Porträt unseres Lebens hier auf Erden. Die Artikel werden keine allzu genauen Einzelheiten enthalten, weil die eigentliche Nachricht hier von den universellen Erscheinungen handelt, für die jedes spezielle Detail nur ein Beispiel wäre. Der Leser ist immer auf dem Laufenden und auf dem neuesten Stand des Geschehens. Er kann sicher sein, dass er die unbestreitbaren Wahrheiten des Tages liest, die seines eigenen bevorstehenden Todes eingeschlossen ...

    Das ist reiner Medien-Platonismus, eine mediale Ideenschau, deren absurder Witz darin besteht, dass Langley, um alle Tageszeitungen abzuschaffen, erst einmal endlose Stapel davon sammeln und auswerten muss. Mit anderen Worten: Dieser rastlose Tor setzt sich mit seinen Projekten selbst schachmatt. Seine energietechnischen Forschungen mit Hilfe eines fahruntüchtigen alten Ford T-Modells verlaufen sich in Ölpfützen. Aus seinen Experimenten mit dem Klavierbau entstehen nur Anhäufungen von demontierten Bauteilen. Seine Versuche, Homers Blindheit mit Unmengen von Orangen zu heilen, erzeugen Massen von Abfall. Homer und Langley sind Sammler, deren Funde sich bereits in Müll verwandeln, während sie sie noch zusammentragen.

    An diesem Punkt unseres Lebens war das Haus schon ein Labyrinth von gefährlichen Pfaden. Bei ausreichender Beleuchtung konnte man auf den Zickzackgängen zwischen den Zeitungsballen ans Ziel gelangen oder sich einen Weg bahnen, indem man zwischen Haufen von allen möglichen Gerätschaften hindurchschlüpfte - Klaviereingeweiden, Kisten mit Werkzeug, Gemälden, Karosserieteilen, Reifen, aufgestapelten Stühlen, auf Tische gestellten Tischen, umgestürzten Bücherstapeln, Fässern, alten Lampen, aufgerollten Teppichen, Kleiderhaufen, Fahrrädern ...

    Nicht besser als mit dem Sammeln ergeht es den Brüdern mit ihren mal tapferen, mal nur starrköpfigen Widerstandsakten gegen die bestehenden Verhältnisse. Sie handeln sich ausweglose Scherereien ein und müssen in der Enklave ihres schließlich ohne Elektrizität, Wasser und Telefon zunehmend autark organisierten Haushaltes immer mehr Hilfsmittel zur Alltagsorganisation zusammentragen. Eine letzte relativ glückliche Zeit erleben sie allerdings, als nach einer Anti-Vietnamkriegs-Demonstration eine Gruppe von Hippies einzieht, weil denen die beiden langhaarigen Alten als verwandte Geister, ja sogar als Gurus erscheinen.
    Doctorows Bemühen, seine beiden kuriosen Sonderlinge als Zeitzeugen des Zwanzigsten Jahrhunderts vorzustellen, erzeugt einen zwiespältigen Eindruck. Einem großartigen Erzähler wie ihm gelingt es zwar, die Überfülle an Handlungsdetails und zeithistorischen Verweisen auf den nur gut zweihundert Seiten erzählerisch in Fluss zu halten. Und diese Figurenkonstellation besitzt unbestreitbar einige Ausstrahlung, symbolisch ebenso wie als Parabel. Aber wer sich um genauere Ausdeutung und Interpretation bemüht, landet schnell in Sackgassen. Gewiss haben Homer und Langley einiges Zeug zu Beckett-Figuren, aber so richtig im Absurden hausen sie eben doch nicht. Freilich kann man in ihnen Gegenbilder zu Flauberts Alleswissern Bouvard und Pécuchet sehen, doch über ihr Jahrhundert sagen sie viel weniger aus als jene. Selbstverständlich würden die Beiden einiges hermachen als Helden einer großen Verweigerung, doch für solches Rebellentum fehlt es ihnen dann doch an Format. Zwangsläufig läge es nahe, das von Zeitungsinformationen verstopfte Haus als Verweis auf das Internet zu deuten, würde der Vergleich nicht in beiderlei Hinsicht sehr wenig besagen. Wer die große Frage stellt, was wohl aus dem labyrinthischen Lebenschaos von Homer und Langley über das das Zwanzigste Jahrhundert herauszulesen wäre, wird über ein paar ebenso forcierte wie kurzschlüssigen Pointen nicht weit hinauskommen.
    Das heißt, Doctorow hat einen vielschichtigen, originellen und überraschenden Roman geschrieben, zugleich aber ein Ähnliches Dilemma angerichtet wie der berühmte Zauberlehrling: Er bringt viele Geister und Ideen auf Trab ohne dass er sie zu einem überzeugend sinnvollen Wirken bewegen könnte.
    Trotzdem muss das nicht heißen, dass der Roman ebenso gescheitert wäre wie am Ende seine beiden Helden. Es empfiehlt sich lediglich, die Gesamtkonstruktion lieber nicht genauer zu befragen. Viel lohnender ist es sich an die Binnengeschichten zu halten, an die zeithistorischen Anekdoten und vor allem an die hellsichtigen, oft bewegenden und mitunter ziemlich schwarzen Gedanken des blinden Ich-Erzählers Homer. Unter diesen gehören seine letzten zu den ergreifendsten. Inzwischen hat sich mit dem Verlust des Gehörs für ihn noch eine weitere Tür zur Außenwelt geschlossen. Da schreibt er über die unendliche Einsamkeit eines Menschen, der, eingesperrt in seinem Bewusstsein allein bleibt.

    Es gibt Zeiten, da kann ich dieses unablässige Bewusstsein nicht ertragen. Es kennt nur sich selbst. Meine Erinnerungen verblassen, während ich sie wieder und wieder beschwöre. Sie werden zunehmend gespenstischer. Nichts fürchte ich mehr, als sie vollends zu verlieren und nur noch den leeren, unendlichen Raum meines Denkens zu haben, um darin zu wohnen. Und nur die Berührung der Hand meines Bruders lässt mich wissen, dass ich nicht allein bin.

    Am 6. Januar ist Edgar Lawrence Doctorow 80 Jahre alt geworden. Sein Roman "Homer und Langley" ist ein widerspenstiges und an Stimmungen reiches Alterswerk. Und wenn es auch nicht aus einem Guß ist, so teilt es doch ungeheuer viel darüber mit, was dieser große amerikanische Schriftsteller von der Höhe seiner Jahre über das Zwanzigste Jahrhundert denken mag und zu sagen hat.

    E. L. Doctorow: "Homer & Langley". Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Gertraude Krueger. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011. 220 Seiten, 18,95 Euro.