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Zwei neue Erste

Von den drei Klavierkonzerten, die Peter Tschaikowsky hinterlassen hat, ist eigentlich nur das erste in b-moll so richtig bekannt geworden. Das aber dann umso mehr: Bis heute gehört es zu den meistgespielten Werken der Gattung. Seit der Uraufführung 1875 in Boston mit Hans von Bülow als Solist haben die meisten Pianisten es in ihr Repertoire aufgenommen; Aufnahmen gibt es jede Menge, und auch heute, in für die Schallplattenbranche eher schwierigen Zeiten, kommt dieses 1. Klavierkonzert mit immer wieder neuen Solisten auf den Markt. Der junge Chinese Lang Lang hat es mit Barenboim für die Deutsche Grammophon eingespielt, jetzt haben die junge Olga Kern bei Harmonia mundi France und Arcadi Volodos bei Sony ihre Visitenkarten in Sachen Tschaikowsky-Konzert abgegeben.

Von Ludwig Rink |
    Olga Kern machte von sich reden, als sie beim elften Van-Cliburn-Klavierwettbewerb im Juni 2001 als erste Frau seit mehr als 30 Jahren die Goldmedaille gewann. Das hatte eine ganze Reihe von Engagements in den USA, aber auch in Europa, Russland, Japan und anderswo zur Folge. Sie stammt aus einer Musikerfamilie und besuchte nach ihrem Studium Meisterklassen am Moskauer Tschaikowsky-Konservatorium und in Italien. Zur Zeit lebt sie in Moskau und widmet sich zwischen ihren Konzertverpflichtungen ihrem kleinen Sohn Wladislaw. Mit Harmonia mundi USA hat sie einen Exklusiv-Schallplattenvertrag abgeschlossen. Ob es eine gute Idee war, sie mit dem Rochester Philharmonic Orchestra unter Leitung von Christopher Seaman zusammen zu spannen, um Tschaikowskys Klavierkonzert einzuspielen, bleibt allerdings fragwürdig. Olga Kern spielt mit viel Engagement, beachtlicher Musikalität und hat auch das für dieses Konzert unbedingt nötige virtuose Potenzial, wird aber vom Orchester weitgehend alleingelassen. Über weite Strecken wird sie lediglich quasi beamtenmäßig begleitet, kaum einmal ergibt sich ein Dialog, geschweige denn eine gegenseitige Inspiration. Bei der Aufnahmetechnik bin ich nicht ganz sicher, ob man sie tadeln soll. Fakt ist, dass das Orchester im Vergleich zum Klavier im Hintergrund agiert, doch vielleicht ist das ganz gut so, denn so werden die Schwächen dort nicht ganz so deutlich...

  • Musikbeispiel: Peter Tschaikowsky - 1. Satz, Anfang (Ausschnitt) aus: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-moll

    Ganz anders gehen Arcadi Volodos und die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Seiji Ozawa an Tschaikowskis Dauerbrenner heran. Mit viel mehr Wucht lässt sich hier das gut disponierte Orchester hören; auffallend im direkten Vergleich auch das schnellere Tempo, mit dem Solist und Orchester dem ja auch nicht ganz unumstrittenen Werk gleich von Anfang an jede Sentimentalität und jedes falsche Pathos auszutreiben versuchen.

  • Musikbeispiel: Peter Tschaikowsky - 1. Satz, Anfang (Ausschnitt) aus: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-moll

    Es war gerade dieser Beginn, der im Visier der Kritik stand, denn Tschaikowsky benutzte dieses fulminante Thema nur als Eröffnungs-Donnerschlag, danach wird es weder im ersten Satz noch im weiteren Verlauf des Konzerts wieder aufgegriffen oder variiert. Solche Materialverschwendung bezeichneten manche als "kompositorischen Unfug", dadurch werde das formale Gleichgewicht gestört und das Konzert gerate in Schieflage. Man kann diese Introduktion aber auch als eine Art Theater-Vorhang verstehen, der vor dem eigentlichen Geschehen in die Höhe geht, und für die Balance im Großen sorgt Tschaikowsky mit einem ganz ähnlichen zweiten Thema im letzten Satz, das ebenfalls in Des-Dur und im Dreivierteltakt steht und sozusagen den Schlussvorhang darstellt. Dazwischen ist Platz für vielerlei Gedanken und Motive, für feingliedrigen, manchmal fast schon impressionistischen Klangzauber, für vielerlei Gespräche zwischen Soloinstrument und dem Orchester oder einzelnen seiner Instrumente.

  • Musikbeispiel: Peter Tschaikowsky - 3. Satz (Ausschnitt) aus: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-moll

    Hauptbild Das diesem angeregten Dialog zugrunde liegende Thema des 3. Satzes hat, wie auch das folgende Hauptthema des 1. Satzes, seinen Ursprung in der ukrainischen Volksmusik, wodurch dieses Klavierkonzert eine gewisse östliche Färbung erhält.

  • Musikbeispiel: Peter Tschaikowsky - 1. Satz, Thema (Ausschnitt) aus: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-moll

    Aber auch westliche Volksmusik scheint in Tschaikowskys Klavierkonzert auf. Im ansonsten ruhigen, sehr gefühlsreichen 2. Satz steht in der Mitte ein dazu scharf kontrastierender schneller Abschnitt über die französische Chansonette "Il faut s'amuser, danser et rire - Man muss sich vergnügen, tanzen und lachen". Dieses lustige Lied bildet sozusagen den Mittelpunkt des ganzen Konzertes, die Spiegelachse einer Symmetrie, auf deren linker und rechter Seite dann die ruhigen Teile des 2. Satzes und in den Ecksätzen unter anderem jeweils die Melodien aus der Ukraine und ganz außen die beiden erwähnten "Vorhänge" stehen.

  • Musikbeispiel: Peter Tschaikowsky - 2. Satz, Mitte (Ausschnitt) aus: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-moll

    Ohne Zweifel ist diese Einspielung mit Arcadi Volodos und den Berliner Philharmonikern unter Seiji Ozawa die packendere; Olga Kern und Christopher Seamans Rochester Philharmonic Orchestra können da nicht mithalten. Beide CDs bieten, da Tschaikowskys Klavierkonzert nur etwa 40 Minuten dauert, noch weitere Werke: Bei Harmonia mundi spielt das Rochester Philharmonic Orchestra noch Tschaikowskys sinfonische Fantasie "Francesca da Rimini" in einer spannungsarmen, vor allem in den Streichern arg schwächelnden Interpretation, während bei Sony der Solist Gelegenheit für weitere solistische Bravourstücke erhält, die allesamt von Sergej Rachmaninow stammen.

  • Musikbeispiel: Sergej Rachmaninow - Polka italienne

    Die Neue Platte - heute mit Peter Tschaikowskys 1. Klavierkonzert in Interpretationen von Olga Kern und Arcadi Volodos. Zuletzt hörten Sie noch Arcadi Volodos mit einer von ihm arrangierten Concert Paraphrase über die "Polka italienne" von Sergej Rachmaninow.

    Discografische Angaben

    Titel: Peter Tschaikowsky - Klavierkonzert Nr. 1
    Solistin: Olga Kern, Klavier
    Orchester: Rochester Philharmonic Orchestra
    Leitung: Christopher Seaman
    Label: Harmonia mundi France
    Labelcode: LC 07045
    Bestellnr.: HMU 807323


    Titel: "Volodos" - Tschaikowsky - Klavierkonzert Nr. 1
    Solist: Arcadi Volodos, Klavier
    Orchester: Berliner Philharmoniker
    Leitung: Seiji Ozawa
    Label: Sony
    Labelcode: LC 06868
    Bestellnr.: SH 93067 0
  • Tschaikowsky - Klavierkonzert Nr. 1 - Olga Kern, Klavier
    Tschaikowsky - Klavierkonzert Nr. 1 - Olga Kern, Klavier (Harmonia mundi)